Eltern beraten Eltern

Ein Pilotprojekt von Integration:Österreich stellt sich vor

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99. Thema: Modelle der Kooperation Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/1999)
Copyright: © Brigitta Aubrecht, Barbara Oberndorfer, Volker Schönwiese 1999

Eltern beraten Eltern

Seit Februar 1997 hat die bundesweite Integrationsbewegung mit dem Projekt "Eltern beraten Eltern" eine Bildungsschiene für Eltern behinderter Kinder eingerichtet. Das von der EU und dem Familien- und Sozialministerium geförderte zweijährige Pilotprojekt versucht Eltern behinderter Kinder Prozesse persönlicher Betroffenheit erlebbar zu machen, die sie befähigen, "ihre Sprache zu finden", Schuldgefühle abzulegen und die traditionelle Almosen- und Bittstellerrolle zugunsten einer gleichwertigen Zusammenarbeit mit FachexpertInnen und BehördenvertreterInnen zu überwinden. Ein Bericht und eine Einschätzung aus der Sicht der wissenschaftlichen Begleitung und Beratung.

Allen Fortschritt verdanken wir denen, die sich nicht anpassen...

Diesen Satz stellt die Projektleiterin Maria Brandl gerne an den Beginn ihrer Ausführungen über das Projekt "Eltern beraten Eltern". Und er ist mehr als treffend für das Wirken der österreichischen Elternbewegung für Integration seit mehr als 15 Jahren.

Eltern behinderter Kinder dabei zu unterstützen, Formen von Selbstbestimmung zurück zu gewinnen, ihr Selbstbewußtsein zu stärken, ihnen rechtliches Wissen für nichtaussondernde Lebenswelten weiterzugeben und über die persönliche Betroffenheit hinaus politische Durchsetzungskraft zu erreichen, ist ein jahrelanges Anliegen von Integration:Österreich.

So wie alle sozialen Bewegungen mit der Unzufriedenheit ihrer Mitglieder über bestimmte gesellschaftliche Zustände beginnen, begann auch eine Gruppe von Eltern behinderter Kinder ihre gesellschaftliche Isolation mit ihren behinderten Kindern zu bemängeln und zu kritisieren (vgl. Schumann M., 1996). Sie wehrten sich vor allem gegen die schulische Aussonderung ihrer Kinder. Politisch präsent wurde die schulische Integration im wesentlichen auf Grund der Initiative dieser betroffenen Eltern. Mit dem ersten Schulversuch in Oberwart/ Burgenland 1984/85 begannen Eltern, gemeinsam mit LehrerInnen, die Fremdbestimmung nicht nur zu durchbrechen, sondern auch Strategien zu entwickeln, um ihre Rechte, so wie sie auch in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen nachzulesen sind, einzufordern (vgl. Forcher/Schönwiese in BIDOK, 1998).

Obwohl mit der Integration behinderter Kinder sehr rasch grundsätzlich positive Erfahrungen verbunden waren, konnte und kann sich bis heute die Integration nur sehr mühsam durchsetzen. Trotz Parlamentsbeschluß der 15. (1993) und der 17. (1997) Novelle der Schulgesetze zeigt gerade der Bereich Schule, in seiner starren Haltung gegenüber neuen Entwicklungen und Reformen, oftmals in vielfältigster Ausprägung die Verletzung existentieller Menschenrechte. Statt integrative Maßnahmen zu setzen, Nichtaussonderung und begleitende, familienentlastende Dienste zu verwirklichen, werden die Eltern entmündigt und ihre behinderten Kinder abgesondert. Statt die Lösungskompetenz der Betroffenen zu unterstützen, werden sie sprachlos gemacht (vgl. Forcher H., 1988). Aus den Pioniereltern sind mittlerweile Menschen mit einem starken politischen Bewußtsein geworden. Ihnen geht es auch darum, die Rechte für jene Eltern und deren Kinder durchzusetzen, denen es noch nicht möglich ist "sprachlich" und aktiv ihre Rechte einzufordern (vgl. Brandl M., 1998).

Die Aktivitäten der österreichweiten Elterninitiativen, vor allem nach dem Zusammenschluß zu Integration:Österreich, verstehen sich als Aktivitäten im Rahmen von Bürgerrechts- und Sozialbewegungen zur Befreiung aus den vielfältigen Abhängigkeiten des Menschen in unserer Gesellschaft. Als solche emanzipatorische Sozialbewegung greift die Integrationsbewegung über den Bereich der Schule weit hinaus.

