Erleben von Berufstätigkeit

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/1998. Thema: Ich will arbeiten! Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/1998)
Copyright: © Alfred Schabmann, Christian Klicpera 1998

Erleben von Berufstätigkeit

Wie erleben Menschen mit einer Lern- bzw. einer geistigen Behinderung die Berufstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt? Wie wirkt sich diese auf andere Lebensbereiche aus? Wie werden behinderte Menschen in ihrer Arbeitssuche beraten und unterstützt? Die Erfahrungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen sind als Impulse für die Weiterentwicklung der Integration am Arbeitsmarkt zu sehen.

Im Rahmen einer österreichweiten Studie zur Problematik der beruflichen Integration von Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung (Schabmann & Klicpera, 1996a) wurden 53 Personen und deren Angehörige mittels halbstrukturierter Interviews über ihr persönliches Erleben der Arbeitstätigkeit in der freien Wirtschaft befragt. Es zeigt sich, daß die Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz und dem sozialen Umfeld in der Arbeit hoch ist und die ausgeübten Tätigkeiten als befriedigend erlebt werden, besonders im Vergleich zu Erfahrungen im Bereich geschützter Beschäftigungseinrichtungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Probleme werden hauptsächlich im Umgang mit Kollegen genannt. Darüberhinaus erscheint die Information über mögliche Arbeitsplätze, die Ratsuchenden zuteil wird, häufig unzureichend.

Einleitung

Bei den Bemühungen um eine gesellschaftliche Integration von Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung[1] kommt der beruflichen Eingliederung dieser Personengruppe in den regulären Arbeitsprozeß ein bedeutender Stellenwert zu. Mittlerweile existieren auch in Österreich zahlreiche Einzelprojekte, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Menschen mit einer Behinderung Berufsmöglichkeiten außerhalb des "geschützten" Bereichs von speziellen Beschäftigungseinrichtungen zu eröffnen. Die Anzahl jener Personen, die im Rahmen dieser Projekte Arbeit gefunden haben, ist allerdings immer noch recht gering. Eine deutlich größere Zahl von Personen dürfte über Einzelinitiativen, zum Teil der Betroffenen selbst bzw. ihrer Angehörigen, zum Teil von engagierten Mitarbeitern aus den Werkstätten, aber auch von Lehrern Arbeit gefunden haben.

Die vorliegende Arbeit stellt sich das Ziel, die Erfahrungen jener Menschen mit einer Lern- bzw. einer geistigen Behinderung zu erkunden, die auf diese Weise eine Arbeitsstelle gefunden haben und eine Tätigkeit am regulären Arbeitsmarkt ausüben. Diese Erfahrungen sollen einerseits dabei helfen, den Blick für mögliche berufliche Tätigkeiten, die derzeit für Menschen mit eingeschränkter Lernfähigkeit am offenen Arbeitsmarkt vorhanden sind, zu erweitern, da unserer Ansicht nach die vorhandenen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden. Andererseits können diese Erfahrungen auch dazu dienen, mögliche Unterstützungsmaßnahmen zu konzipieren, die die Arbeitsintegration erleichtern könnten.

Die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen sollte jedoch auch einen besseren Einblick in die Chancen der Arbeitsintegration geben, ohne die Risiken, die damit verbunden sein können, zu verschweigen. Für den Einzelnen steht die Berufstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in einem Spannungsfeld zwischen persönlichem (sozialem und finanziellem[2]) Risiko und der Möglichkeit der individuellen Weiterentwicklung in vielen Lebensbereichen, etwa einer größeren Selbständigkeit in der Wohnform, einer Erweiterung der sozialen Beziehungen oder mehr Unternehmungsmöglichkeiten im Freizeitbereich. In diesem Spannungsfeld bewegt sich neben der Frage, ob die entsprechenden Arbeitsanforderungen erfüllt werden können auch die Diskussion darüber, ob es für den Einzelnen sinnvoll ist, den Übergang in ein Arbeitsverhältnis außerhalb des Geschützten Bereichs anzustreben. Nicht selten werden etwa von professioneller Seite (z.B. von Seiten der Sonderschulen oder auch der Betreuungseinrichtung) Probleme befürchtet, die durch den Wegfall der (intensiven) Betreuung tagsüber entstehen könnten, oder eine starke soziale Ausgrenzung am Arbeitsplatz (Schabmann, Klicpera & Rauter, 1996b). Zum Teil werden diese Ansichten auch von den Angehörigen behinderter Menschen geteilt. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung auf Arbeitsplätzen des regulären Arbeitsmarktes können helfen, Chancen und Risiken realistischer zu sehen.



