Trends in der beruflichen Rehabilitation

Autor:in - Maria Osterkorn
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 4/5/2010, Thema: Menschenrechte, S. 22-33. Behinderte Menschen (4/5/2010)
Copyright: © Behinderte Menschen 2010

Information

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Berufliche Rehabilitation in Österreich

Kann aufgrund einer Erkrankung bzw. Behinderung der bisherige Beruf bzw. die bislang ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ohne entsprechende Hilfen erfüllt werden, sollen Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation dabei helfen, die Arbeitsfähigkeit wiederzuerlangen oder zumindest zu verbessern, um damit soziale Ausschließung zu verhindern (Blumberger 2003, 29).

Primäres Ziel der beruflichen Rehabilitation stellt die dauerhafte Eingliederung des Menschen mit Behinderung in das Arbeitsleben dar (Reithmayr 2006, 8ff). Infolgedessen geht es in der beruflichen Rehabilitation darum, Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit auszugleichen, ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern und den Betroffenen möglichst auf Dauer beruflich wieder einzugliedern.

Tritt also eine funktionale Gesundheitsstörung auf und ist trotz medizinischer Rehabilitation eine direkte Rückkehr in eine Beschäftigung nicht möglich, gibt es in Österreich für Betroffene die Möglichkeit einer beruflichen Rehabilitation (Reithmayr 2006, 8ff). Der größte Rehabilitationsanbieter in Österreich ist die BBRZ Ges.m.b.H. (Berufliches Bildungs- und Rehabilitationszentrum). Der Zugang zur beruflichen Rehabilitation erfolgt über das Arbeitsmarktservice (AMS), über die Pensionsversicherungsanstalt (PVA), über die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) und in Einzelfällen über das Bundessozialamt, wobei das AMS hauptsächlich Zuweisungen vornimmt. Je nach Kostenträger der beruflichen Rehabilitation werden in Österreich unterschiedliche Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gewährt.

Am Beginn dieses Prozess steht die achtwöchige Reha-Planungsphase im BBRZ, in der die individuelle berufliche Leistungsfähigkeit abgeklärt wird und aus der ein Reha-Plan resultiert, in dem ein Berufsziel und alle Schritte zu dessen Erreichung festgelegt sind.

Umschulung, Ausbildung, Zusatzqualifikationen sind neben anderen Unterstützungsmaßnahmen wie z.B. Arbeitsplatzanpassungen, Änderungen der Arbeitsorganisation oder begleitende Hilfen, eine Möglichkeit der beruflichen Rehabilitation, wenn die bisherige Berufstätigkeit in keiner zumutbaren Weise mehr ausgeübt werden kann (Reithmayr 2006, 8ff).

Problemaufriss

Berufliche Rehabilitation unterliegt gesellschaftlichen Veränderungen. So wirken die Alterung der Erwerbsbevölkerung, die Entwicklungen am Arbeitsmarkt, die Beschäftigungspolitik sowie auch das System der sozialen Sicherheit und vorliegende gesellschaftliche Wertehaltungen auf das System der beruflichen Rehabilitation und verlangen diesbezügliche Adaptationsleistungen der beruflichen Rehabilitation, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden.

Die ursprüngliche Funktion der beruflichen Rehabilitation, Personen, die aufgrund eines Unfalls, einer Krankheit oder Behinderung aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten, beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, verlangt nach einer Erweiterung. Aspekte der Prävention und frühzeitigen Intervention gewinnen zusehends an Bedeutung, damit einhergehend verlagert sich der Schauplatz der beruflichen Rehabilitation vermehrt in Betriebe.

Die berufliche Rehabilitation findet somit veränderte gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen vor, die sie kaum beeinflussen kann. Dies bedeutet jedoch kein Abwarten und Zurücklehnen für die berufliche Rehabilitation sondern erfordert ein aktives Beobachten und Erkennen von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und ein Antizipieren von deren Bedeutung und Auswirkungen auf das System der beruflichen Rehabilitation. Durch diese vorausschauende Herangehensweise definiert sich die Adäquatheit des gestellten Angebotes und damit der Erfolg der beruflichen Rehabilitation.

Wissenschaftliche Studie

Vor diesem Hintergrund beauftragte die BBRZ Reha Ges.m.b.H. das IBE (Institut für Berufs-und Erwachsenbildungsforschung an der Universität Linz) mit der Durchführung der Studie "Trends, internationale Entwicklungen undkünftige Herausforderungen in der beruflichenRehabilitation".