Aktivierung betroffener Eltern

Aus zahlreichen Erfahrungen ist zu entnehmen, daß sich Menschen in Notlagen zusammenfinden, weil sie im Rahmen professioneller Einrichtungen entweder gar nicht oder nicht zufriedenstellend zur Bewältigung ihrer Probleme gekommen sind (vgl. Engelhardt H.-D., 1988).

Eltern behinderter Kinder erhalten von öffentlichen und staatlichen Stellen meist unzureichende bzw. unbefriedigende Antworten, selten jedoch klare Aussagen, die auf selbstbestimmtes Leben der betroffenen Menschen hinweisen. Großteils führt die Hilfestellung der "ExpertInnen" zu Abhängigkeit und Bevormundung und nicht zu der so notwendigen Eigenmächtigkeit und Stärkung der Selbstbestimmung.

In nur wenigen Ausnahmefällen zeigen sogenannte ExpertInnen und Fachleute Vertrauen in die Kräfte von Menschen, ihre Angelegenheiten auch in schwierigen Situationen selbst regeln zu können. Behinderte Kinder und ihre Eltern sind in ihrer persönlichen Lebensgestaltung sehr häufig unerwünschter Bevormundung, die sich noch dazu an der Einheitsbehandlung und -versorgung benachteiligter Menschen orientiert, ausgesetzt. Zumeist wird von Geburt an, spätestens im Kindergartenalter die Fähigkeit und der Wunsch nach selbständigen Alternativen ignoriert. "Es ist die Versorgung mit entwürdigender Hilfe, die die emanzipatorischen Kompetenzen und Kapazitäten der Betroffenen verschüttet" (Bobzien/Stark, 1988).

"Eltern werden oft in keinster Weise als ExpertInnen in eigener Sache anerkannt, ja im Gegenteil, ihnen wird oftmals ihr Wissen mit "Na ja - Betroffenheit" abgehandelt. Sie sind dann meistens in ihrem Schmerz allein und die "Sprachlosigkeit" ist in Sekunden wieder spürbar und da. Auch wenn man rhetorisch noch so geschult ist, wird man durch die Betroffenheit innerhalb von Minuten kampfunfähig gemacht. In diesen oftmals entscheidenden Gesprächen mit sogenannten "kompetenten Fachleuten" hilft schon der Beistand eines anderen betroffenen Elternteiles, der es gelernt hat sich in rechtlichen Belangen auszukennen und im richtigen Moment seine Betroffenheit wegzustecken" (Brandl M., 1999).

Aus all diesen jahrelangen Erfahrungen der Elternbewegung wurde es immer wichtiger, betroffene Eltern nicht öffentlicher Bevormundung, karitativen Zuwendungen und verordneten Rezepten zu überlassen. Sie brauchen möglichst früh ein vielfältiges und begleitendes Angebot, um ihre unterschiedlichen Phasen der Lebens- und Situationsbewältigung reflektieren und aufarbeiten zu können und um ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen (wieder) zu entdecken. "Die eigene Betroffenheit ist eine Voraussetzung, gleichwertig sind jedoch Kompetenz in der Formulierung eigener Ansprüche, in der politischen Arbeit, in der ökonomischen Auseinandersetzung und wohl immer mehr in rechtlichen Angelegenheiten" (Österwitz I., 1998).

Empowerment und Peer Support als Grundlage des Projekts "Eltern beraten Eltern"

1. Empowerment

"Empowerment meint den Prozeß, innerhalb dessen Menschen sich ermutigt fühlen, ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu entdecken und ernst zu nehmen und den Wert selbst erarbeiteter Lösungen schätzen zu lernen. ... Aus der Sicht professioneller und institutioneller Hilfen bedeutet die Empowermentperspektive die aktive Förderung solcher solidarischer Formen der Selbstorganisation" (Keupp, nach Schönwiese V., 1997).

"Ich verlasse jedes Seminar mit neuem Elan für die Alltagsprobleme - um diese bewältigen zu können" (EbE-Teilnehmerin).

Ein wesentliches Element im Projekt "Eltern beraten Eltern" bzw. das zentrale Arbeitsprinzip ist daher, die Gestaltungsfähigkeit der Menschen und verschiedene Formen von Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe zu fördern. Es sollen jene Hilfestellungen entdeckt und erprobt werden, die zu mehr Eigenmächtigkeit und Selbstbewußtsein führen.