[1] Im deutschen Sprachraum wird vielfach der Begriff "Lernbehinderung" noch immer recht uneinheitlich verwendet. Hier ist die Behinderung von Personen gemeint, die nach internationalen Klassifikationen (z.B. ICD-10 der WHO) als Menschen mit leichter geistiger Behinderung bezeichnet werden. Wir verwenden diese Bezeichnung (zusammen mit der Bezeichnung "leichte geistige Behinderung") deshalb, um die Erschwernisse herauszustellen, mit denen viele jener Personen konfrontiert sind, für die bisher im gegliederten österreichischen Schulsystem der Besuch der Allgemeinen Sonderschule für günstig erachtet wurde.

[2] In Österreich gehen derzeit Personen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung, die eine Beschäftigung am offenen Arbeitsmarkt aufnehmen, ein beträchtliches finanzielle Risiko ein, da einige Unterstützungsleistungen (wie etwa der Fortbezug der erhöhten Kinderbeihilfe sowie alle Rentenansprüche) an die Bedingung geknüpft sind, zum eigenen Unterhalt nicht beitragen zu können. Wird dies jedoch einmal getan, so fallen diese Leistungen weg und zwar auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis gekündigt wird. Hier wäre unbedingt eine Revision anzustreben, die offensichtliche Nachteile bzw. Risiken für jene, die einen regulären Arbeitsplatz anstreben, ausschalten (Im Prinzip sollte also ein Wiederaufleben früherer Leistungen möglich sein.).

Methode

Personen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung, die früher Kontakt mit dem Arbeitsmarktservice Österreich (AMS) hatten, wurden durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales angeschrieben und gebeten, sich für ein Interview über ihre persönlichen Erfahrungen in ihrem Arbeitsverhältnis zur Verfügung zu stellen. 120 Personen antworteten auf diese Bitte positiv. Von dieser Gruppe konnten schließlich 53 Personen und in 16 Fällen auch deren Bezugspersonen (alle Familienmitglieder, zumeist die Mutter) befragt werden. Die Befragungen wurden am Wohnort der Interviewten durchgeführt. Ein Gespräch dauerte im Durchschnitt zweieinhalb Stunden. In einer halbstrukturierten Interviewführung wurden folgende Fragenkomplexe angesprochen:

  • Beschreibung der Arbeitsstelle und der auszuführenden Tätigkeiten

  • Schulischer und beruflicher Werdegang des Befragten

  • Soziales Arbeitsumfeld

  • Motivation zur Arbeitstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt

  • Wahrgenommene Konsequenzen der beruflichen Tätigkeit außerhalb der Arbeit

  • Bei Personen, die Arbeitserfahrung im Geschützten Bereich hatten: wahrgenommene Veränderungen.

Bei Fragestellungen, die von den befragten Personen mit einer Lern- oder geistigen Behinderung nicht beantwortet werden konnten, wurden, wo dies möglich war, Informationen von den Eltern bzw. nahen Bezugspersonen eingeholt. Unabhängig davon wurde den Eltern eine Liste von Vor- und Nachteilen zum Rating vorgegeben.