Forschungsdesign

Der Fokus dieser Studie lag auf der Identifizierung von nationalen und internationalen Trends im Bereich der beruflichen Rehabilitation sowie exemplarischen Herangehensweisen an diese neuen Herausforderungen.

Aus diesem Forschungsschwerpunkt ergaben sich folgende Unterfragen

  • Welchen Stellenwert nimmt Prävention national und international ein und welche praktischen Ansätze haben sich etabliert?

  • Welche zukünftigen Zielgruppen sind in der beruflichen Rehabilitation erwartbar und welche Neuerfordernisse gilt es zu berücksichtigen?

  • Wie wird ein Maßnahmenerfolg in der beruflichen Rehabilitation definiert und welche Messkriterien werden angewandt?

Die Beantwortung dieser Fragestellungen legte untenstehende Vorgehensweise nahe:

Studienergebnisse

Die Bündelung der einzelnen Informationsstränge ergibt vier Trends, die nationale sowie internationale Entwicklungen im Bereich der beruflichen Rehabilitation festmachen, die aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen entstehen. Sie beschreiben die großen Eckpfeiler gegenwärtiger und künftiger Entwicklungen, die sich für die Systeme beruflicher Rehabilitation in den einzelnen Ländern mehr oder weniger abzeichnen.

Trend 1: Gesellschaftliche Veränderungen - gewandelte Zielgruppen

Trend 1 umfasst vor allem gesellschaftliche Veränderungen wie den demografischen Wandel, die Zunahme von Krankheit und den Paradigmenwechsel in der Behindertenarbeit, die direkt auf die berufliche Rehabilitation einwirken, indem sie neue Zielgruppen hervorbringen.

Abbildung 1: Studiendesign im Überblick

Demografische Herausforderung im Hinblick auf eine "alternde" Bevölkerung

Sinkende Geburtenraten, das Ansteigen der Lebenserwartung und das Älterwerden der geburtenstarken Jahrgänge führen zu einer deutlichen Alterung der Bevölkerung und stellen Europa aber auch außereuropäische Länder wie Kanada und Japan vor eine Herausforderung.

Sind heute die 25- bis 44-Jährigen die größte Gruppe innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung, so ist aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge davon auszugehen, dass sich dieses Bild bis zum Jahr 2035 dreht. Danach wird die Gruppe der 45- bis 65-Jährigen dominant (Hofmann2004,19).

Auf diese Alterung der Gesellschaft wird mit der Anhebung des Pensionsantrittsalters reagiert und Menschen müssen immer länger im Erwerbsleben gehalten werden. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass ein erhöhtes Lebensalter mit dem Anstieg an Krankheit und Beeinträchtigungen korreliert, was oft mit eingeschränkter beruflicher Leistungsfähigkeit und resultierendem Jobverlust einhergeht. Die berufliche Rehabilitation stellt in diesem Kontext ein Instrument dar, diese berufliche Leistungsfähigkeit dieser älteren Personen wiederherzustellen.

Zunahme von Krankheiten

Oben bereits ausgeführte demografische Entwicklungen, medizinische Fortschritte, generell überhöhte gesellschaftliche Anforderungen an das Individuum sowie steigende Ansprüchen ArbeitnehmerInnen führen zu "neuen" Krankheitsformen, die wiederum die Zielgruppe der beruflichen Rehabilitation prägen. Die klassische Klientel, die sich auf Personen mit Einschränkungen im Stütz- und Bewegungsapparat bezieht, stellt mittlerweile eine unter diversen anderen Personengruppen dar. Die gegenwärtigen Herausforderungen in der beruflichen Rehabilitation liegen bei anderen Zielgruppen.

Personen mit psychischen Erkrankungen

Psychische Erkrankungen sind internationalim Steigen. Dies bestätigen die im Rahmen derStudie befragten Experten und führen Personenmit psychischen Beeinträchtigungen alsjene Gruppe an, die bereits gegenwärtig aberinsbesondere zukünftig die berufliche Rehabilitationvor neue Herausforderungen stellt.

Zahlen der WHO aus 2008 zeigen, dass der Anteil an LeistungsbezieherInnen (Pensionen/ Sozialhilfe) aufgrund psychischer Beeinträchtigung in europäischen Ländern zwischen 8% in Irland und Russland bis knapp 45% in Dänemark liegt (WHO 2008,128).