Eltern behinderter Kinder, die in der Integrationsbewegung aktiv werden, durchlaufen vermutlich zu einem hohen Prozentsatz die von Chuck Kieffer (1984) beobachteten 4 Phasen von Empowermentprozessen:

  1. Der Einstieg in den Prozeß, der gekennzeichnet ist durch den Bruch oder die Bedrohung einer als zentral erlebten Alltagsidentität, geht über in eine

  2. Phase der Förderung des begonnenen Empowermentprozesses, in der Formen der gegenseitigen Unterstützung für den Fortgang bestimmend sind. Ist dies gelungen, erfolgt die

  3. Umsetzung der Erfahrungen in den Alltag, der dann ein

  4. Stadium der überzeugenden Verpflichtung folgen kann, in der die gewonnenen Erfahrungen an andere weitergegeben werden

(Ch. Kieffer nach Bobzien/Stark, 1988).

Im laufenden Bildungsprojekt hat sich eindeutig gezeigt, daß Selbsthilfe die Betroffenen aktiviert. Die Ausbildung setzt zunächst die Bereitschaft voraus sich den eigenen Problemen zu stellen, d.h. der "Leidensdruck" muß zu dem Impuls führen, selbst aktiv zu werden. Die Bereitschaft, sich seinem Problem zu stellen, kann besonders dann in aktives Handeln umgesetzt werden, wenn zu diesem Zeitpunkt ein/e AnsprechpartnerIn, eine vermittelnde Person für die erste Orientierung zur Verfügung steht. "... Und eine authentische Kursleiterin, die durch ihre starke Motivation eine unglaubliche Gruppendynamik auslöst und mit der Auswahl der ReferentInnen jedesmal genau den Anforderungen und Bedürfnissen der Gruppe entspricht" (EbE-TeilnehmerIn).

Auch Bobzien und Stark haben in ihren Beobachtungen dazu festgestellt, daß die Rolle einer unterstützenden Person, eines/einer Mentors/ Mentorin, der/die die Stärken fördert und bei Rückschlägen zur Seite steht, äußerst wichtig ist. Das Projekt "Eltern beraten Eltern" stellt den Versuch dar, genau jene "MentorInnen" für Eltern behinderter Kinder, die sich in einer der Empowerment-Phasen befinden, auszubilden und ihnen für das Stadium der überzeugenden Verpflichtung und der Weitergabe von Erfahrungen das nötige Wissen und Können bereit zu stellen.

2. Peer Support - Peer Counseling

"Eine wirkliche persönliche Bereicherung ist es, mit anderen Teilnehmerinnen über die vielen kleinen und großen Probleme zu sprechen, die sich in unserem Alltag abspielen, zu erfahren, wie andere mit ähnlichen Situationen umgehen, das gibt einfach Kraft, das eigene Leben wieder besser in den Griff zu bekommen." (EbE-TeilnehmerIn)

Aus dem Englischen übersetzt bedeutet der Begriff Peer soviel wie Gleichgestellte/r, Kamerad/ in oder Ebenbürtige/r, und Counsel ist die Beratung, also die Beratung von Betroffenen durch Betroffene. Im Zusammenhang mit der Elternbewegung für Nichtaussonderung bevorzugen wir aber eher den umfassenderen Begriff Peer Support. Das Wort Support läßt sich mit Stütze, Hilfe oder Unterstützung übersetzen. Demnach läßt sich der Ausdruck Peer Support am ehesten mit Unterstützung, Beratung und Begleitung durch Ebenbürtige oder Gleiche übersetzen. Damit kann sowohl die professionelle Beratung als auch die äußerst wichtige Selbsthilfeförderung und Selbsthilfetätigkeit von Eltern für Eltern mit einbezogen werden.

Die grundlegende Idee von Peer Counseling ist, daß die meisten Menschen ihre Alltagsprobleme alleine lösen können, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten. Die Rolle des/r Peer Counselors/in ist es deshalb nicht, die Probleme der anderen Person zu lösen, sondern sie vielmehr dabei zu unterstützen, ihre eigenen Lösungen zu finden. Peer Counselors geben den Leuten weder vor, was sie "tun sollten", noch geben sie Ratschläge. Statt dessen fördern sie die andere Person darin, Problemlösungen zu entdecken, und zwar durch Zuhören, Erfahrungsaustausch, dem Herausfinden von Handlungsmöglichkeiten sowie durch seelischen Beistand.

"Peer Counseling ist also die Anwendung von Problemlösungstechniken und aktivem Zuhören, um Menschen, die "gleichartig" (peers) sind, Hilfestellungen zu geben. "Gleichartig" heißt, daß es sich um Menschen handelt, die gleichartige Lebenserfahrungen teilen" (Bruckner V. und B., 1993).

