Systemische Therapie mit geistig behinderten Menschen

Autor:in - Wilhelm Rotthaus
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Heft 4, 1996, S. 45-52 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/1996)
Copyright: © Wilhelm Rotthaus 1996

Einleitung

Systemische Therapie bedeutet die Anwendung einer systemischen Perspektive auf den sozialen Vorgang Psychotherapie. Dies ist nicht losgelöst zu denken von einem systemischen Menschenbild und einer systemischen Sicht von psychischer Krankheit, Verhaltensstörung, Verhaltensauffälligkeit. In einer früheren Arbeit (Rotthaus 1993) ist versucht worden, ein solches systemisches Menschenbild zu skizzieren und darauf aufbauend zu zeigen, daß geistig behindertes Verhalten ebenso wie gestörtes, auffälliges, krankes Verhalten eine Beobachterkategorie darstellt, für die der Beobachter Verantwortung trägt. Auf der anderen Seite ist der geistig behinderte Mensch - wie jeder andere - als autonom Handelnder für sich selbst verantwortlich; dies macht seine menschliche Würde aus, die die Würde des Risikos einschließt.

Auf diese Überlegungen aufbauend, die hier nicht näher erörtert werden, sollen im folgenden einige wenige Grundsätze systemisch-therapeutischen Denkens skizziert und typische systemtherapeutische Konstellationen in der Arbeit mit psychisch gestörten oder auffälligen geistig Behinderten dargestellt werden.

Grundsätze der Systemtherapie

Systemisches Denken in Anwendung auf Psychotherapie bedeutet, das Verhalten des Individuums innerhalb des für ihn relevanten Interaktionsbereiches zu verstehen und eine Verhaltensänderung über eine Beeinflussung aller Mitglieder dieses Interaktionsbereiches zu erreichen. Das heißt nicht, daß sich das Verhalten des einen kausal aus dem Verhalten des anderen im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas ableiten ließe. Erst auf der abstrakteren Metaebene der Regeln lassen sich die Interaktionen aller klassifizieren. Damit ist keinerlei deterministische Ursache-Wirkungsbeziehung erfaßt, der konkrete Verlauf ist nicht vorhersagbar. Es können jedoch Wahrscheinlichkeitsaussagen über das gemacht werden, was passieren kann. Insofern muß vor einem der häufigsten und verhängnisvollsten Fehler in der Arbeit mit Familien gewarnt werden, nämlich der - möglicherweise noch nicht einmal ausgesprochenen - Vorstellung, die Familie verursache die Schwierigkeiten des geistig Behinderten bzw. habe sie verursacht. Solche Fehlannahmen entstehen durch die Übernahme eines linearen Ursache-Wirkungs-Denkens auf ein größeres Feld, nämlich die Familie. Die Gruppe um Goolishianformulierte sinngemäß: Nicht das Problemsystem, also die Menschen, die mit dem Problemverhalten beispielsweise eines geistig Behinderten befaßt sind, schafft das Symptom, sondern das Symptom schafft das Problemsystem (Anderson, Goolishian, Windermand 1986; Goolishian, Anderson 1987).

Aus systemischer Sicht ist zudem die Frage nach dem "Warum" eines bestimmten schwierigen oder problematischen Verhaltens prinzipiell nicht beantwortbar. Die Beantwortung dieser Frage ist zum anderen aber auch nicht notwendige Voraussetzung für Therapie. Wichtiger und interessanter ist die Frage nach dem "Wozu", nach der Funktion und dem Sinn des Symptoms. Diese Frage erschließt den Zugang zu den "Spielregeln" eines Problemsystems, die offensichtlich mit der Entwicklung des Systems nicht Schritt gehalten haben. Ziel der Therapie ist es dann, den Systemmitgliedern neue Möglichkeiten zu eröffnen, die erstarrten und im Verlaufe des Entwicklungsprozesses nicht mehr angemessenen Spielregeln zu verändern. Eine derartige Veränderung von Spielregeln ist möglich, indem der Therapeut im Kontakt mit dem Problemsystem bestimmte Spielzüge nicht mehr ausführt und statt dessen andere vollzieht oder indem er ihm dysfunktional erscheinende familiäre Muster bzw. ihm einschränkend erscheinende familiäre Ideen stört und eine Außenperspektive einführt.

