Wege in die Arbeitswelt

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/1998; Thema: Ich will arbeiten! Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/1998)
Copyright: © Hartmut Sturm, Volker Glenz 1998

Wege in die Arbeitswelt

Seit 1983 werden in Hamburg nichtbehinderte und behinderte Kinder integrativ beschult. Seitdem hat die Zahl der Integrationsklassen stetig zugenommen. Derzeit werden an insgesamt 53 Schulen 462 Integrationsklassen geführt. In der Primarstufe gibt es an 21 Standorten Integrationsklassen und an 35 Standorten integrative Regelklassen. In der Sekundarstufe I existieren an 13 Standorten in Gesamtschulen und drei Standorten in Haupt- und Realschulen insgesamt 79 Integrationsklassen.

Im Sommer 1996 hat der vierte Jahrgang aus Integrationsklassen die Sekundarstufe I verlassen. Für die SchulabgängerInnen aus Integrationsklassen bestehen in Hamburg gegenwärtig zwei Möglichkeiten der beruflichen Vorbereitung an Hamburger Berufsschulen:

An einer Gewerbeschule mit den Schwerpunkten Gartenbau und Floristik wurde 1993 für die ersten SchulabgängerInnen mit Behinderung aus Integrationsklassen die erste vollzeitschulische Berufsvorbereitungsklasse (BVKi), in der diese SchülerInnen gemeinsam mit SchülerInnen ohne Berufsreife bzw. ohne Hauptschulabschluß unterrichtet werden, eingerichtet. Diese Maßnahme wird seitdem erfolgreich weitergeführt.

Im Jahr 1994 wurden an einer weiteren Hamburger Gesamtschule (Geschwister-Scholl-Gesamtschule) SchülerInnen mit geistiger Behinderung entlassen. Für diese SchülerInnen wurde eine alternative Konzeption zur vollzeitschulischen Maßnahme BVKi entwickelt: ein integrativer Förderungslehrgang (F1i). Dieser wird in Kooperation zwischen einer Berufsschule (Staatliche Berufsschule Eidelstedt) und einem Träger für Bildungsmaßnahmen des Arbeitsamtes nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AfG) durchgeführt (Verein zur Förderung der beruflichen Bildung e.V).

Neben diesen beiden Möglichkeiten für Schulabgänger aus Integrationsklassen existieren in Hamburg weitere Möglichkeiten zur beruflichen Vorbereitung und Qualifikation. Zu nennen ist hier Berufsvorbereitung und berufliche Teilqualifikation BV-TQ (vgl. Heft 6/96) sowie der Fachdienst der Hamburger Arbeitsassistenz und das Ambulante Arbeitstraining. Diese Maßnahmen bieten eine Möglichkeit zur beruflichen Integration auch für Schulabgänger der Schule für Geistigbehinderte, während die integrative Berufsvorbereitungsklasse und der integrative Förderungslehrgang konzeptionell die Fortsetzung der erfolgreichen Hamburger Integrationsarbeit in Kindergärten, Grundschulen und der Sekundarstufe I darstellen.

Ein Konzept entwickelt sich - die Integrativen Förderungslehrgänge (F1i)

In den Integrationsklassen an der Geschwister-Scholl-Gesamtschule stellte sich ab Jahrgang 8 (1991 erstmals) mit Beginn der Berufsorientierung und des ersten Betriebspraktikums die Frage, wie Jugendliche mit geistiger Behinderung unter den Bedingungen einer Gesamtschule sinnvoll auf den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt vorbereitet werden können.

Da diese Jugendlichen viel mehr als nichtbehinderte durch konkrete Erfahrung lernen, müssen über längere Zeiträume Lernsituationen geschaffen werden, die im Sinne lebensbedeutender Orientierungshilfen auf den zukünftigen Übergang von der Schule in ein wie auch immer geartetes Berufsleben vorbereiten. Dazu gehört der Erwerb von Kompetenzen, die eine gewisse Berufsreife am Ende der regulären Schulzeit gewährleisten, z.B. Interesse an bestimmten beruflichen Tätigkeiten entwickeln, eine Vorstellung vom Leben und Rhythmus in der Arbeitswelt haben, elementare Kenntnisse einfacher handwerklicher Grundfertigkeiten besitzen, Wege zum Arbeitsplatz selbständig bewältigen können und auch Probleme am Arbeitsplatz erleben.

Zentrale Fragestellung für die Pädagogik in Integrationsklassen blieb auch hier: Wie kann der Unterricht auch in der Berufsorientierung so konzipiert werden, daß nichtbehinderte und behinderte Jugendliche weiterhin gemeinsam lernen und die Erfahrungen und Probleme ihrer Mitschüler dabei kennenlernen und erleben können?