Das Projekt "Eltern beraten Eltern" bietet den TeilnehmerInnen Peer Support als ein wichtiges Mittel an, um sich gegenseitig dabei zu unterstützen, Stärke und Selbstvertrauen aufzubauen, die Ziele, die sie erreichen wollen, heraus zu kristallisieren und die Strategien zu entwickeln, um diese Ziele zu erreichen. Zudem besteht die Möglichkeit durch das Zusammentragen von Einzelbeobachtungen und (neuen) Erkenntnissen nicht nur den individuellen Informationsaustausch zu erweitern, sondern auch auf allgemeiner Ebene neue Formen alltagsorientierter und bedürfnisgerechter Hilfen entstehen zu lassen.

Projektstruktur

Inhaltsverzeichnis

Die folgenden Fakten, Daten und Interpretationen sollen einen Einblick in den konkreten Ablauf und die Organisation des Bildungsprojekts "Eltern beraten Eltern" ermöglichen.

TeilnehmerInnen:

"Auf einmal war mir klar, es gibt auch andere Eltern behinderter Kinder, ich bin nicht alleine", formuliert eine Teilnehmerin ihre Gedanken beim Einstiegsseminar im Februar 1998.

Konzipiert ist das laufende Projekt "ausschließlich" für betroffene Eltern, die sich auf die Dauer von zwei Jahren für die Teilnahme verpflichten. Die eigene Betroffenheit als grundlegende Voraussetzung begründet sich aus dem hohen Anteil an Elementen der Selbsterfahrung und dem Lernen an "positiven Modellen". Sie ist auch ein Schlüssel zur ersten gegenseitigen Akzeptanz und Unterstützung. Durch den Kontakt mit anderen betroffenen Eltern wird es möglich, Probleme nicht nur als individuelle Schwierigkeiten, sondern in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang zu erkennen und in weiterer Folge Lösungen auf politischer Ebene anzustreben.

Insgesamt 20 betroffene Elternteile (18 Frauen und 2 Männer) aus fünf Bundesländern haben seit März vorigen Jahres an sieben Ausbildungswochenenden und acht Kurzseminaren mit 27 ReferentInnen zu verschiedensten Themen teilgenommen. Ein weiteres Wochenendseminar zum Schwerpunkt Peer Support findet noch im September 99 statt und im Oktober ein Kurzseminar zum Thema Medien. Mit dem Abschlußseminar und einer von den TeilnehmerInnen gestalteten Abschlußfeier im November 1999 endet dieses zweijährige Ausbildungsprojekt für Eltern behinderter Kinder.

Methoden:

Bei Wochenendseminaren wird einerseits in sechs bis sieben Einheiten die Arbeit und der Austausch mit ReferentInnen und ExpertInnen angeboten. Hier reicht die Palette der von den ReferentInnen angeführten Methoden von Vortrag, Dia- oder Videopräsentation über Rollenspiel, Einzel- und Gruppenarbeit, Lernpartnerschaften bis hin zu Entspannungstechniken und körperbetonten Arbeitsformen, wie z.B. Feldenkrais. Andererseits gehört ein Drittel der Einheiten der Gruppe alleine mit der Projektleiterin. Diese sogenannte "Gruppeneinheit" gibt den Rahmen ab für den Erfahrungsaustausch der teilnehmenden Eltern, für das Einbringen ihrer konkreten Anliegen aus dem (Beratungs-)Alltag aber auch die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit den jeweiligen Erwartungen an die Gruppe und die Ausbildung insgesamt.

Diese Gruppeneinheiten sind unseren Beobachtungen nach so etwas wie das Herzstück des Projekts. Der Austausch der TeilnehmerInnen scheint eine deutlich entlastende und stabilisierende Wirkung auf die psychische Verfassung zu haben. Durch das entstandene Gruppengefühl kann Solidarität und Stärke empfunden werden. Die teilnehmenden Eltern behinderter Kinder fühlen sich nicht mehr allein gelassen in ihren Lebenswelten. In den Gruppeneinheiten bietet sich die Möglichkeit, Erfahrungen und Sichtweisen anderer Eltern kennenzulernen und sich in der Diskussion mit ihnen weiterzuentwickeln und einen neuen Standpunkt zu finden. Die jeweiligen themenbezogenen Seminarinhalte, z.B. über das Verhältnis LehrerInnen - Eltern, können alltagsbezogen diskutiert und gemeinsam bearbeitet werden.