In Österreich stellten psychische Erkrankungen im Jahr 2005 mit 24% die zweithäufigste Ursache für Neuzugänge an Pensionen der geminderten Arbeitsfähigkeit bzw. der dauernden Erwerbsunfähigkeit dar (Statistik Austria 2007, 42). Die PV Wien berichtet im Rahmen der Studie, dass sich anhand der Zahlen der Anträge auf Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätsrenten eine drastische Zunahme an psychischen Erkrankungen feststellen lässt:

"Die Anzahl der Anträge von Arbeitern auf Invaliditätsrente ist zu 30% auf psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ... Bei Angestellten beträgt die Anzahl der bewilligten Renten sogar 40% und stellt hier somit die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeitsrenten dar" (PV Wien).

Personen über 50 mit Beeinträchtigung

Diese Zielgruppe ergibt sich aufgrund des bereits oben ausgeführten demografischen Wandels. Die inaktive Bevölkerungsgruppe der zwischen 55- und 64-Jährigen stellt auf EU-Ebene eine zentrale Herausforderung in der gegenwärtigen Arbeitsmarkpolitik dar. 32% der inaktiven Bevölkerung der 25 EU-Staaten entfielen im Jahr 2004 auf die Gruppe der 55- bis 64-Jährigen (Europäische Kommission 2005, 215).

In Österreich stellen vor allem unqualifizierte Ältere, die keinen Berufsschutz haben und ältere Arbeiter mit Migrationshintergrund, die aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht qualifizierbar sind, die berufliche Rehabilitation vor eine besondere Herausforderung.

Jugendliche Randgruppen

Innerhalb der Jugendlichen gibt es zwei Gruppen, die bei der Erlangung eines Arbeitsplatzes am offenen Arbeitsmarkt zusätzlichen Hürden ausgesetzt sind (Großegger et al. 2005,36ff). Die erste Gruppe stellen MigrantInnen dar, die zweite Gruppe konstituiert sich aus Jugendlichen mit Behinderung und beinhaltet Jugendliche mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung sowie verhaltensauffällige junge Personen.

Suchtkranke Personen

In diese Gruppe fallen Personen mit substanzgebundenen Suchterkrankungen, die sich einerseits auf illegale Drogen, auf der anderen Seite auf legale Substanzen vor allem Alkohol beziehen. Alkohol stellt eine von der Legislative bzw. von der Gesellschaft mehr oder weniger akzeptierte Substanz dar, deren Suchtpotenzial oftmals unterschätzt zu sein scheint. Die Geschäftstelle AMS Wien weist darauf hin, dass "...Suchtkrankheit und Alkoholismus gerade inWien immer mehr eine Rolle spielen".

Lebens(phasen)begleitende Krankheiten (Krebs, Diabetes, Allergien, Aids etc.)

Laut befragten Experten aus Kanada stellen im unternehmensnahen Kontext (Disability Management) krebserkrankte ArbeitnehmerInnen einige große Unternehmen in Kanada vor eine Herausforderung. In Österreich erkranken jedes Jahr mehr als 35.000 Menschen an Krebs (Statistik Austria 2007, 35f). Im Jahr 2004 betrug die Krebsinzidenz[1] 36.932, dies ist annähernd gleich hoch wie im Jahr 2003 (36.973 Neuerkrankungen).

Der Gender-Aspekt in der Rehabilitation

Frauen mit Beeinträchtigung stellen in der beruflichen Rehabilitation keine neue Zielgruppe dar, sind jedoch aufgrund ihrer "doppelten Diskriminierung" - die allgemeine Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt kumuliert mit einer Beeinträchtigung - besonders hervorzuheben.

Paradigmenwechsel führt zu Service- und KundInnenorientierung

Schon seit einigen Jahren ist im Bereich der Behindertenarbeit ein Umdenken, ein sogenannter Paradigmenwechsel wahrnehmbar. Auch die berufliche Rehabilitation bleibt von diesem Paradigmenwechsel nicht unberührt, wie der Experte auf EU-Ebene bemerkt. Gerade im Hinblick auf feststellbare Trends in diesem Bereich kommt Konzepten wie Individualisierung, Partizipation, Empowerment, Mainstreaming etc. eine wesentliche Bedeutung zu. Der Paradigmenwechsel "prägt somit neue theoretischeund praktische Konzepte".