Systemtherapeutische Konstellationen

Systemisches Denken eröffnet dem Berater oder Therapeuten[1] die Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Ebenen zu fokussieren: So kann er seinen Blick richten auf die Familie des geistig behinderten Mitglieds im allgemeinen gesellschaftlichen Kontext oder im Kontext der mit dieser jeweiligen Familie befaßten helfenden Institutionen, er kann auf den geistig behinderten Menschen im Kontext seiner Familie oder seiner Heimgruppe schauen oder er kann ein bestimmtes Verhalten im Zusammenhang aller Verhaltensweisen eines Individuums als Ausdruck seiner biologischen Voraussetzungen betrachten. Der Vorteil in der Wahl eines größeren Kontextes liegt darin, daß die Interaktionen offen liegen und relativ gut zu beobachten sind und daß deshalb relativ leicht die jeweiligen Spielregeln des Systems in seinem Kontext erfaßt werden können. Der vielleicht entscheidendere Vorteil für den Therapeuten liegt bei der Arbeit mit größeren Systemen jedoch darin, daß er mit seinen Interventionen sich nicht nur an den behinderten Menschen richtet, sondern an zahlreiche andere Personen, wodurch seine Einflußmöglichkeiten steigen und damit die Chance, Änderungen zu erreichen. Im folgenden sollen einige Konstellationen und Muster auf den verschiedenen Ebenen beschrieben werden, die bei auffälligem, störendem und krankem Verhalten von geistig behinderten Kindern und Erwachsenen häufig zu beobachten sind.



[1] Im Gespräch mit dem Behinderten und seinen Angehörigen vermeiden wir das Wort "Therapeut", weil es allzuleicht die Vorstellung suggeriert, der Mensch oder die Familie seien nicht in Ordnung, defizitär, krank oder ähnliches. Statt dessen bevorzugen wir das Wort Gesprächsleiter und führen Familiengespräche (statt Familientherapie) durch.

Die Familie des geistig Behinderten im gesellschaftlichen Kontext

So wie der geistig behinderte Mensch Mitglied seines Familiensystems ist, ist die Familie selbst wiederum Mitglied eines größeren Systems, nämlich der gesellschaftlichen, sozialen Umwelt, ihrer Einstellungen und Haltungen geistig Behinderten gegenüber, ihren politischen, sozialen und ökonomischen Einflüssen. Letztere können zuweilen ganz im Vordergrund stehen, so daß die Hilfe bei der Suche einer größeren Wohnung oder eine regelmäßige finanzielle Unterstützung möglicherweise die wichtigsten Maßnahmen angesichts des Problemverhaltens des geistig behinderten Mitglieds sind. Für die Familie mit einem geistig behinderten Mitglied gelten im übrigen dieselben Beschreibungen, wie sie für den geistig behinderten Menschen selbst zu formulieren sind. Sie ist zwar einerseits Teil der Gesellschaft und beeinflußt diese. Andererseits wird ihr eigener Handlungsspielraum durch die Gesellschaft begrenzt. Auch hier findet ein rekursiver Wechselwirkungsprozeß statt, der oft zur Folge hat, daß die Familie den Behinderten zu verbergen sucht, ihn an jeder "normalen" Interaktion mit der Gemeinde hindert, daß die Familie sich schämt und ihre eigenen sozialen Kontakte weitestgehend einschränkt. Damit wird sie abgeschottet bzw. schottet sich ab vor Anregungen und Impulsen aus der sozialen Umwelt, die üblicherweise die Weiterentwicklung von Familien und ihren Mitgliedern stimulieren. In der Folge können sich Verhaltensweisen und familiäre Regeln zunehmend skurriler Art entwickeln, deren "wahrer Ursprung" - familiär oder gesellschaftlich bedingt - im Einzelfall kaum aufzudecken ist. Hier hat der Berater/Therapeut die Möglichkeit, die Außenperspektive wieder einzuführen, nicht nur über seine Person, sondern durch Anregung von allzulang vernachlässigten Außenkontakten.