Beschreibung der Stichprobe

Das durchschnittliche Alter der Befragten betrug zum Zeitpunkt der Untersuchung 29 Jahre. 43 Personen (81%) sind männlich, 10 (19%) weiblich. Außer einer Person, die eine Hauptschule besucht hat, sind alle Befragten Abgänger der Allgemeinen Sonderschule (ASO), wobei 10 Personen (19%) angeben, einige Jahre in eine Volksschule gegangen zu sein. 15 Personen haben in der Vergangenheit eine Lehre besucht (28%), die aber in keinem Fall abgeschlossen wurde. 35 Personen (64%) arbeiten, bevor sie eine Tätigkeit in der freien Wirtschaft annahmen, in einer Beschäftigungseinrichtung für Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung.

88% der Befragten arbeiten an einem dauerhaften Arbeitsplatz, 5 Personen (9%) absolvierten zum Zeitpunkt der Erhebung gerade die Probezeit, eine Person war an einem zeitlich befristeten Arbeitsplatz tätig. Die meisten Personen (81%) sind über ein Jahr an demselben Arbeitsplatz tätig, 7 (darunter alle in Probe befindlichen) weniger als 3 Monate. 9 Personen sind teilzeitbeschäftigt, eine arbeitet im Schichtdienst.

Für die Hälfte der Befragten ist der gegenwärtige Beruf der erste Arbeitsversuch in der freien Wirtschaft. Personen, die in der Vergangenheit den Arbeitsplatz gewechselt haben, wechseln zumeist gleichzeitig die Art des Berufs, nicht selten auch die Branche; nur in 2 von 27 Fällen decken sich die Tätigkeiten.

Ergebnisse

Charakterisierung der ausgeübten Berufe

Es handelt sich bei den Berufen zumeist um einfache Anlern- oder Hilfstätigkeiten, die eher unselbständig, d.h. unter ständiger Anleitung und Kontrolle ausgeführt werden (vgl. Tabelle 1). Nur bei 10% der Arbeitsstellen ist größere Selbständigkeit erforderlich. Mehr als die Hälfte der Befragten hingegen erhält täglich Anleitungen und wird auch täglich kontrolliert. Kontrolliert wird dabei primär die Genauigkeit der Arbeitsausführung (75%), weniger die Geschwindigkeit der Durchführung (30%). 28% der Arbeiten beinhalten körperlich schwere Tätigkeiten, in 13% der Fälle muß unter Zeitdruck gearbeitet werden, 17% der Berufe beinhalten Arbeiten im Freien. Lärm (8%) und Gefahr (4%) sind selten.

Aufräumkraft im Restaurant

Helfer(In) in einem Baumarkt

Automechanikergehilfe(In)

Helfer(in) in der Müllabfuhr

Bäckergehilfe(In)

Helfer(In) in einer Konservenfabrik

Bauhilfsarbeiter(In)

Küchengehilfe(In)

Buchbindereigehilfe(In)

Lagerarbeiter(In)

Forsthelfer(In)

Raumpfleger(In)

Fußbodenlegerhelfer(In)

Regalbetreuer(In)

Gehilfe(In) in einer Blumenbiderei

Sägewerksgehilfe(In)

Gehilfe(In) in einer Zimmerei,

Schneidereigehilfe(In)

Gemeindearbeiter(In)

Staplerfahrer(In)

Helfer(In) in einem Altenheim oder Spital

Tapeziererhelfer(In)

Helfer(In) bei der Gebäudereinigung

Tischlereihhelfer(In)

Helfer(In) in einer Kleiderreinigung

Verpackungsgehilfe(In)

Helfer(In) in der Landwirtschaft

Wäschereigehilfe(In)

Helfer(In) in der Malerei

 

Helfer(In) in der Nahrungsmittelerzeugung

 

Zufriedenheit mit der Arbeit

Die Gespräche mit Betroffenen und ihren Angehörigen wiesen sehr deutlich auf die positiven Seiten, die eine Berufstätigkeit an einem regulären Arbeitsplatz auch für Personen mit einer Lern- oder einer leichten geistigen Behinderung mit sich bringt, hin. Menschen mit diesen Beeinträchtigungen sind, haben sie einmal den Sprung in die freie Wirtschaft geschafft hoch motiviert und sehen wesentlich mehr Vorteile als Nachteile in ihrer Beschäftigung. So sagen von 53 befragten Arbeitnehmern mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung 21 Personen, daß sie mit ihrer Arbeit und den Kollegen zufrieden sind; nur 3 Personen äußern explizit Unzufriedenheit. Die Tätigkeiten, die sie ausüben, bereiten den Befragten Freude und bringen Befriedigung; dies wird von 72% als ein wesentlicher Vorteil ihres Berufs genannt.