Abbildung 2: Auswirkungen des Paradigmenwechsels auf die berufliche Rehabilitation

Der Experte auf EU-Ebene führt weiter aus: Ausgestattet mit dem Wahlrecht im Hinblick auf vorhandene Dienstleistungen bestimmen Menschen mit Behinderung immer mehr das Angebot der beruflichen Rehabilitation mit. AnbieterInnen beruflicher Rehabilitation sind vermehrt herausgefordert, die KundInnenwünsche im Prozess der beruflichen Rehabilitation zu berücksichtigen und mit einzubeziehen, um diese zufrieden zu stellen. Eine Servicekomponente hält Einzug in die berufliche Rehabilitation und bewirkt eine Veränderung in Richtung KundInnenorientierung.

Als Vorgriff auf Trend 2 ist anzuführen, dass diese theoretischen Konzepte, die eine Stärkung der Autonomie von Menschen mit Behinderung forcieren, oft überschattet werden von der Ökonomisierung, die auch in die berufliche Rehabilitation einkehrt. So werden praktische Umsetzungen wie z.B. das Persönliche Budget als Errungenschaften des Empowerment im Zeichen des Paradigmenwechsels angepriesen. Eine halbherzige Umsetzung, wie die fehlende Bereitstellung der Infrastruktur (Information, Beratung und Unterstützung), hinter der das Kalkül der Kostenreduktion steht, bewirken jedoch oft, dass diese zum Scheitern verurteilt sind.

Trend 2: Reduzierte Finanzmittel - Ökonomisierung der Rehabilitation

Vor dem Hintergrund der weltweit angespannten Finanzsituation und der Rede von der Erosion des Sozialsystems aufgrund fehlender Steuereinnahmen und steigender Ausgaben wird die Finanzierbarkeit bisheriger Gesundheits- und Sozialleistungen (im Auftrag) der öffentlichen Hand immer mehr in Frage gestellt. Zunehmend werden Wirkung und Effizienz von derartigen Angeboten angezweifelt und das Kosten-Nutzen-Kalkül aus privatwirtschaftlichen Ökonomisierungsstrategien hält Einzug in gemeinnützig orientierte Bereiche wie auch in die berufliche Rehabilitation.

Rechtfertigungszwang der Rehabilitations-AnbieterInnnen

Einhergehend mit der angespannten Finanzsituation müssen AnbieterInnen der beruflichen Rehabilitation zunehmend ihre Leistungen rechtfertigen und den Ansprüchen von Gesellschaft, Politik, KostenträgerInnen, aber auch RehabilitandInnen entsprechen (Experte auf EU-Ebene).

Durch die zunehmende Privatisierung des gesamten Bereichs der sozialen Dienstleistungen wurden staatliche Leistungen an private TrägerInnen ausgelagert und damit einhergehend leistungsorientierte Verträge zwischen den Parteien geschlossen, in denen zu definierende Leistungen entsprechend monetär bewertet werden. In diesem Zusammenhang gewinnt der Qualitätsbegriff sowie Erfolgsmessung und damit verbunden wiederum Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit an Bedeutung.

Einführung des Wettbewerbskonzepts

Die zunehmende Privatisierung sozialer Dienstleistungen sowie das "Ausschreibungswesen" durch EU-Verordnungen bringen die Einführung des Wettbewerbskonzepts in die berufliche Rehabilitation mit sich, was per se nicht zu verurteilen ist. Unzureichend definierte Qualitätsstandards in Ausschreibungen bewirken jedoch oft eine Vernachlässigung von Qualitätskriterien und begünstigen Billigst- AnbieterInnen, womit ein dementsprechender Qualitätsverlust in der beruflichen Rehabilitation einhergeht. Vor allem in den Niederlanden, Großbritannien aber auch zunehmend in Deutschland und Österreich überwiegen Ausschreibungen von Leistungen beruflicher Rehabilitation.

Qualität - Qualitätsstandards und -sicherung

Die vordergründig an Bedeutung gewinnende Qualität wird jedoch oft reduktionistisch betrachtet und einseitig an Vermittlungs- und Integrationszahlen gemessen. In diesem Rahmen verkommen Evaluationen und Wirksamkeitsanalysen zu reinen Ökonomisierungs- und Standardisierungsinstrumenten. Der Bereich der Evaluation mit dem Ziel des Wirkungsnachweises nimmt in der Rehabilitationsforschung nicht selten die Funktion einer ausschließlichen "Legitimationsforschung" ein, welche die Wirkungen von Leistungen im Rahmen beruflicher Rehabilitation vor KostenträgerInnen und politischen AkteurInnen nachzuweisen haben (Biermann 2008). Dieser "formal-quantitativeQualitätsbegriff" (Höhne 2005, 32f) lässt jedoch die eigentliche Komplexität von involvierten Organisationen und Prozessen außer Acht.