Die Familie des geistig Behinderten im Kontext der helfenden Institutionen

Die wichtigsten, zuweilen sogar noch die einzigen Kontaktpersonen für Familien mit einem geistig behinderten Mitglied sind die Helferinnen und Helfer aus unterschiedlichen professionellen Institutionen wie dem Jugendamt, dem Gesundheitsamt, der Schule, der Klinik oder der Heimgruppe. Solche Helferinnen und Helfer haben jedoch nur allzuoft die Tendenz, den Familien die Verantwortung abzunehmen, wodurch sie sie entmündigen. Andere neigen dazu, den geistig behinderten Kindern ihre Eltern "wegzunehmen", indem sie diese zu Therapeuten machen. Vor allem aber entsteht um solche Familien häufig ein Helfersystem, dessen Mitglieder wechselseitig ihre Handlungen nicht abstimmen, den Familien vielfach widersprechende Anweisungen und Ratschläge geben, Verunsicherung und Verwirrung auslösen und die Kompetenz der Familienmitglieder im Umgang miteinander untergraben. Der oft krasse Widerspruch zwischen den Klagen der Familien über unzureichende Hilfe einerseits und der großen Zahl an Helfern rings um diese Familien andererseits erscheint als ein beredter Hinweis darauf, daß hier Dinge nicht gut laufen - vor allem wahrscheinlich in dem Sinne, daß Unterstützung, Rat, Therapie seitens der Helfer nicht konsequent als Dienstleistungsangebot verstanden wird, von dem Familien, die Kunden der Helfer, in eigener Verantwortung als ihre eigenen "case manager" Gebrauch machen können oder auch nicht. Auch hier fehlt es häufig - wie in dem Verhältnis zum geistig Behinderten selbst - an Respekt vor der Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des jeweiligen Partners. Evan Imber-Black (1987, 432ff.) hat auf zahlreiche weitere Konstellationen aufmerksam gemacht. So hat sie sehr anschaulich beschrieben, wie Helfer in Prozessen eskalierender Komplementarität das anfängliche Gefühl von Hilflosigkeit in Familien angesichts der Tatsache, ein behindertes Kind zu haben, mehr und mehr vergrößern, weil sie die Ressourcen der Familie nicht wahrnehmen, sondern Hilfen ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Wünsche der Familienmitglieder leisten, bis diese sich selbst als abhängig von einer Fülle von Helfern und Helfersystemen beschreiben. Eine derartig eskalierende Komplementarität führt häufig zu einer ständigen Vergrößerung des Systems dadurch, daß sich ihm immer mehr Helfer und Spezialisten anschließen. Umgekehrt schildert sie, wie Helferinnen und Helfer, wenn sie Direktiven geben, ohne die eigentümlichen und speziellen Lösungsversuche dieser Familie zu beachten und wertzuschätzen, in einen Prozeß eskalierender Symmetrie mit einer Familie geraten können, in dem jeder seine Ideen und Handlungsmaximen durchzusetzen versucht. Es resultieren dann heftige Kämpfe darüber, wer es am besten kann und weiß, sowie wechselseitige Schuldvorwürfe. Die Familie und das Helfersystem distanzieren sich immer mal wieder über gewisse Zeiten voneinander und beschneiden sich wechselseitig wichtiger Informationen, nur um sich nach kurzer Zeit in einen erneuten symmetrischen Streit über ein anderes Thema zu stürzen.

Schließlich weist Imber-Black darauf hin, daß die oben beschriebenen widersprüchlichen Anweisungen und Ratschläge von verschiedenen Helfersystemen oder auch ein symmetrischer Streit innerhalb eines Helfersystems sich nicht selten in gleichartigen Verhaltensmustern zwischen der Mutter und dem Vater des geistig behinderten Jugendlichen widerspiegeln, die unfähig sind, zusammenzuarbeiten und angemessene Pläne für die weitere Entwicklung und Betreuung ihres Kindes zu entwickeln. Derartige Prozesse wahrzunehmen mag den Berater/Therapeuten vor allzu leichtfertigen Schuldzuschreibungen bewahren und Ansätze aufzeigen, wie flexiblere und nützlichere Verhaltensmuster angeregt werden können.