Die Erfahrungen der bisherigen Unterrichtspraxis in I-Klassen gaben deutliche Hinweise darauf, daß alle handlungsorientiert und projektartig durchgeführten Unterrichtsvorhaben neben den behinderten Schülern in besonderer Weise gerade auch von den nichtbehinderten Schülern aufgegriffen worden sind und zu neuen Lernerfolgen geführt haben. Diese Erfahrungen bedeuteten in der Praxis, daß bei projektorientierten Unterrichtsvorhaben

  • integrative Arbeit möglich ist,

  • davon viele Regelschüler in besonderer Weise profitiert haben und

  • auch inhaltlich anspruchsvolle Themen realisiert werden konnten.

Es wurde eine Arbeitsgruppe mit VertreterInnen der Gesamtschule und der Berufsschule Eidelstedt gebildet, um nach Wegen zu suchen, wie man den Übergang von der allgemeinbildenden Schule in das berufsbildende System und schließlich in eine berufliche Qualifizierung für die SchulabgängerInnen mit Behinderung aus Integrationsklassen gestalten könnte. Diese frühzeitige Kooperation sollte sicherstellen, daß der Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II insbesondere für die zukünftigen AbgängerInnen mit Behinderung aus Integrationsklassen ungestört ablaufen konnte. Im Vordergrund der Arbeit stand die Suche nach einem ganzheitlichen Ansatz, der die Entwicklung der Persönlichkeit fördert, die häufig vorhandenen Mißerfolgserlebnisse beseitigen helfen und ihre Freude am Lernen erhalten sollte.

Es wurde ein gemeinsam gestalteter Tag von Berufsschule und Gesamtschule für die Integrationsklassen im neunten und zehnten Schuljahr eingeführt, der bis heute fester Bestandteil der Kooperation ist. Rahmenbedingung für den gemeinsam gestalteten Tag wurde ein fächerübergreifender Projekttag.Es sollten reale Projekte mit Ernstcharakter aus dem beruflichen Kontext durchgeführt werden. Ernstcharakter bedeutet, es werden Projektziele angestrebt, die außerhalb oder innerhalb der Schule eine tatsächliche Realisierung erfordern. Dabei sollen

  • sich nichtbehinderte und behinderte Jugendliche langfristig konkret beruflich orientieren,

  • sie sich so mit den Fragen und Problemen des Übergangs in das Berufsleben handelnd auseinandersetzen,

  • sich behinderte Jugendliche und Jugendliche ohne Perspektive auf einen Hauptschulabschluß personell und institutionell auf den Übergang in berufsvorbereitende Maßnahmen in der Sekundarstufe II vorbereiten,

  • berufsorientierende Unterrichtsprojekte mit Ernstcharakter weiterhin einen integrativen Unterricht im Bereich "berufliche Orientierung" ermöglichen.

Warum Projektlernen?

Im Rahmen des Gesamtkonzeptes werden in der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung reale Lernsituationen geschaffen, die pädagogische Projekte darstellen.

Die Projektinitiative wird gesetzt durch reale Lernorte, die mit Leben gefüllt werden sollen. Mit den TeilnehmerInnen wird Einverständnis über die Initiative hergestellt, die Gesamtaufgabe wird eingegrenzt, Rahmenbedingungen werden benannt, Wünsche der SchülerInnen aufgenommen. Den TeilnehmerInnen werden die Ernstsituationen schnell bewußt, sie erkennen den Sinn und die Bedeutung unmittelbar in den Lernsituationen, sie setzen sich mit ihren Ängsten aber auch Erfolgen in den transparenten Lern- und Arbeitsprozessen auseinander. Alle TeilnehmerInnen finden Aufgaben unterschiedlichen Niveaus vor und können sich mit ihren Fähigkeiten und Anforderungen an sich selber einbringen.In Projekten treten immer wieder unterschiedlichste Spannungen und Konflikte auf, auch in der Zusammenarbeit von TeilnehmerInnen mit und ohne Behinderung. Das Aufspüren und Bearbeiten dieser Spannungen und Konflikte treibt einerseits die Projekte voran, ist andererseits für das emotionale Wohlfühlen aller TeilnehmerInnen unabdingbare Erfolgsbasis. Ständige Reflexionen sorgen dafür, daß es nicht beim bloßen Alltagshandeln bleibt, auch hierbei können sich alle TeilnehmerInnen entsprechend ihren Fähigkeiten und ihrem Entwicklungsstand einbringen.