Umfassende Qualitäts- und Erfolgsfeststellungen bedienen sich multiperspektivistischer Zugänge aller Beteiligten (RehabilitandIn, Eltern/ Angehörige, Reha-AnbieterInnen, KostenträgerInnen), die Qualität je nach Interessenslagen unterschiedlich definieren (Fasching/Niehaus 2004).

Bedeutend für die Qualitätsentwicklung und -sicherung in der beruflichen Rehabilitation ist der Einsatz der Forschung als Planungs- und Steuerungsinstrument zur innovativen Weiterentwicklung der beruflichen Rehabilitation (Schian/ Schmidt 2007, 17).

Dennoch stellt berufliche Rehabilitation in der Forschung immer noch ein sehr randseitig behandeltes Thema dar (Biermann 2008). Es gibt wenig Personen, Lehrstühle und Forschungsgruppen, die sich kontinuierlich mit der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung befassen. Eine bessere theoretische Fundierung der Wirkungszusammenhänge insgesamt kann nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit erfolgen. Somit bedarf es einer Vernetzung der Rehabilitationswissenschaft mit der Versorgungssystem-Wissenschaft sowie der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Trend 3: Fragmentierung des Rehabilitationsprozesses

Im Zentrum dieses Trends steht das Phänomen der Individualisierung, die unsere Gesellschaft als Ganzes bestimmt und direkte Auswirkungen auf die berufliche Rehabilitation zeigt.

Eine Vielfalt an Lebensstilen und Unterstützungsbedarf in einer modernen Gesellschaft machen eine ebenso vielfältige Angebotsstruktur in der beruflichen Rehabilitation erforderlich (Rehabilitation International 2002, 4). Eine stärkere Differenzierung von Rehabilitations- Angeboten soll flexiblere Angebotsstrukturen schaffen.

Aufgrund dieser Entwicklungen kommt es zur Fragmentierung des Rehabilitationsprozesses.

Abbildung 3: Auswirkungen des Paradigmenwechsels auf die berufliche Rehabilitation

Das Rehabilitationssystem wandelt sich von umfassender Hilfe ("all-inclusive-care" bzw. "the same kind of support to everybody") zu einem individualisierten/ personenzentrierten System. Um diese Individualisierung in der beruflichen Rehabilitation gewährleisten zu können, ist also Flexibilität im Rehabilitationsprozess gefordert, die sich in der örtlichen, zeitlichen, finanziellen, inhaltlichen und methodischen Dimension der beruflichen Rehabilitation niederschlägt. Im Zentrum dieses Systems steht die schnellstmögliche Wiedereingliederung der beeinträchtigten Person in den ersten Arbeitsmarkt, die das primär angestrebte Ziel in der beruflichen Rehabilitation darstellt.

Die vormals bestehende Prozesskette der beruflichen Rehabilitation zerfällt in flexible Einzelelemente, aus denen ausgewählt werden kann. JedeR RehabilitandIn nimmt sich aus dem bestehenden Angebot, das heraus, was sie/ er braucht bzw. ihren/ seinen Bedürfnissen entspricht. Es entstehen maßgeschneiderte Angebote bzw. individuelle Reha-Wege nach dem Motto "Fordern und Fördern". Das Individuum gewinnt (vordergründig) an Selbstbestimmung und Autonomie und erntet damit gleichzeitig Selbstverantwortung.

Örtliche Flexibilisierung

Der "Schauplatz" der beruflichen Rehabilitation verändert sich. Stationäre Rehabilitationseinrichtungen werden differenziert in ambulante, wohnortnahe Rehabilitationsangebote wie z.B. in Großbritannien und Schweden (Rehabilitation International 2002, 16). Die Rehabilitationsprozesse finden zunehmend in Betrieben/ Unternehmen und allgemeinen Bildungs- und Qualifizierungseinrichtungen statt.