Besonders im Vergleich von Berufstätigkeit in der freien Wirtschaft und einer Beschäftigung im geschützten Bereich, also in einer speziellen Beschäftigungseinrichtung für behinderte Menschen, zeigt sich für die genannten Personen der volle Gewinn, der letztlich aus der Entscheidung resultiert, das Risiko einer Berufstätigkeit abseits der Sondereinrichtungen auf sich zu nehmen. Kein einziger der Befragten ist mit der Arbeit im Betrieb weniger zufrieden als mit der Tätigkeit in der Beschäftigungseinrichtung. Für die meisten Personen ergibt sich eine Verbesserung, nur 2 Personen (von 33, die aus dem geschützten Bereich übergewechselt haben) sehen für sich keinen Unterschied dies, obwohl die Hälfte dieser Personen eine deutlich größere Belastung, etwa durch körperlich schwere Tätigkeiten oder Arbeit unter Zeitdruck, erlebt.

Wir wollen diese Veränderungen an einem Fallbeispiel verdeutlichen:

Herr X, 21 Jahre alt, arbeitete seit dem Ende der Schulzeit - er hat die Allgemeine Sonderschule besucht - in einer Beschäftigungstherapieeinrichtung für Menschen mit einer geistigen Behinderung in verschiedenen Bereichen (Tischlerei, Malerei, Töpferei, Küche). Vor einem Jahr erhielt er die Möglichkeit, als Gehilfe in einem Modehaus auf einem regulären Arbeitsplatz zu arbeiten. Er ist dort hauptsächlich für die Abholung und das Einsortieren von Waren und für verschiedene Reinigungsarbeiten zuständig. Im Vergleich zum geschützten Bereich findet Herr X seine Arbeit zwar körperlich und psychisch anstrengender, dennoch erlebt er das Arbeitsumfeld insgesamt als weniger belastend, vor allem deshalb, weil die Tätigkeiten, die er dort ausübt, für ihn befriedigender sind als in der Beschäftigungstherapieeinrichtung und er das Gefühl hat, "auf eigenen Beinen zu stehen". Was er besonders hervorhebt, ist der Umstand, daß er gut mit den nichtbehinderten Kollegen zurecht kommt. Er fühlt sich akzeptiert und gleichwertig, trifft auch nach eigenen Angaben häufig Kollegen außerhalb der Arbeitszeit, d.h. in der Freizeit.

Soziale Integration

Im Sinne einer sozialen Integration sind vor allem die Interaktionen am Arbeitsplatz bzw. der Umgang mit Kollegen bedeutsam. Es zeigt sich nicht nur für den beschriebenen Einzelfall, sondern für die meisten Befragten ein relativ günstiges Bild. So verbringen etwa 76% der Befragten die Arbeitspausen mit Kollegen, 45% beteiligen sich dabei zumeist aktiv an Gesprächen. Nur 6 Personen (12%) bleiben während der Pausen alleine (drei von ihnen arbeiten allerdings auch allein und haben selten Kontakt mit Kollegen). 50% treffen Kollegen auch privat und in der Freizeit, 7% sogar "häufig". Dieser Kontakt ist für die meisten (63%) der Befragten auch angemessen, 1/3 wünscht sich mehr privaten Kontakt, 4% weniger. Für etwa 2/3 sind Kollegen auch Ansprechpartner bei persönlichen Problemen. Ähnliches gilt für die Vorgesetzten. Nur etwa 11% der Befragten fällt es "eher schwer" oder "sehr schwer", Vorgesetzte hinsichtlich persönlicher Probleme, aber auch hinsichtlich Probleme am Arbeitsplatz anzusprechen. Die Befragten erleben die Vorgesetzten in erster Linie als in arbeitsrelevanten Dingen engagiert, die über wichtige Dinge informieren (93%) oder auch Hilfestellungen geben, wenn nötig (89%).