Eine wichtige Rolle kommt dabei der Leiterin der Gruppe zu. Da sie ebenfalls betroffene Mutter ist, können die TeilnehmerInnen freier über ihre Erfahrungen berichten. Zusätzlich können die positiven Auswirkungen des Peer-Konzeptes genutzt werden.

Die Seminarinhalte reichen vom Gruppenbildungsseminar (ich und die Gruppe, die Gruppe und ich) über Selbsterfahrungsmomente, konkrete integrationsspezifische fachliche Ausbildungsangebote und Säulen der Kommunikation und Moderation bis hin zur Phase der Weitergebe dieser Kenntnisse und Fähigkeiten für andere betroffene Eltern.

Grob zusammengefaßt finden sich folgende Themenblöcke: Rechtliches Grundwissen; Selbstbestimmt Leben Bewegung; Familiensituation / Partnerschaft / Geschwisterkonflikt; Philosophie der Integrationsbewegung / Sozial- und Gesellschaftspolitische Dimension; Pädagogischer Alltag; Medien und Öffentlichkeitsarbeit; Empowerment; Peer Support (Beratungstechniken, Gesprächsführung und Kommunikation, Persönlichkeitsbildung, Selbsterfahrung, Auseinandersetzung mit der eigenen Betroffenheit).

Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der aktiven Mitgestaltung durch Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen der teilnehmenden Eltern behinderter Kinder.

Erstes Resümee

Was zeichnet sich hinsichtlich persönlicher Entwicklung und Veränderung ab?

"... Ich bin sehr stolz, an diesem Projekt teilnehmen zu dürfen und hoffe, daß es noch vielen Eltern durch Folgeprojekte möglich sein wird, diese Ausbildung anzunehmen ..." (EbE-TeilnehmerIn)

Für einen Vortrag über ihre Sichtweise des Projektes "Eltern beraten Eltern" formulierten die TeilnehmerInnen folgendes:

"Ja, die Frage, was sich denn seit dem Beginn der Ausbildung alles getan hat und welche Veränderungen eingetreten sind, ... wurde ... vielschichtig beantwortet...

  • Es hat sich einmal bei einigen die Einstellung zu Integration verändert.

  • Der Grundsatz "Integration ist unteilbar" hat sich verankert. Diese Entwicklung liegt vor allem darin begründet, daß viele wie mit Scheuklappen, nur die Behinderung des eigenen Kindes gesehen haben und sich nicht vorstellen konnten, daß auch Kinder mit anderen Behinderungen - vor allem mit geistigen Behinderungen - integrierbar sind. Möglich wurde diese Veränderung durch den Erfahrungsaustausch mit den anderen Kursteilnehmerinnen.

  • Viele können jetzt auch eine größere Toleranz für das Unverständnis der Mitmenschen aufbringen. Die "schiefen Blicke" kommen nicht immer nur aus "böser Absicht" der anderen, sondern meist von ihrer Unsicherheit.

  • Auch über ein besseres Verständnis für das eigene Kind konnten einige berichten.

  • Über ein gesteigertes Selbstvertrauen - ganz allgemein, vor allem aber in Fragen der Integration - spricht jede/r der TeilnehmerInnen" (Hecht P., 1998).

Die Gespräche in der TeilnehmerInnengruppe vermitteln, wie andere Eltern behinderter Kinder an ihre ähnlichen Probleme herangehen, welche Problemaspekte sie durch welche Lösungsvorschläge bewältigt haben. Damit ergibt sich für die EbE-TeilnehmerInnen insgesamt eine breitere Palette von Alternativen, wie man die anstehenden Probleme schrittweise bewältigen kann, problemnah und angepaßt an die individuellen Möglichkeiten der Einzelnen, ohne den Druck bzw. Nachdruck professioneller ExpertInnen. Problemlösungsmöglichkeiten werden von den TeilnehmerInnen als erprobte Modelle erfahren: Lernen am Modell. Durch wechselseitige Anregung und Beratung können bewährte Modelle weiter entwickelt werden. Die gemeinsame Betroffenheit der TeilnehmerInnen gibt ihren Lösungs- und Bewältigungsmodellen Glaubwürdigkeit (vgl. Engelhardt H.-D., 1988).

Welche Auswirkungen auf regionale soziale Systeme zeichnen sich ab?