Projekte werden nicht nur punktuell eingesetzt, sondern sind während des gesamten Zeitraumes unverzichtbarer Bestandteil des Lernens. Allein durch den Zeitrahmen, den Verzicht auf eine Stundentafel im herkömmlichen Sinne und eine sehr enge Verzahnung von Berufsschule und dem Verein als Träger der Maßnahme wird sichergestellt, daß keine theoretische Überfrachtung stattfindet, sondern stattdessen handlungsorientiertes Lernen im Mittelpunkt steht. Die notwendigen Fachkenntnisse werden nicht separat vermittelt, sondern prozeßbegleitend immer dann, wenn im Projekt ein Anlaß entsteht und es deshalb auch den TeilnehmerInnen notwendig erscheint.

Immer wieder entstehen reale Probleme, die gemeinsam verantwortlich gelöst werden müssen. Auf der einen Seite gibt es Problemstellungen, die in allen Projekten mit realen Lernsituationen entstehen, wie die Planung von Arbeitsabläufen, Zuteilung der Arbeitsplätze, Festlegung von Arbeitszeiten. Auf der anderen Seite gibt es Problemstellungen, die für alle Beteiligten unvorhersehbar auftauchen, wie Diebstähle, Belästigungen, Kommunikationsstörungen etc. Damit diese Probleme auch gelöst oder geklärt werden können, ist die Schaffung eines institutionellen Rahmens notwendig. Dazu gehören praxisfreie Tage zur Reflexion, Planung, Problemlösung und Wochenplanung, Morgenrunden zur Erstellung von Tagesarbeitsplänen und Gesprächsrunden für beispielsweise Tagesabschlußbesprechungen.

Die Anwendung der Projektmethode in Verbindung mit der Realisierung von Ernstsituationen schafft somit einen pädagogischen Rahmen, der vielfältige Lernanlässe, Aufgaben, Probleme nach sich zieht und verschiedene Lösungsmöglichkeiten zuläßt. In diesem Rahmen kann jeder Schüler die für ihn geeigneten Lernmöglichkeiten finden und erproben bzw. die Betreuer können die Projekte nutzen, um TeilnehmerInnen mit Behinderung, die nicht imstande sind, selber für sich geeignete Aufgaben zu finden, entsprechende Tätigkeiten zu übertragen oder zu erproben.

Die Realisierung des Konzeptes

Das entwickelte Konzept sieht nach der Phase der Berufsorientierung in der Gesamtschule eine mindestens 2-jährige Förderung für die Jugendlichen aus Integrationsklassen im Rahmen eines integrativen Förderungslehrgangs F1i vor. Das 3. Förderungsjahr kann nur auf Antrag im Wege einer Einzelfallprüfung durch das Arbeitsamt genehmigt werden und ist nicht obligatorisch. Nach Abschluß der Berufsvorbereitung im F1i soll die berufliche Integration mit Hilfe des Fachdienstes der Hamburger Arbeitsassistenz weiter gefördert werden (s. Abb. 1 auf der folgenden Seite oben).

Das Schema macht deutlich, daß der integrative Weg von der Schule hin zu einer möglichen Anstellung auf drei Säulen beruht:

Berufsorientierung - Berufsvorbereitung - Berufliche Integration

Derzeit ist insgesamt eine 6-jährige Förderung in diesen drei verschiedenen Qualifizierungsphasen konzeptionell möglich. Seit 1.8.1996 befinden sich die ersten vier TeilnehmerInnen erstmals im dritten Förderungsjahr im Rahmen der Berufsvorbereitung im F1i.

Berufsorientierung - schon in der Gesamtschule

Um die Schüler an diese Art der Arbeit heranzuführen, wurde zunächst eine kleinere Serienproduktion in der Holzverarbeitung aufgelegt. Erste Verkaufserfahrungen erlebten die Schüler auf Basaren. Ferner wurde im 9. Schuljahr der Bau von Sitzbänken Bestandteil des Projekttages. Diese wurden anschließend in einem angemieteten Verkaufsladen Bestandteil des Sortiments und dort verkauft.

Im 10. Schuljahr wurde dann der produktive Projektschwerpunkt verändert: Statt Holzverarbeitung wurde nun der Bereich Hauswirtschaft/Gastronomie ausgesucht. Mittelpunkt war der Betrieb eines Restaurants in der Schule. Bewußt wurde zu Beginn ein kleinerer Rahmen gewählt, ein Mittagessen für ca. 20 Gäste. Am Ende des Schuljahres war die Projektgruppe imstande, ca. 60 Personen an einem warmen Buffet mit diversen Auswahlmöglichkeiten zu bewirten.