Ist ein geistig behindertes Kind in einem Heim untergebracht, wird es nicht selten in tiefe Loyalitätskonflikte zwischen den Gruppenerziehern und seinen Eltern verstrickt, die es nur durch heftiges, aggressives Ausagieren zu äußern vermag. Dies geschieht, wenn die Heimerzieher versuchen, bessere Eltern zu werden als die wirklichen Eltern, und sich nicht auf die bescheidene Position des Delegierten der Eltern zurückziehen, die im Auftrag der Eltern das Kind oder den Jugendlichen betreuen und fördern (Rotthaus 1990a). Natürlich benötigen Familien mit einem geistig behinderten Mitglied oft Hilfe und Unterstützung. Sie sollten jedoch erwarten können, daß die Helfer sich gut koordinieren und daß die helfende Beziehung prinzipiell von Gleichheit, Partnerschaft und wechselseitiger Bezogenheit gekennzeichnet ist, d.h. eine Koevolution stattfindet, von der beide Seiten profitieren. Helfende Beziehungen sollten grundsätzlich zeitlich befristet sein und möglichst kurz dauern, um die Zuversicht und das Vertrauen der Familien in die eigenen Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten nicht zu gefährden. Die Helfer sollten sich als Dienstleister sehen, die mit aller Professionalität und allem emotionellem Engagement eine nach aktuellem wissenschaftlichem Erkenntnisstand bestmögliche Serviceleistung für ihre Kunden - Eltern eines Behinderten, Betreuer eines Behinderten und der Behinderte selber - erbringen, über deren Annahme und Nichtannahme die Kunden selbst entscheiden.

Noch eine weitere Änderung der Sichtweise ist von Bedeutung: Leider sind alle Helfer in langer Tradition sehr gut darin geschult, bei anderen Individuen und auch in Familien Defizite und Fehler zu erkennen. Demgegenüber sind sie zumeist gar nicht darin geübt, die Leistungen der von ihnen Betreuten und ihre Stärken zu sehen und möglicherweise verschüttete Ressourcen zu entdecken. Aber so wie es aus systemischem Denken zwingend ist, daß der einzelne geistig behinderte Mensch sich mit seinem Verhalten in der jeweiligen Situation aus subjektiver Sicht immer richtig und adäquat verhält - auch wenn dieses Verhalten von allen anderen als störend beurteilt wird und tatsächlich seine Entwicklung auf lange Sicht äußerst negativ beeinflußt -, so ist es auch sinnvoll, einer Familie mit der Annahme zu begegnen, daß ihr Verhalten gute Gründe hat (auch wenn man sie heute noch nicht sieht). Es ist wichtig, den Eltern als den Fachleuten für das Wohlergehen ihrer Familie entgegenzutreten, und es ist nützlich zu unterstellen, daß sie über die notwendigen Ressourcen, die für die weitere Entwicklung der ganzen Familie wichtig sind, verfügen, auch wenn sie sie bisher noch nicht genutzt haben. Der Therapeut sieht die Familienmitglieder dann im Sinne von Hargensnicht nur als die Kunden, sondern zugleich als die Kundigen. In einem akzeptierenden, anregenden und unterstützenden Kontakt mit dem Berater und Therapeuten ist es der Familie dann häufig möglich, diese eigenen Ressourcen wieder zu entdecken.

Der geistig behinderte Mensch im Kontext seiner Familie

Familien mit einem behinderten Mitglied haben dieselben Entwicklungsschritte mit ihren normativen Krisen zu durchleben wie "normale" Familien. Solche normativen Krisen schließen die Möglichkeit von Weiterentwicklung und Wachstum, aber auch von Stillstand und Fehlentwicklung ein. Für Familien mit einem behinderten Mitglied schließt diese Perspektive eine zusätzliche Dimension ein, weil jeder normative Übergang (z.B. Geburt, Einschulung, Pubertät, Ablösung) die Familie über längere Zeit mit Helfersystemen verbindet. Die Familien, so hebt Imber-Black (1987, 442) hervor, müssen sich dabei nicht nur in ihren innerfamiliären Beziehungen jeweils neu organisieren, sondern sie müssen dies zusätzlich tun in ihrem Verhältnis zu einer großen Zahl von außenstehenden Helfern. Das heißt: Familien mit einem behinderten Mitglied haben alle Krisen im Familienzyklus in doppelter Weise zu bewältigen, beispielsweise am Ende der Pubertät die Ablösung von dem jugendlichen Familienmitglied und zugleich die Ablösung von den Helfern. Es ist deshalb vielleicht verständlich, daß Helferinnen und Helfer häufig, wie Sheridan 1965, den Eindruck gewinnen, daß zu jedem behinderten Individuum auch immer eine behinderte Familie gehöre. Aber eine solche Sicht und Formulierungsweise führt leicht dazu, die andere Seite der Medaille, die große Leistung der Familienmitglieder, zu übersehen, und versperrt zumeist den Zugang zu den Familien, erschwert ihn zumindest.