Zeitliche Flexibilisierung

Individuelle Rehabilitations-Wege beanspruchen unterschiedliche Dauer der Rehabilitation, wobei kürzere Maßnahmen fokussiert werden, um eine schnellstmögliche Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Im neuen Reha-Modell in Deutschland zeigen Qualifizierungskonzepte ein "bisher nicht gekanntesMaß an Flexibilisierung und Mobilität" (Rehavision Frühjahr 2008a). Ein Maßnahmeneinstieg kann "sehr kurzfristig erfolgen", er ist "nicht mehr mit langen Wartezeiten verbunden" (a.a.O.).

Flexibilisierung im finanziellen Bereich

Der Fokus liegt auf Minimierung der Kosten in der Rehabilitation. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird alternativen Finanzierungsmöglichkeiten neue Aufmerksamkeit geschenkt.

Das "Persönliche Budget" (z.B. in Großbritannien, Schweden, Deutschland) bzw. das "Ticket to Work" (USA) ermöglicht es Menschen mit Behinderung, eigenverantwortlich Rehabilitationsmaßnahmen und Dienstleistungen dem individuellen Bedarf entsprechend in Anspruch nehmen zu können (Rehabilitation International2002, 16).

Privatversicherungen sind vor allem in Ländern, in denen keine Pflichtversicherung besteht, aus Kostenreduktionsgründen immer stärker daran interessiert, ihre KlientInnen in den Arbeitsmarkt zu integrieren und investieren in die berufliche Rehabilitation vor allem im unternehmensnahen Kontext - Disability Management (Roy 2006, 262ff).

Inhaltliche Flexibilisierung

Stand ursprünglich die Vermittlung von Fach-, Sozial- und Persönlichkeitskompetenz innerhalb der beruflichen Rehabilitation im Fokus, werden nun Inhalte wie Lern- und Methodenkompetenz, Fremdsprachen-, Gesundheitskompetenz und Selbstmarketing[2] zunehmend bedeutender (Rehavision Frühjahr 2008b sowie Rehavision Sommer 2008c und deutsche Experten). Die Vermittlung der Inhalte erfolgt weniger in einem Gesamtprozess, der linear durchlaufen wird, sondern vermehrt in Form von Modulen, die einzeln gewählt werden können und somit den individuellen Bedarf decken. Qualifiziert werden jene Aspekte, in denen eine Person Defizite aufweist. Durch diesen modularen Aufbau der Inhalte wird wiederum ein schnellerer Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglicht.

Methodische Flexibilisierung

Unter Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten besteht der Anspruch an ein individualisiertes, personenzentriertes, zielgruppenspezifisches, handlungsorientiertes und ganzheitlich orientiertes Rehabilitationsangebot, was ein gut qualifiziertes, mit methodischem Know-how ausgestattetes, Reha-Personal voraussetzt.

Case Management - Wegbegleitung auf dem individuellen Reha-Weg, Beratung/ Begleitung in Form von One Stop Shops und Netzwerke/ Partnerschaften stellen Erfolgsparameter im fragmentierten Rehabilitationsprozess dar, indem sie diesen zu einem ganzheitlichen System erschließen helfen und somit funktionsfähig machen.

Trend 4: Unternehmen in der Verantwortung

International ist zu erkennen, dass Unternehmen vermehrt für Maßnahmen zur Weiter- und Wiederbeschäftigung von Menschen mit Behinderung verantwortlich sind (Albrecht 1999, 3f ). In den USA ist dies seit jeher üblich, die Niederlande haben diese Strategie bereits vor mehreren Jahren aufgegriffen und in Form des Gatekeeper Act umgesetzt. Durch die gesetzliche Bestimmung des Gatekeeper Act (2002) sind Unternehmen dazu verpflichtet, der/ dem DienstnehmerIn die ersten zwei Jahre einer aufgrund Krankheit oder Behinderung bedingten Abwesenheit vom Arbeitsplatz eine Lohnfortzahlung zu leisten (Piek 2008, 50f). Während dieser Zeit müssen beide Parteien im Return to Work-Prozess kooperieren.

Aber auch in anderen europäischen Ländern werden Unternehmen vermehrt in die Verantwortung genommen. Beispielsweise sind Betriebe in Deutschland seit 1. Mai 2005 gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) verpflichtet, wenn Beschäftigte länger als sechs Monate durchgehend bzw. wiederholt arbeitsunfähig sind. Auf diese Weise sollen möglichst frühzeitig präventive Maßnahmen zur Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der Teilhabe am Arbeitsleben eingeleitet werden.