Dem steht allerdings der Umstand gegenüber, daß 60% der Befragten über gelegentliche Konflikte am Arbeitsplatz berichten, in erster Linie Auseinandersetzungen mit Kollegen. Art und Dauer dieser Auseinandersetzung sind sehr unterschiedlich, es berichten aber 2 Personen von 53 Befragten, sich bei diesen Streitereien auch zu ängstigen. Zumeist versuchen sich die Befragten bei Auseinandersetzungen, die sie nicht persönlich betreffen, herauszuhalten, ein Fünftel aber wird nach eigener Aussage leicht wütend und reagiert dann unter Umständen auch aggressiv. Zudem fühlt sich ein relativ großer Teil der Befragten (43%) von den Kollegen nicht voll akzeptiert.

Ansichten von Eltern und Bezugspersonen

Daß es sich bei den positiven Aussagen der Arbeitnehmer (vor allem der aus dem "geschützen" Bereich übergewechselten) nicht in erster Linie um eine Rechtfertigung des persönlichen Aufwandes und Risikos handelt, zeigt ein Vergleich mit den Aussagen der Eltern und Bezugspersonen der behinderten Arbeitnehmer. Eltern dürften hier eine recht valide Auskunftsquelle sein, sehen sie doch im allgemeinen Vorteile und Nachteile der beruflichen Integration wesentlich schärfer als andere Gruppen (vgl. Schabmann, Klicpera & Rauter, 1996b), d.h. für sie gibt es eindeutig positive Seiten, aber eben auch eindeutig negative Aspekte, wie etwa das Problem der möglichen Ausgrenzung am Arbeitsplatz (ein Problem, das nach Aussagen der unmittelbar betroffenen Personen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung in dieser Form eher selten besteht, wenngleich es Konflikte gibt). Die Eltern berichten zum Großteil über positive Veränderungen durch die Berufstätigkeit (unabhängig, ob direkt im Anschluß an die Schule eine Stelle in der freien Wirtschaft angenommen wurde, oder ob die betreffende Person zwischenzeitlich im "geschützten" Bereich tätig war). Bei 81% wurden Änderungen in der Lebenssituation wahrgenommen. In erster Linie und am häufigsten genannt ist dies die Verfügbarkeit eigenen Geldes (56%), aber auch die Möglichkeit, mehr Freiheit zum Eingehen einer partnerschaftlichen Beziehung zu haben (38%). Ein Viertel der befragten Bezugspersonen nimmt außerdem eine Ausweitung des Freundeskreises bei den berufstätigen Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung wahr, ebenso viele sehen bessere Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Dennoch meinen nur etwa 44% der Bezugspersonen, künftig sei es auch möglich, daß der Angehörige eigenständig wohnen könnte, wobei 80% hier davon ausgehen, daß zusätzliche finanzielle Unterstützung (durch die Eltern) notwendig sei.

Auch bei Herrn X kam es mit dem beruflichen Wechsel zu einigen Veränderungen im privaten Umfeld, von denen die hervorstechendste der Wechsel von einem Wohnheim in eine sehr viel kleinere Wohngemeinschaft ist, wo er wesentlich mehr Freiheiten genießen kann und sich nicht an die relativ strengen Bedingungen des Heimlebens anpassen muß.

Zudem konstatiert er für sich einige persönliche Veränderungen. So meint er, in der Arbeit mehr Ausdauer zu besitzen, weniger Fehler zu machen, vor allem aber allgemein an Selbstvertrauen und Zuversicht gewonnen zu haben.