Für viele Familien sind diese Übergänge im familiären Lebenszyklus aber auch die Zeitpunkte, an denen immer wieder von neuem Trauerarbeit geleistet werden muß über den Verlust des "normalen" Kindes, das sie erwarteten (Black 1982, Dornette 1985, Seligman, Darling 1989, Sloman, Konstantareas 1990 u.v.a.m.). Der aufmerksame Berater oder Therapeut kann die Notwendigkeit dieses Trauerns wahrnehmen und der Familie helfen, den Schmerz zuzulassen, sich seiner nicht zu schämen, sondern seine Berechtigung anzuerkennen. Dabei ist zu beachten, daß das behinderte Kind die verschiedenen Stadien der Entwicklung zumeist später erreicht als seine nichtbehinderten Altersgenossen. Sloman und Konstantareas(1990, 426) formulieren deshalb als eine ihrer "Richtlinien für die Familienarbeit": "Zu den normativen Krisenpunkten der Entwicklung, beispielsweise Einschulung, Beginn der Pubertät und der Zeitpunkt, an dem normale Kinder sich ablösen, sollten Sie darauf vorbereitet sein, die wieder aktualisierten Ängste, Befürchtungen und Anpassungsprozesse der Familien zu unterstützen, die sie möglicherweise zu vollziehen haben." Die Enttäuschung und der Verlust ihres Selbstbewußtseins in der Folge der Tatsache, daß sie ein behindertes Kind haben, die Konfrontation mit sozialer Isolierung und vielfältigen Vorurteilen und nicht zuletzt die hohen finanziellen und körperlichen Anforderungen sind schwere existentielle Belastungen, die die meisten Familien allerdings so weit bewältigen, daß sie mit ihren Kindern ein ziemlich "normales" Leben führen können Schubert, Tatzler1987). Trotzdem bleiben die Belastungen nicht ohne Folgen. So hat Schubert (1987) in einer empirischen Untersuchung eine deutlich schwächere Kohäsion und Adaptabilität in Familien mit einem behinderten Kind gegenüber der Kontrollgruppe nachgewiesen. Familien mit einem behinderten Kind geben häufiger "Familienschwächen" an als Familienmitglieder der Kontrollgruppe. "Die Probleme (,Schwächen') beziehen sich vor allem auf emotionale Bereiche. Schwierigkeiten zeigen sich im Austausch und Ausdruck von Gefühlen sowie in den affektiven Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern." (Schubert 1987, 88)

Schubert stellte in den Familien mit einem behinderten Kind eine signifikant schlechtere Paarbeziehung fest, besonders häufig nach dem Muster "peripherer Vater - verstrickte Mutter". "Der ,periphere' Vater nimmt in bezug auf das Familiengeschehen eine Randposition ein; er hat eine geringere Erziehungskompetenz inne und trifft auch weniger Entscheidungen in bezug auf die Familie. Seine Interessen sind außenorientiert. Die ,verstrickte' Mutter beschäftigt und orientiert sich hingegen besonders intensiv mit und an dem (behinderten) Kind; sie richtet ihr Leben ganz nach ihm aus ... Uneinigkeit in Erziehungsfragen, Konflikte und Entfremdung auf der Paarebene werden dadurch begünstigt." (Schubert 1987, 94)