Berufsvorbereitung im Integrativen Förderungslehrgang (F1i)

Die erfolgreiche Kooperation zwischen Gesamtschule und Berufsschule wurde fortgesetzt. In enger Kooperation entwickelten die Staatliche Berufsschule Eidelstedt und der "Verein zur Förderung der beruflichen Bildung" ein Konzept für einen integrativen Förderungslehrgang (F1i). Einer der Hauptvorteile dieser Kooperation liegt darin, daß die Ausstattung mit Personal- und Sachmitteln in Förderungslehrgängen im AfG geregelt ist und dadurch betriebsähnliche Strukturen geschaffen werden können. Darüber werden die TeilnehmerInnen finanziell nach dem AfG gefördert.

Das erste Förderungsjahr

Um für die Jugendlichen den Übergang von der Sek. I zur Sek. II zu erleichtern, wird das Team im F1i durch den Klassenlehrer und den Berufsschullehrer, den sie aus der Kooperation im 9. und 10. Schuljahr kennen, gebildet. Dazu kommen die KollegInnen des Vereins zur Förderung der Beruflichen Bildung, eine Hauswirtschaftsmeisterin, eine Sozialpädagogin sowie eine Arbeitsassistentin der Berufsschule.

Im Förderungslehrgang F1i werden insgesamt zwölf TeilnehmerInnenInnen gefördert, davon vier Jugendliche mit Behinderung aus Integrationsklassen.

Viele Vorerfahrungen aus der Gesamtschule kommen den Jugendlichen jetzt zugute: Die Gruppe plant und realisiert im ersten Halbjahr gemeinsam ein Ladenprojekt, in dem Spielzeuge und andere Artikel in einem Einkaufszentrum verkauft werden. Ein Unterschied zur Schule ist jedoch deutlich: Das Geschäft hat reguläre Ladenöffnungszeiten von Montag bis Samstag und eine Arbeitswoche insgesamt 38,5 Std., auch wenn diese nicht vollständig im Laden zu leisten sind.

Im zweiten Halbjahr wird das "Bistro zum Kolibri" als Lernort eröffnet. Auch hier profitieren die Jugendlichen von ihren Erfahrungen aus dem Schulrestaurant. Bedienen, kassieren, Essen auffüllen, Tresendienst usw., sind Arbeiten, die in ihren Anforderungen so zergliedert werden können, daß Nichtbehinderte und Behinderte sinnvoll in Arbeitsprozesse auf verschiedenen Niveaus einbezogen werden können.

Abbildung 1: 1. Säule

Berufsorientierung

Gesamtschule

Berufsorientierung

Gesamtschule

Geschwischter-Scholl-Gesamtschule

Berufsschule Eidelstedt (G12)

Geschwischter-Scholl-Gesamtschule

Berufsschule Eidelstedt (G12)

9. Klasse

ein Tag/Woche

10. Klasse

ein Tag/Woche

Projektarbeit

Schwerpunkte: Holz Handel

Projektarbeit

Schwerpunkte: Hauswirtschaft, Handel

Ladenprojekt

Restaurantprojekt

Abbildung 1: 2. Säule

Berufsvorbereitung

Integrativer Förderungslehrgang Fli

Berufsvorbereitung

Integrativer Förderungslehrgang Fli

Berufsvorbereitung

Integrativer Förderungslehrgang Fli

"Verein zur Förderung der beruflichen Bildung" e.V. Berufsschule Eidelstedt (G12)

"Verein zur Förderung der beruflichen Bildung" e.V. Berufsschule Eidelstedt (G12)

"Verein zur Förderung der beruflichen Bildung" e.V. Berufsschule Eidelstedt (G12)

1. Jahr

fünf Tage/Woche

2. Jahr

fünf Tage/Woche

3. Jahr

fünf Tage/Woche

Projekte mit Ernstcharakter

Projekte mit Ernstcharakter

Berufliche Qualifizierung

Bistro, Laden

Büro/EDV, Bistro, Laden,

betriebliche Praktika

im Betrieb

Abbildung 1: 3. Säule

Berufliche Integration

Fachdienst HA

Hamburger Arbeitsassistenz

geplant

fünf Tage/Woche

Berufliche Eingliederung

im Betrieb

Das zweite Förderungsjahr

An das erste Förderungsjahr schließt sich ein weiteres für die TeilnehmerInnen mit Behinderung an. Nichtbehinderte TeilnehmerInnen stoßen neu dazu, da für diese die Teilnahme auf ein Jahr begrenzt ist. Gleichzeitig ist ein zweiter Lehrgang eingerichtet worden, in dem die SchulabgängerInnen aus der nachfolgenden Integrationsklasse der Gesamtschule aufgenommen wurden. Die Zahl der MitarbeiterInnen hat sich vergrößert, es gibt nun zwei Lehrgänge mit zwei Teams, die das erarbeitete Konzept weiterentwickeln: Während die eine Gruppe das Bistro führt, betreibt die andere ein Ladengeschäft. Insgesamt werden jetzt in zwei Lehrgängen 7 Jugendliche mit und 17 ohne Behinderung gefördert.