Beweggründe für einen Arbeitsversuch am regulären Arbeitsmarkt:

Was sind nun die bedeutsamsten Beweggründen dafür, den Versuch zu unternehmen, in der freien Wirtschaft unterzukommen? Die hauptsächlich genannten Motive sind das Erleben größerer persönlicher Freiheit, die bei einer regulären Beschäftigung durch die Umwelt (vor allem die Eltern und Bezugspersonen) eher zugestanden wird, sowie wahrgenommene positive Auswirkungen auf das Selbstbild, d.h. eine größere Selbstsicherheit, aber auch die Freude an der Arbeit und die Möglichkeit, selbst für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Wichtig ist den Befragten auch der Kontakt zu anderen (betriebsinternen oder betriebsfremden) Personen (Abbildung 1). Vor allem Personen, die zuvor in einer speziellen Einrichtung für behinderte Menschen beschäftigt waren, sehen darin eine Loslösung vom Status des "abhängigen Behinderten".

Abb1: Was ist an der Arbeit motivierend? Vergleich zwischen Personen, die zuvor in Werkstätten für Behinderte gearbeitet haben und solchen, die keine derartigen Erfahrungen haben (Ankerpunkte: 0 = "nicht wichtig", 1 = "eher nicht wichtig", 2 = "eher wichtig", 3 = "wichtig").

Von eher untergeordneter Bedeutung ist die Einstellung der Familie zu einer Arbeitstätigkeit (d.h. der Wunsch zur Aufnahme der Tätigkeit kam in erster Linie von den direkt Betroffenen) und die von Beratern (Beratern des AMS, Beratern in den Werkstätten) sowie das allgemeine Anliegen, etwas Nützliches für die Gemeinschaft beizutragen. Letzteres, wie auch die Einstellungen und Wünsche der Familie, ist jedoch für Personen, die keine Erfahrungen aus Werkstätten für Menschen mit Behinderungen haben, wesentlich bedeutsamer als für diejenigen Befragten, die in der Vergangenheit in einer solchen Einrichtung tätig waren, während z.B. die Freude an der (neuen) Tätigkeit tendenziell für jene, die aus dem "geschützten" Bereich kommen, bedeutsamer ist.

Hilfen beim Eintritt in das Berufsleben

Neben dem subjektiven Erleben der Arbeitswelt ist ein wesentlicher Aspekt bei Bemühungen zur beruflichen Integration von Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung das Ausmaß an Hilfestellungen und Unterstützungen, die dem Betreffenden zuteil werden.

Ein Drittel der Befragten erhielt in der Vergangenheit keinerlei Aufklärung über berufliche Möglichkeiten. Bei den übrigen waren es in erster Linie die Lehrer an den Sonderschulen (36%) und die Berater in den Regionalstellen des AMS (36%), von denen Aufklärung gegeben wurde; bei ca. 19% waren es nach eigenen Angaben Mitarbeiter der Sozialämter und bei 8% Betreuer in den Werkstätten. Obwohl die Werkstättenbetreuer also zumeist nicht stark bei der Beratung der Befragten hinsichtlich beruflicher Möglichkeiten außerhalb des eigenen Bereichs engagiert sind, so waren sie bei immerhin 38% der Befragten ausschlaggebend beim Auffinden der aktuellen Stellung (gegenüber 4% Sonderschullehrer, 8% Regionalstellen des AMS und 51% Eigeninitiative der Befragten bzw. ihrer Angehörigen). Dies zeigt, daß ein Teil der Mitarbeiter in den Einrichtungen für Menschen mit einer Behinderung zwar bemüht ist, den Klienten beim Überwechsel in die freie Wirtschaft behilflich zu sein, Beratungskompetenz jedoch fehlt, was allerdings auch nicht primär als Aufgabenstellung in der Betreuung wahrgenommen wird (vgl. Lengauer, 1994).