Eine zweite häufige Variante ist das Muster "Zweiteilung der Familie": Der Vater wendet sich besonders intensiv einem bestimmten Kind zu, meist dem nichtbehinderten, die Mutter einem anderen, meist dem behinderten. Es bilden sich starre Subsysteme ... Dies wirkt sich störend sowohl auf das eheliche als auch auf das geschwisterliche Subsystem aus und begünstigt unter Umständen eine Verschlechterung der Beziehung zwischen Mann und Frau." (Schubert 1987, 94f.) Bemerkenswert ist das Ergebnis der Studie von Schubertim Hinblick auf die Situation der nichtbehinderten Geschwister: Während die Geschwister die Eltern-Kind-Beziehung als signifikant schlechter beurteilen, wird diese von den Eltern trendmäßig besser eingeschätzt. Dies mag Ausdruck dafür sein, daß Eltern behinderter Kinder ihren nichtbehinderten Kindern häufig zuwenig Aufmerksamkeit schenken können. Nichtbehinderte Kinder - besonders häufig die älteste Tochter (Black 1982) - müssen im übrigen oft Teile der realen zusätzlichen Aufgaben und Belastungen, die das behinderte Kind schafft, übernehmen. Nicht selten müssen sie aber auch all die elterlichen Hoffnungen und Wünsche zusätzlich tragen, die die Eltern ursprünglich mit dem behinderten Kind verbanden. So mag es nicht verwundern, daß Geschwister behinderter Kinder sich oft zu sehr eigenständigen Menschen mit starkem sozialem und humanitärem Engagement entwickeln, andererseits allerdings auch häufiger als andere Kinder Gefahr laufen, psychiatrisch auffällig zu werden.

Das störende Verhalten des geistig behinderten Menschen im Kontext des Individuums

Auch der systemische Berater/Therapeut wird es nicht versäumen, ein störendes Verhalten im Kontext der Stärken und Schwächen, der biologisch bedingten Einschränkungen des Individuums zu betrachten. Beispielsweise wird er Störungen der optischen und/oder akustischen Wahrnehmung feststellen und es gegebenenfalls für sinnvoll halten, Entwicklungsprozesse auf diesen Gebieten durch besondere Maßnahmen wie die Körper-Gestalttherapie (Besems, van Vugt 1985) oder die Aufmerksamkeits-Interaktionstherapie - AIT - (Hartmann, Kalde, Jakobs, Rohmann 1988) anzuregen. Zu beachten ist, daß auch diese, unserer Erfahrung nach bewährten, primär auf das behinderte Individuum ausgerichteten Verfahren Wirksamkeit aus der lebendigen Interaktion zwischen Behindertem und Therapeut erlangen. Aufmerksames Beobachten zeigt immer wieder, daß Verhalten sich nur in Beziehungen realisiert, unabhängig davon, wie sehr ein Individuum unter biologischem Aspekt über größere oder aber geringere Möglichkeiten verfügt. (Hartmann, Jakobs 1993)

Zusammenfassung

Systemtherapeutisches Arbeiten mit geistig behinderten Menschen unterscheidet sich nicht prinzipiell von der Arbeit mit Nichtbehinderten. Es ist aber von Vorteil für den Berater/Therapeuten, typische Konstellationen zu kennen, die sich häufig im Zusammenspiel zwischen dem behinderten Individuum, den Angehörigen und dem weiteren Kontext entwickeln. Zumeist verläßt der systemische Berater/Therapeut die Konzeption der psychischen Auffälligkeit als ein individuelles Problem, - ein Konzept, das in unserer westlichen Kultur eine sehr lange Tradition hat und bis ins Ende des Hochmittelalters zurückreicht (Rotthaus 1990 b). Statt dessen führt er das Verhalten zurück in seinen kontextuellen Zusammenhang, in dem es - so unsere Erfahrung - leichter zu beeinflussen ist. Dabei nimmt der Therapeut eine Haltung der Allparteilichkeit ein, das heißt: Er vermeidet eine besonders in stationären Einrichtungen naheliegende einseitige Koalition mit dem geistig Behinderten, dem in keiner Weise damit gedient wäre, wenn der Therapeut sich mit ihm gegen seine Eltern oder sonstigen Angehörigen verbünden würde. Der systemische Therapeut achtet die Bedürfnisse der Familien mit einem behinderten Mitglied, schaut sehr aufmerksam auf die Unterschiede zwischen seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen und denen dieser Familien. In seiner Arbeit vollzieht er eine Orientierung auf die Ressourcen der Familien, auf das, was sie können und leisten, und wertschätzt ihre Lösungen. Statt auf die Defizite zu schauen und die sogenannten "pathologischen" Verhaltensweisen zum Thema seiner Gespräche zu machen, zentriert er auf die Situationen, in denen störende Verhaltensweisen nicht auftreten, und sucht diese "Ausnahmen" zur Normalität werden zu lassen. Aus einer Haltung der Partnerschaftlichkeit heraus, die dem Verhältnis eines Kunden (dem Behinderten und seiner Familie) zu dem Erbringer einer Dienstleistung (dem Berater/Therapeuten) entspricht, stärkt er Eltern und Behinderte in ihrer eigenen Verantwortlichkeit und kann - im günstigsten Fall - von der Begegnung mit der Familie und ihrem behinderten Mitglied selbst ebenso profitieren wie diese von seiner Beratung/Therapie. Denn Familien mit einem behinderten Kind können uns vieles lehren über Mut, Engagement und Ausdauer sowie darüber, wie man sich über die fast kaum wahrnehmbaren kleinen Entwicklungsschritte von schwerstbehinderten Kindern freuen kann (Black).