Die Jugendlichen im zweiten Förderungsjahr sind jetzt bereits in vielerlei Hinsicht routiniert. Verschiedene Langzeitpraktika werden mit gutem Erfolg absolviert. Auch im Bistro lernen die TeilnehmerInnen zunehmend komplexere Aufgaben zu übernehmen und bleiben selbst in Belastungssituationen immer besser handlungsfähig. Im zweiten Halbjahr dieses 2. Förderungsjahres wird wieder ein Ladengeschäft geführt.

Das dritte Förderungsjahr - Berufliche Integration

Ab 1.8.1996 ist für alle Jugendlichen mit Behinderung das dritte Förderungsjahr aufgrund der positiven bisherigen Entwicklung im Wege einer Einzelfallgenehmigung durch das Arbeitsamt bewilligt worden. Ziel im dritten Jahr ist eine konkrete Qualifizierung in einem Betrieb und parallel dazu weiterhin ein berufsschulisches Angebot. Konkret bedeutet dies, daß die Jugendlichen vier Tage in der Woche im Betrieb sind und an einem Tag in der Woche die Berufsschule besuchen.

Es ist gelungen, zwei Teilnehmerinnen in namhafte große Hotels zu vermitteln, eine Teilnehmerin in ein Tierheim und einen Teilnehmer in ein Kindertagesheim.

Nach nunmehr drei Monaten läßt sich bisher feststellen, daß die Aufnahme in den Betrieben und die Akzeptanz der TeilnehmerInnen als äußerst positiv zu bezeichnen ist. Es werden adäquate Tätigkeiten und Anforderungen für die Jugendlichen gesucht und an sie herangetragen. Die Betreuung ist unterschiedlich intensiv, abhängig von der Bedürfnissen des Betriebes und der Jugendlichen. Sie kann phasenweise bis zur einer vollständigen Begleitung am Arbeitsplatz gehen oder auch in Besuchen oder telefonischen Kontakten bestehen.

Am Berufsschultag finden gemeinsame Gespräche, Auswertungen und Sport statt. Darüber hinaus sind die TeilnehmerInnen an drei Stunden in einem Wahlpflichtangebot in die laufenden Förderungslehrgänge im Haus integriert und treffen hier auf nichtbehinderte Jugendliche.

Integrative Erfahrungen

Eine zentrale Fragestellung schon in der Konzipierung des Förderungslehrganges war, ob auch unter den Bedingungen eines Förderungslehrganges weiterhin integrative Prozesse unter den Beteiligten stattfinden können bzw. sich initieren lassen. Einerseits ließen die guten Erfahrungen aus der Gesamtschule mit dem projektorientierten Ansatz darauf hoffen, andererseits kam aber auch ein neues Problem hinzu: Integration in der Sekundarstufe II unter den Rahmenbedingungen eines Förderungslehrganges bedeutet, daß auch die nichtbehinderten Jugendlichen für sich eine Problemgruppe darstellen, da es sich hier um diejenigen Jugendlichen handelt, die nach der allgemeinbildenden Schule aus verschiedenen Gründen als noch nicht ausbildungsreif gelten. Im folgenden sollen die Erfahrungen in dieser Hinsicht näher beleuchtet werden.

Sicht der Eltern

Bisher haben nur wenige TeilnehmerInnen mit Behinderung die ersten beiden Förderungsjahre durchlaufen. Daher konnten auch nur wenige Eltern zu ihrer Einschätzung befragt werden, die sich allerdings ausnahmslos positiv schriftlich zu den Fragestellungen äußerten.