Betrachtet man, welche Personengruppe jeweils welche Art von Empfehlungen hinsichtlich der beruflichen Karriere der Befragten gegeben hat, so sieht man trotz der kleinen Stichprobe die deutliche Tendenz, wonach es vor allem die Mitarbeiter in den Regionalstellen des AMS sowie die Sonderschullehrer sind, die Arbeitsintegration empfehlen, während die Mitarbeiter in den Sozialämtern und die Betreuer deutlich dem geschützten Bereich den Vorzug geben (Tab.2). Interessant ist auch zu vermerken, daß von den Personen, denen als Berufsmöglichkeit der geschützte Bereich empfohlen wurde, kein einziger direkt - also ohne zuvor eine Werkstätte zu besuchen - einen Arbeitsversuch in der freien Wirtschaft unternommen hat.

Tab.2: Empfehlungen von verschiedenen Institutionen hinsichtlich beruflicher Möglichkeiten

Angaben in %

Lehrer

AMS

Werkstätten

Sozialämter

Empfehlung Werkstätten

15,4

7,7

66,7

71,4

Empfehlung regulärer Arbeitsmarkt

84,6

92,3

33,3

28,6

Die Art und Weise, wie die Aufklärung über Berufsmöglichkeiten durchgeführt wird, ist relativ eingeschränkt. Im allgemeinen wird zwar global über in Frage kommende Berufe gesprochen, eine genaue Beschreibung der Anforderungen und der zu erwartenden Tätigkeiten konnte bei 70% der Befragten, die Beratung erhalten haben, allerdings nicht gegeben werden.

Diskussion

Nach den vorliegenden Ergebnissen kann insgesamt kein Zweifel bestehen, daß die Integration in Berufe der freien Wirtschaft für Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung ein wesentlicher Schritt in Richtung auf ein unabhängiges, eigenverantwortliches Leben bedeutet. Wenngleich auch bestimmte Probleme berichtet werden, überwiegen positive Äußerungen, sowohl von Seiten der direkt Betroffenen, als auch von Seiten ihrer Angehörigen und Bezugspersonen. Mit der Veränderung am Arbeitsplatz bzw. der Berufstätigkeit gehen häufig als positiv erlebte Veränderungen im Freizeit- und Wohnbereich Hand in Hand.

Sicherlich bedeutet der Schritt in die Berufstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt für viele Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung ein Risiko. Die Belastungen in diesem Arbeitsfeld sind in der Regel höher als etwa im "geschützten" Bereich. Dazu kommt das Risiko des Scheiterns und auch das Risiko eines (unverschuldeten) Verlusts der Arbeitsstelle. Daß dennoch die Grundaussagen betroffener Personen im Tenor positiv sind, zeigt das Potential an persönlicher Weiterentwicklung für den Einzelnen durch die Bemühungen um berufliche Integration.

Trotzdem und gerade, weil es sich bei der hier untersuchten Stichprobe zu einem guten Teil um Personen handelt, die schon länger im jeweiligen Betrieb arbeiten, und von denen angenommen werden kann, daß sie den "Arbeitsversuch" erfolgreich unternommen haben, sind einige Probleme nicht zu ignorieren. Die Befragten nennen hier in erster Linie Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten. Diese können durch bessere Information künftiger Arbeitskollegen des Bewerbers abgeschwächt werden. Zudem steht heute außer Zweifel, daß die berufliche Integration der Gruppe von Personen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung bei einem größeren Teil auf lange Sicht nur gelingen kann, wenn das Angebot einer zusätzlichen Begleitung im Sinne eines "Supported Employment" (Rush, 1990) bzw. einer "Arbeitsassistenz" (vgl. z.B. Uitz, Klicpera & Schabmann, 1992). besteht.