TeilnehmerInnen vom Projekt "Eltern beraten Eltern" bleiben nicht in der "Vereinzelung" stecken. Sie gruppieren sich, sie gründen oder aktivieren ihre Selbsthilfeinitiative. Sie übernehmen oder intensivieren in ihrem Ort, ihrem Bezirk oder Bundesland Unterstützungsfunktionen wie Kontaktvermittlung zu anderen Betroffenen, Erfahrungsaustausch, Hilfe bei Hürden für die integrative Lebensgestaltung ihrer Kinder. Sie organisieren Entlastungsmöglichkeiten, wie die integrative Freizeitgruppe einer EbE-Teilnehmerin und unterstützen Eltern behinderter Kinder im Umgang mit Behörden und Fachleuten. "Und so ganz nebenbei wurden viele zu einer Art Anlauf- und Auskunftsstelle für viele rat- und hilfesuchenden Eltern" (EbE-TeilnehmerIn).

Erste Anzeichen gibt es auch dafür, daß die EbE-TeilnehmerInnen selbst Anerkennung als ExpertInnen finden und z.B. andere betroffene Eltern bei Behördengängen oder Verfahren unterstützen und begleiten sowie bei Tagungen referieren.

Zusammenarbeit mit ExpertInnen und ProfessionistInnen:

Zaghaft zeichnet sich auch ein veränderter Umgang mit ExpertInnenwissen ab. Aus unseren Beobachtungen und Rückmeldungen der TeilnehmerInnen läßt sich schließen, daß sie sich durch das Ausbildungsprojekt nicht nur kompetenter fühlen, sondern es auch sind. Das bisher als oft übermächtig und zwingend erscheinende ExpertInnenwissen wird für sie nun angreifbar und vor allem in seiner Anwendung hinterfragbar.

Indem Betroffene durch Bildungsangebote wie dieses, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, sich ihrer eigenen Fähigkeiten bewußt werden, eigene Kräfte entwickeln und soziale Ressourcen nutzen, stellen sie die patriarchalischen und hierarchischen Strukturen bei den Professionellen in Frage.

Für die helfenden Berufe bedeutet das Prinzip des Empowerment daher eine Neubestimmung des eigenen Selbstverständnisses und der gesamten Methodologie der sozialen Arbeit. Eltern verschaffen sich Ansehen als ExpertInnen in eigener Sache und bleiben auch bei Inanspruchnahme von Unterstützung AkteurInnen ihrer Lebenswelten. Sie wünschen sich eine gleichwertige Zusammenarbeit, die dadurch charakterisiert ist, "daß gleichwertige, aber dennoch unterschiedliche Ressourcen auch gleichberechtigt eingebracht werden können. Die jeweiligen vorhandenen unterschiedlichen Kompetenzen, etwa von Initiativen oder Verwaltung, sollen dabei weder verwischt noch gleichgemacht werden." (Bobzien/Stark, 1988)

Am Beispiel der integrativen Schullaufbahn würde das bedeuten, daß Eltern und z.B. DirektorIn oder InspektorIn gemeinsam sämtliche Möglichkeiten der integrativen Beschulung eines oder mehrerer Kinder beraten. Dabei könnte durchwegs arbeitsteilig vorgegangen werden. Die Behörde ist verantwortlich für die nötigen Anträge, erforscht Schlupfwinkel und erfüllt vorhandene Auflagen. Die Eltern übernehmen die Öffentlichkeitsarbeit in der unmittelbaren Region und versuchen "neue Bilder in die Köpfe zu bringen" (Jutta Schöler).

Die FachexpertInnen und Helfer werden aufgefordert nicht "für" ihre AdressatInnen zu handeln beziehungsweise zu sorgen, sondern durch kooperative professionelle Unterstützung oder Parteinahme Eltern behinderter Kinder bei ihrer Selbstbemächtigung und vor allem bei der Beschaffung von Ressourcen zu unterstützen, die eine nichtaussondernde und selbstbestimmte Lebensform ermöglichen.

Was zeichnet sich hinsichtlich der Bedeutung für die österreichischen Elterninitiativen für gemeinsames Leben und Lernen - Integration:Österreich - ab?

Perspektivisch läßt sich erkennen, daß es zu einer Stärkung der Interessensvertretung kommt. Einige TeilnehmerInnen sind in ihrem Umfeld bereits zu einer ersten Anlaufstelle und oft motivierendes Beispiel für andere betroffene Eltern geworden. Dadurch kann individuelle Beratung "junger" Eltern behinderter Kinder, ihre Unterstützung, das "mündig" Machen und Begleiten beim Entdecken ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten besser und in einem anderen Ausmaß geleistet werden als bisher. Näher gerückt ist die Erfüllung der Hoffnung von Integration:Österreich, einmal fixe regionale Anlaufstellen für Eltern behinderter Kinder zu gründen.