Auf die Frage, was ihrem Kind im Lehrgang gut getan hat, kamen Antworten wie: Es wurde in Projekten gelernt, die die wirkliche Arbeitswelt nahebrachten. Ebenso wurde das gemeinsame Lernen und die Integration aller Schüler in die Gemeinschaft hervorgehoben. Ferner wurde zur Frage, welche Erwartungen sich erfüllt bzw. nicht erfüllt haben, deutlich, daß sich bei den TeilnehmerInnen im Lehrgang berufliche Wünsche und Vorstellungen entwickelt haben, die Selbständigkeit und der Umgang mit Menschen sich gesteigert bzw. verbessert haben. Berufsbezogene Entwicklungsschritte wurden von den Eltern bei ihren Kindern beispielsweise darin gesehen, daß sie den Sinn von Arbeitstugenden erfahren und verstanden haben, Handlungskompetenzen entwickelt haben, die zu einer weiteren Selbständigkeit führten. Dieses habe geholfen, komplexe Arbeits- und Handlungsabläufe zunehmend zu meistern.

Die Zusammenarbeit ihrer Kinder mit anderen nichtbehinderten TeilnehmerInnen der Gruppe wurde unterschiedlich erlebt. So beurteilten die Eltern die Zusammenarbeit als gut bis außergewöhnlich, es wurde ferner berichtet, daß erstmalig eine Freundschaft mit einem nichtbehinderten Menschen geschlossen wurde, die sich allerdings nicht gefestigt hat.

Auf die Frage, ob es Entwicklungsschritte gab, die so nicht erwartet worden waren, wurde geantwortet, daß die Fortschritte in diesem Maße nicht erwartet wurden, daß die TeilnehmerIn sich selbständig an die Arbeitseinteilung hält, daß der Lehrgang insgesamt den persönlichen Reifungsprozeß vom Jugendlichen zum Erwachsenen unterstützt hat.

Sicht der Jugendlichen

Die BerufsberaterInnen des Arbeitsamtes haben festgestellt, daß es einige Jugendliche ohne Behinderung ablehnen, in einen integrativen Förderungslehrgang vermittelt zu werden. Es bestehen erhebliche Vorbehalte, Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf ein gemeinsames Lernen mit Behinderten. Auch bei fast allen Jugendlichen, die das Arbeitsamt in die Lehrgänge vermittelt, sind diese Befürchtungen vorhanden.

Befragungen dieser Jugendlichen haben ergeben, daß sie schon nach kurzer Zeit Kontakt mit den Jugendliche mit Behinderung aufnehmen, ihre Skepsis verlieren und am Ende die Zusammenarbeit als ein Stück Normalität erleben.

In der ersten Lehrgangsgruppe hat ein Teilnehmer wiederholt Besuche nach Feierabend bzw. am Wochenende von Jugendlichen ohne Behinderung erhalten, eine Teilnehmerin mit Behinderung hat so enge Kontakte zu TeilnehmerInnen ohne Behinderung, daß sie nahezu ihre gesamte Freizeit nach Feierabend mit ihnen verplant und verbringt.

Um weitere Anhaltspunkte über eine mögliche Integration der Menschen mit Behinderung in die Gruppe zu erhalten, wurde jede/r SchülerIn einzeln befragt. Auf einer Fläche mit konzentrischen Kreisen sollte jede/r einen Holzklotz mit dem eigenen Namen in der Mitte plazieren und weitere Holzklötze mit den Namen ihrer MitschülerIn so aufstellen, wie diese nach ihrer Ansicht um sie herum stehen. Die am nächsten plazierten Klötze sollten diejenigen sein, die er/sie gerne mag und mit der er/sie viel zu tun hat. Anschließend wurden die Plazierungen bewertet.

In der Auswertung wurde deutlich, daß die Jugendlichen mit Behinderung nicht dem mittleren Kern der Gruppe angehören, sie aber auch nicht weiter davon entfernt wie andere TeilnehmerInnen ohne Behinderung sind.

Die Aufstellungen der Jugendlichen mit Behinderung zeigen, daß diese in ihre Nähe Jugendliche mit und ohne Behinderung stellen und ebenso weiter entfernt. Dieses deutet darauf hin, daß sie sich selber als zur Gruppe zugehörig empfinden.

Sicht der Ausbilder und Lehrer

Das Projektlernen hat sich unseres Erachtens bewährt, weil sich im täglichen Arbeitsalltag beinahe ungezählte Situationen ergeben, in denen behinderte und nichtbehinderte TeilnehmerInnen miteinander kommunizieren und kooperieren. Im Vordergrund steht dabei immer das Bestreben, für alle TeilnehmerInnen möglichst positive Voraussetzungen für die anstehenden Aufgaben zu schaffen.

Die Jugendlichen sind alle regelmäßig anwesend und zeigen eine hohe Motivation und Bereitschaft, sich auf die Projekte einzulassen. Alle TeilnehmerInnen werden auf ihrem Niveau in ihren Fähigkeiten gefördert und erlangen so neue Kompetenzen in den Lernfeldern. So haben beispielsweise die Jugendlichen mit Behinderung gelernt, sich in neuen Arbeitsfeldern zurechtzufinden, brauchen weniger Anleitungen für bekannte Tätigkeiten, sprechen deutlicher, halten länger durch, können die anfallenden Arbeiten beschreiben und für sich bewerten.