Eine weitere Voraussetzung besteht in der gezielten Vorbereitung und damit auch in der Information über Berufe, die für den Einzelnen in Frage kommen. Dieses Anliegen wird umso deutlicher, als sich zeigt, daß nur ein sehr geringer Teil der befragten Personen ausreichend über künftige Berufsmöglichkeiten informiert wurde. Hier gibt es seit langem entsprechende Zusammenfassungen von möglichen Berufen (Peterson & Jones, 1964), die für österreichische Verhältnisse adaptiert werden konnten (Schabmann, Klicpera & Rauter, 1996b). Weitere Entwicklungsschritte müssen folgen etwa eine gezielte, auf die jeweiligen in Frage kommenden Berufe abgestimmte Eignungs- und auch Interessensdiagnostik. Bedenklich stimmt in diesem Zusammenhang auch die in den verschiedenen Einrichtungen unterschiedliche Neigung, einem Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung den Weg auf den regulären Arbeitsmarkt zu empfehlen. Diese scheint eher von den Grundannahmen der einzelnen Organisationen (AMS, Betreuungseinrichtungen, Sonderschulen) abhängig, als von den individuellen Möglichkeiten und Kompetenzen des Menschen mit einer Behinderung. Hier sollten durchaus im Sinne qualitätshebender Maßnahmen einheitlichere Richtlinien und Entscheidungskriterien entwickelt werden.

Literatur

Fass, A.; Ulm-Emmerling, S.; Klicpera, Ch. u. Schabmann, A.: Berufliche Integration lern- und geistigbehinderter Menschen am freien Arbeitsmarkt - Die Sicht der Betriebe. In: I. Ramsauer, C. Posch und C. Nuener (Hrsg.) Lebensqualität und Heilpädagogik - Wissenschaft und Praxis. Kongreßbericht des 9. Heilpädagogischen Kongreß. Höbersdorf: Verlag Kaiser, 1993 (S. 109-114).

Lengauer, D. : Die Rolle der Beschäftigungseinrichtungen für Behinderte bei der Integration lern- und geistig behinderter Menschen. Diplomarbeit an der Universität Wien, 1994.

Peterson, R. O. und Jones, E. M.: Guide to Jobs for the Mentally Retarded (Revised Edition). American Institutes for Research, 1964.

Rush, F. R. (Hrsg.): Supported Employment - Models, Methods, and Issues. Sycamore, IL: Sycamore, 1990.

Schabmann, A. und Klicpera, Ch.: Arbeitsintegration von Menschen mit einer Lern- bzw. geistigen Behinderung - Endbericht an das Bundesministerium für soziale Angelegenheit. Wien: Abteilung für angewandte und klinische Psychologie, 1996a.

Schabmann, A. und Klicpera, Ch.: Berufswahlvorbereitung und Berufseinstieg von Jugendlichen mit einer Lern- bzw. leichten geistigen Behinderung. Heilpädagogik, 3, 2-12, 1996b.

Uitz, S.; Klicpera, Ch. und Schabmann, A.: Integration von geistig- und lernbehinderten Menschen in die Arbeitswelt. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 15 (5) 69-77, 1992.

Die Auroren:

Univ.-Ass. Mag. Dr. Alfred Schabmann

Geb. 1960 in Wien, Studium der Psychologie in Wien, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe, Univ.-Ass. am Institut für Psychologie der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Unterstützung von Menschen mit einer geistigen Behinderung, Schulleistungsschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen, Psychologische Unterstützung von Diabetespatienten.

Univ.-Doz. Dr. med. Dr. phil. Christian Klicpera

Geb. 1947 in Wien, Studium der Medizin und Psychologie in Wien und Salzburg, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Klinischer Psychologie. Längere Zeit in der Erwachsenen- sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München sowie am Children's Hospital, Harvard Medical School in Boston tätig. Seit 1982 Assistent am Psychologischen Institut der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Frühkindlicher Autismus, Unterstützung von Menschen mit geistiger Behinderung, Lese- und Schreibschwierigkeiten sowie soziale Anpassungsschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen.

Universität Wien

Abteilung für Angewandte und Klinische Psychologie

Neutorgasse 13/2

A-1010 Wien

Quelle:

Alfred Schabmann, Christian Klicpera: Erleben von Berufstätigkeit

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/1998; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.02.2005

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