Durch die Arbeiten zum und für das Projekt wurde der Austausch mit der "Basis der Elternbewegung" (Brandl M., 1998) intensiviert. Die Arbeit und das Wirken der im Verein vertretenen aktiven Eltern behinderter Kinder wurde bekannter und nachvollziehbarer gemacht. Eine "neue Elterngeneration", der "weniger" bzw. andere Mühen und Kämpfe für ihre behinderten Kinder bevorstehen, wird durch diesen Projektgedanken angesprochen.

Von großer Bedeutung für die politische und öffentlichkeitswirksame Arbeit von Integration:Österreich ist

  • die vermehrte ReferentInnentätigkeit der TeilnehmerInnen von "Eltern beraten Eltern". Neben ihrer Teilnahme an einschlägigen Veranstaltungen, sind sie bei Fortbildungen für Fachleute aus dem Sozial-, Gesundheits- und Behindertenbereich vertreten.

  • Auch für die Mitarbeit bei Arbeitskreisen für neue (sozial-)pädagogische Konzepte unter Leitung zuständiger Ministerien konnte I:Ö bereits EbE-TeilnehmerInnen gewinnen.

  • Jede einzelne - auch noch so kleine - regionale Informationsveranstaltung, die durch eine oder mehrere TeilnehmerInnen initiiert wird, trägt zur Verbreiterung des Integrationsgedankens und zum Verständnis des Menschenrechtes auf Nichtaussonderung bei.

Hervorzuheben ist noch die intensivere Zusammenarbeit mit VertreterInnen der Selbstbestimmt Leben Bewegung. Es kommt zu einem Austausch über die Methode des Peer Support, in der die behinderten Erwachsenen auf längere Erfahrungen in ihrer Beratungstätigkeit zurückgreifen können. Zudem wird versucht, gemeinsam an einem österreichischen Gleichstellungsgesetz zu arbeiten.

Abschließend läßt sich festhalten, daß die Erfahrung mit dem Pilotprojekt "Eltern beraten Eltern" bei der österreichischen Elterninitiative die Gedanken und Priorität für eine österreichweite Bildungsschiene für Eltern behinderter Kinder und MitarbeiterInnen ihrer Interessensvertretung verstärkt und bereits an einem weitreichenden Bildungsangebot gearbeitet wird.

"Denn nur Eltern, die sich mit der Behinderung ihres Kindes klar auseinandersetzen, Eltern, die Unterstützung bekommen und auf ihrem Weg begleitet werden - nur jenen Eltern kann es gelingen, ihre behinderten Kinder auf dem Weg zu einem nichtaussondernden und selbstbestimmten Leben zu begleiten" (Brandl M., 1998).

Literatur

Aubrecht B./Oberndorfer B./Schönwiese, V.: Zweiter Zwischenbericht des Projekts "Eltern beraten Eltern", April 1999

Brandl Maria: unveröffentlichte Referatsunterlagen, 1998

Bruckner, B. und V.: Peer Counseling - Wie es von Menschen mit Behinderungen zur fortschreitenden Selbstbestimmung angewandt werden kann; Übersetzung von bizeps, 1993

Bobzien, M. /Stark, W.: Empowerment als Konzept psychosozialer Arbeit und als Förderung von Selbstorganisation, in: Balke K./Thiel W. (Hg.): Jenseits des Helfens, Professionelle unterstützen Selbsthilfegruppen,

Bobzien, M. /Stark, W.: Über das "Innenleben" von Selbsthilfegruppen, in: Bobzien M. /Stark W., Zurück in die Zukunft, Selbsthilfe und gesellschaftliche Entwicklung, München 1988

Engelhardt, Hans-Dietrich, Selbsthilfeinitiativen als Herausforderung für die psychosoziale Versorgung, in: Bobzien M. /Stark W., Zurück in die Zukunft, Selbsthilfe und gesellschaftliche Entwicklung, München 1988;

Forcher Heinz: Ich bin nicht (mehr) sprachlos, Referat 1998

Forcher Heinz/Schönwiese V.: Zur Geschichte der schulischen Integration in Österreich. Erschienen Meister-Steiner B./Schönwiese V./Thaler N./Wieser I. (Hg.): Blinder Fleck und rosarote Brille; 1989; Online: http://bidok.uibk.ac.at/library/wieser-fleck.html;