Der Tag beginnt mit einer Morgenrunde, in der alle ihre momentane Stimmung zum Ausdruck bringen können, aus der Freizeit oder von zu Hause erzählen oder auch Probleme ansprechen. Das Bedürfnis, sich mitzuteilen bzw. angehört zu werden, wird bei allen akzeptiert, ohne Unterschied ob jemand behindert ist oder nicht. In dieser Runde wird auch gemeinsam der Arbeitstag bzw. montags die gesamte Woche geplant, Probleme angesprochen und geklärt. Die TeilnehmerInnen mit Behinderung werden ernst genommen, beachtet, aber auch beobachtet.

Besonders bei der Arbeitsverteilung in der Morgenrunde achten die MitarbeiterInnen darauf, daß "einfache" Arbeiten nicht immer wieder an TeilnehmerInnen mit Behinderung vergeben werden, sondern alle alles mit unterschiedlicher Unterstützung tun müssen. Damit werden an dieser Stelle Stigmatisierungseffekte vermieden.

Die integrativen Förderungslehrgänge werden akzeptiert. Kein/e TeilnehmerIn mit Behinderung hat den Lehrgang verlassen und alle AbgängerInnen mit Behinderung aus Integrationsklassen der Geschwister-Scholl-Gesamtschule sind bisher nach Beendigung ihrer Schulzeit im Lehrgang angemeldet worden. Die TeilnehmerInnen ohne Behinderung konnten zu einem großen Teil den Hauptschulabschluß erreichen und wurden erfolgreich in Ausbildungen vermittelt.

Verfahren zur Beurteilung der Entwicklung

Für die TeilnehmerInnen mit Behinderung wurde ein Beurteilungsschema entwickelt, um aufzuzeigen, wie sich TeilnehmerInnen hinsichtlich im Lehrgang gestellter Anforderungen entwickelt haben. Dabei handelt es sich um ca. 180 verschiedene Items, die für die verschiedenen Arbeitsfelder im Projekt nach einer genauen Arbeitsplatzanalyse erstellt worden sind. Mit Hilfe dieser Skalen sollen einerseits die individuellen Fortschritte der TeilnehmerInnen mit Behinderungen sichtbar gemacht werden, anderseits aber auch ein Instrument entstehen, mit dem vorhandene Kompetenzen im Hinblick auf einen zukünftigen Arbeitsplatz geprüft werden können. Schartmann weist darauf hin, daß "Arbeitsplatzverluste bedeutend häufiger auftreten, wenn keine exakte Beschreibung des Arbeitsplatzes des behinderten Menschen vorliegt" und spricht in diesem Zusammenhang davon, daß "Fähigkeiten und Anforderungen in optimales ‚Passungsverhältnis' gebracht werden" müssen, wenn das Kündigungsrisiko vermindert werden soll.

Abbildung 2

Bewertungs-punktezahl

Beschreibung des Arbeitsverhaltens

1

Kann gar nicht, lehnt Arbeit ab, hat Angst davor, überhaupt kein Interesse

2

Versucht, nach unmittelbarer Aufforderung Arbeit zu erledigen; sehr langsam, ständige Anleitung und Kontrolle erforderlich, bricht Arbeit leicht ab, sehr wenig Durchaltevermögen, läßt sich leicht ablenken, Arbeitsergebnisse kaum zu verwerten

3

Erledigt Arbeit nach unmittelbarer Aufforderung; langsam, immer wieder Anleitung, Kontrolle oder Hilfestellung erforderlich, unterbricht die Arbeit, wenig Durchaltevermögen, läßt sich zeitweilig ablenken, Arbeitsergebnisse nur teilweise zu verwerten

4

Erledigt Arbeit nach unmittelbarer Aufforderung, Kontrolle immer erforderlich, teilweise Hilfestellung notwendig, erkennt Anforderung an eine Tätigkeit und wendet Erlerntes an, braucht Hilfestellung zum genauen Arbeiten, arbeitet kontinuierlich kurze Zeit, Arbeitsergebnisse meisten zu verwerten

5

Nimmt Arbeitsaufträge an, erledigt Arbeit ohne direkte Anleitung, läßt sich helfen oder fordert Hilfe an, wendet Erlerntes an, Arbeit muß kontrolliert werden, Nacharbeiten führen zum gewünschten Ergebnis, arbeitet kontinuierlich, Arbeitsergebnisse werden verwertet