Literatur

Anderson H., Goolishian H., Windermand L.: Problem Determinded Systems. Toward Transformation in Family Therapy. Journal Strategic arid Systemic Therapies 5, 1-13, 1986.

Besems T., van Vugt G.: Gestalttherapie mit geistig Behinderten. In Rotthaus W. (Hg.): Psychotherapie mit Jugendlichen. Dortmund, verlag modernes lernen, 1985, 251-275.

Black D.: Handicap and Family Therapy. In: Bentovim A., Barnes G.G., Cooklin A. (Hg.): Family Therapy, Vol 2. London, Academic Press, 1982, 417-139.

Dornette W.: Behinderte Jugendliche und ihre Familien im Spannungsfeld zwischen Überbehüten und Ausklammern. In: Rotthaus W. [Hg.): Psycholherapie mit Jupendlichen. Dortmund, verlag modernes lernen, 1985, 101-114.

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Hartmann H., Kalde M., Jakobs G., Rohmann U.: Die Aufmerksamkeits-Interaktions-Therapie (AIT). In: Arens Ch., Dzikowsi S. (Hg.): Autismus heute, Bd. 1. Dortmund, verlag modernes lernen, 1988, 129-137.

Imber-Black E.: The Mentally Handicapped in Context. Family Systems Medicine, 5, 428-445, 1987.

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Rotthaus W.: Diagnostische und therapeutische Sichtweisen im Wandel. Die systemische Perspektive. Praxis Kinderpsychologie Kinderpsychiatrie, 39, 1990 b, 361-364.

Rotthaus W.: Menschenbild und psychische Krankheit des Geistigbehinderten aus systemischer Sicht. In: Hennicke K., Rotthaus W. (Hg.): Psychotherapie und geistige Behinderung. Dortmund, verlag modernes lernen, 1993, 195-203.

Schubert M. Th.: System Familie und geistige Behinderung. Berlin, Springer, 1987.

Schubert M. Th., Tatzer E.: Familien mit behinderten Kindern und ihre Helfer - zwischen Kompetenz und Resignation. In: Rotthaus W. (Hg.): Erziehung und Therapie in systemischer Sicht. Dortmund, verlag modernes lernen, 1987, 139-146.

Seligman M., Darling R.B.: Ordinary Families' Special Children - A System Approach to Childhood Disability. New York, Guildford Press 1989.

Sheridan M.: The Handicapped Child and His Home. London, National Children's Home, 1965.

Sloman L., Konstantareas M.M.: Why Families of Children With Biological Deficits Require a System Approach. Familiy Process, 29, 417-429, 1990.

Autor:

Dr. Wilhelm Rotthaus,

Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Fachbereichsarzt des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinisches Landesklinik Viersen; Ausbildung in klientenzentrierter Spieltherapie, Familientherapie/Systemtherapie. Veröffentlichungen vor allem zum Thema des systemtherapeutischen Arbeitens im stationären Kontext, zur Behandlung nach Suizidhandlungen, von sexuelldevianten Jugendlichen, zum Thema Erziehung und Therapie etc.

Rheinische Landesklinik Viersen, Fachbereich Kinder- und Jugendpsychiatrie, D-41749 Viersen-Süchteln, Horionstraße 14.

Quelle:

Wilhelm Rotthaus: Systemische Therapie mit geistig behinderten Menschen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Heft 4, 1996, S. 45-52

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Stand: 22.03.2005

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