(Stand 22.01.2007, Link aktualisert durch bidok)

Hecht, Peter: "Erfahrungen aus dem EU-Projekt Eltern beraten Eltern", Referat in Göppingen/Deutschland 1998

Meister-Steiner B./Schönwiese V./Thaler N./Wieser I. (Hg.): Blinder Fleck und rosarote Brille; 1989; Online: http://bidok.uibk.ac.at/texte/geschichte.html; Stand 30. Sept. 1998

Miles-Paul, Ottmar: "Wir sind nicht mehr aufzuhalten": Behinderte auf dem Weg zur Selbstbestimmung - Beratung von Behinderten durch Behinderte, München 1992

Moeller Michael Lukas: Anders helfen, Selbsthilfegruppen und Fachleute arbeiten zusammen, Frankfurt 1992

Österwitz Ingolf: Anmerkungen zu Schwerpunkten der Forschung über Behinderung aus der Sicht der Selbsthilfe Behinderter in Deutschland, Bericht für Pro Infirmis-Schweiz, 1998

Schönwiese, Volker: Behinderung und Pädagogik - eine Einführung aus Sicht behinderter Menschen. Studienbrief der FernUniversität Gesamthochschule in Hagen, 1997

Schumann, Monika: Zur (Eltern-)Bewegung gegen die Aussonderung von Kindern mit Behinderungen "Gemeinsam leben - gemeinsam lernen", in: BHP35 (1996) 1

Trojan Alf (Hrsg.): Wissen ist Macht, Eigenständig durch Selbsthilfe in Gruppen, Frankfurt 1986

Das Projekt "Eltern beraten Eltern" wird durch die Europäische Kommission/Politik und Maßnahmen im Sozialbereich, Förderung der uneingeschränkten Chancengleichheit für behinderte Menschen finanziell unterstützt. Weiters gibt es Förderungen durch das Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie sowie das Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales.

Projektadresse: Integration:Österreich

Maria Brandl (Projektleiterin)

Wurzbachgasse 20/8

A-1150 Wien, Tel. 01/7891747

integration.oesterreich@magnet.at

http://bidok.uibk.ac.at

Die Autoren

Brigitta Aubrecht

geb. 1965, Ausbildung zur Sozialpädagogin, Ausbildung zur interdisziplinären Frühförderin, Studentin der Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik, seit 1997 Mitarbeiterin bei Integration:Österreich, Arbeit an der Diplomarbeit zum Thema "Frühförderung - Selbstbestimmt Leben von Anfang an"; Mitarbeiterin der wissenschaftlichen Begleitung und Beratung des Projekts "Eltern beraten Eltern".

Wurzbachgasse 20/8,

A-1150 Wien

Barbara Oberndorfer

geb. 1966, Ausbildung zur Sozialpädagogin, 1992 bis 1994 Mitarbeiterin der Elterninitiative Wien mit Gründungsphase von Integration:Österreich, Studentin der Pädagogik, Fächerbündel Behinderten- und Integrationspädagogik, Arbeit an der Diplomarbeit zum Thema "Entwicklungsprozesse in Selbsthilfegruppen, Empowerment Eltern behinderter Kinder"; Mitarbeiterin der wissenschaftlichen Begleitung und Beratung des Projekts "Eltern beraten Eltern".

Wurzbachgasse 20/8,

A-1150 Wien

a.o.Univ.Prof. Dr. Volker Schönwiese

geb. 1948; Rollstuhlfahrer (glücklicher Besitzer eines Elektro-Rollstuhles), Universitätsdozent am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck mit Arbeitsschwerpunkt "Behindertenpädagogik/ integrative Pädagogik/psychosoziale Arbeit", seit Ende der 70er-Jahre Mitarbeit in der Selbstbestimmt Leben Initiative, in der österreichischen Elternbewegung für Integration engagiert; (Mit-)begründer des Mobilen Hilfsdienstes Innsbruck; Leitung des universitären Dokumentationszentrums für Behindertenintegration (BIDOK, http://bidok.uibk.ac.at), Leiter der wissenschaftlichen Begleitung und Beratung des Projekts "Eltern beraten Eltern".

Universität Innsbruck

Institut für Pädagogik

Liebeneggerstrasse 8

A-6020 Innsbruck

Quelle:

Brigitta Aubrecht, Barbara Oberndorfer, Volker Schönwiese: Eltern beraten Eltern - Ein Pilotprojekt von Integration:Österreich stellt sich vor

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.01.2007

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