6

Macht Arbeit nach Aufforderung selbständig, teilt sich die Arbeit ein, arbeitet bedächtig, kontinuierlich, Ergebnisse sind genau, Kontrolle ist notwendig bei seltenen Beanstandungen

7

Erledigt die Arbeitstätigkeit ohne Aufforderung selbständig, schnell, korrekt, ohne Ablenkung, Kontrolle nicht notwendig, zuverlässig, Arbeitsergebnisse erfüllen alle Anforderungen

Dem Beurteilungsschema liegen die Ratingskalen und Beurteilungskriterien in Abbildung 2 zugrunde.

Beispielhaft soll in Abbildung 3 (nächste Seite) eine Auswahl dieser Items für einen Teilnehmer mit Down-Syndrom dokumentiert werden.

Perspektiven

Seit 1.8.1996 werden im Rahmen integrativer Förderungslehrgänge insgesamt 11 Jugendliche aus Integrationsklassen gefördert. Momentan läßt sich allerdings die zukünftige Entwicklung für dieses Modell nur schwer abschätzen, da die Fördergrundlagen des Arbeitsamtes in der Diskussion sind.

Bisher läßt sich feststellen, daß alle Erfahrungen darauf hinweisen, daß der eingeschlagene Weg erfolgreich ist und sich ernsthafte berufliche Perspektiven für den Personenkreis jugendlicher AbgängerInnen mit Behinderung aus Integrationsklassen entwickeln lassen.

Abbildung 3

Tätigkeit

Förderungsjahr

1

2

3

4

5

6

7

                 

Verwaltung:

               

Ablage in Ordner

94/95

xxx

xxx

         
 

95/96

xxx

xxx

xxx

       

Kuvertieren

94/95

xxx

xxx

         
 

95/96

xxx

xxx

xxx

       

Sortieren nach Zahlen, Belegnummern

94/95

xxx

xxx

xxx

       
 

95/96

xxx

xxx

xxx

       
                 

Bistro:

               

Tische decken, Blumen stellen

94/95

xxx

xxx

         
 

95/96

xxx

xxx

xxx

xxx

     

Speißekarten vorbereiten

94/95

xxx

xxx

xxx

       
 

95/96

xxx

xxx

xxx

xxx

xxx

   

Literatur

Glenz, V.; Sturm, H.: Roy serviert jetzt im Bistro. In: hlz, Zeitschrift der GEW Hamburg 5/95

Glenz, V.; Sturm, H.: Auf dem Weg in Berufsleben. In: IMPULSE, Hamburg Nr. 2/96

Glenz, V.; Sturm, H.: Integrative Förderungslehrgänge in Hamburg. In: Interdisplinäre Schriften zur Rehabilitation Bd.6

Ellger-Rüttgardt, E: (Hrsg.): Universitätsverlag Ulm Jan. 1997

Schartmann, D.: Kündigungsgründe bei unterstützten Arbeitsverhältnissen. In: IMPULSE 1/96

Sturm, H.: Berufsorientierung, Berufsvorbereitung und berufliche Integration für Jugendliche mit und ohne Behinderung. In: 25 Jahre Gesamtschule in der Bundesrepublik Deutschland. Länder- und Werkstattberichte. Gudjons, H.; Köpke, A.(Hrsg.): Klinkhardt 1997

Autoren

Hartmut Sturm

Sonderpädagoge (Verhaltensgestörten- und Geistigbehindertenpädagogik, Sport, Erziehungswiss.) Universität Hamburg, Erfahrungen in der Heimerziehung, Heimschulpädagogik und in der Freizeitpädagogik geistig behinderter Menschen, mehrjährige Tätigkeit als Therapeut in der Entwicklungförderung, seit 1990 in Integrationsklassen an der Geschwister-Scholl-Gesamtschule, seit 1994 als Sonderpädagoge in Integrativen Förderungslehrgängen.

Volker Glenz

Diplom-Kaufmann, Diplom-Handelslehrer, Studium an der Universität Hamburg, langjährige Erfahrungen in der Berufsausbildung für lernbehinderte Jugendliche am BBW, Mitarbeit an Projekttagen in Integrationsklassen der Geschwister-Scholl-Gesamtschule, seit 1994 Berufsschullehrer in Integrativen Förderungslehrgängen.

Staatliche Gewerbeschule 12

Niekampsweg 25a

D-22523 Hamburg

Quelle:

Hartmut Sturm, Volker Glenz: Wege in die Arbeitswelt

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/1998; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.02.2005

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