In Irland verpflichtet der Safety, Health and Welfare at Work Act Unternehmen dazu, alleszu tun, um Unfälle und Krankheiten ihrer Arbeitnehmerschaftzu vermeiden.

Derartige gesetzliche Verpflichtungen bewirken, dass Unternehmen vermehrt in Förderung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit ihrer MitarbeiterInnen (präventiver Ansatz) investieren.

In diesem Kontext findet das Disability Management weltweit immer mehr an Verbreitung. Arbeitnehmende, die von einer Behinderung bzw. gesundheitlichen Beeinträchtigung betroffen sind, sollen mithilfe dieses Ansatzes im Arbeitsleben gehalten bzw. wiedereingegliedert werden (Bühler et al. 2006, 4f). Disability Management meint einen Managementansatz zur Prävention, Früherkennung und Behandlung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Unternehmen (Woodtly 2006, 1). Dies inkludiert ebenfalls Aspekte der Prävention und Früherkennung.

Ein wesentliches Merkmal von Disability Management ist die umfassende Vernetzung und Koordinierung aller Beteiligten, d. h. dass sämtliche AkteurInnen (ArbeitgeberInnen, betroffene Mitarbeitende, ÄrztInnen, Versicherungen und weitere Leistungserbringende wie Rehabilitations- AnbieterInnen) zusammenarbeiten mit dem Ziel, Menschen mit einer Leistungsbeeinträchtigung möglichst rasch und nachhaltig in den Arbeitsplatz wiedereinzugliedern (Bühler et al. 2006).



[1] absolute Zahl der Neuerkrankungen pro Kalenderjahr

[2] Es stellt sich die Frage, ob der Begriff des Selbstmarketings inhaltlich mit dem soweit innerhalb der beruflichen Rehabilitation angebotenen Bewerbungstraining gleichzusetzen ist und somit lediglich eine Begriffsänderung anzeigt bzw. tatsächlich mehr beinhaltet.

Resümee

Es wird deutlich, dass gesellschaftliche Entwicklungen direkt auf das System der beruflichen Rehabilitation wirken und damit auch die Rehabilitations-Fachkräfte sowie die/ den einzelneN RehabilitandIn betreffen.

Die Veränderung der Zielgruppen prägt die tägliche Praxis in der beruflichen Rehabilitation und erfordert ein umfassendes Know-how von Rehabilitations-Fachkräften in zielgruppenspezifischer Methodik und Didaktik, damit eine Integration in den Arbeitsmarkt gelingen kann. Die oftmals komplexen Symptomatiken der neuen Zielgruppen erfordern einen erhöhten Zeit- und damit Kostenaufwand.

Ebenso erfordern der Paradigmenwechsel in der Behindertenarbeit sowie Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft ein Umdenken und eine neue Herangehensweise in der beruflichen Rehabilitation. Im Zentrum steht der Empowerment-Gedanke. Für die Fachleute in der beruflichen Rehabilitation bedeutet dies, dass sie ihre (Dienst-)Leistungen immer mehr auf die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung abstimmen müssen. Subjektive Wünsche von RehabilitandInnen sollen im Fokus stehen und individuelle Fähigkeiten und Potenziale erschlossen werden. Dies muss über Formen der partnerschaftlichen Kooperation passieren, die Mitbestimmung bzw. Selbstbestimmung der RehabilitandInnen gewährleisten. Berufliche Rehabilitation bekommt immer mehr einen Servicecharakter mit der Prämisse der KundInnenorientierung, wobei diese KundInnen zwischen mehreren AnbieterInnen der beruflichen Rehabilitation wählen können.

Demgegenüber steht die, durch die Ökonomisierung der beruflichen Rehabilitation forcierte, Minimierung der Kosten. Im Zentrum befindet sich zunehmend eine kurzfristige Effizienzorientierung, sprich der "direkte Outcome" (Experte auf Europaebene), der in der schnellstmöglichen Vermittlung beeinträchtigter Personen in den ersten Arbeitsmarkt besteht. Dennoch soll die Qualität der beruflichen Rehabilitation bei gleichzeitig gesenkten finanziellen Mitteln aufrechterhalten bleiben. Daraus ergibt sich ein Spagat, der in der Praxis kaum zu bewerkstelligen ist. Nach Angaben der Rehabilitations-Fachkräfte bleibt unter diesen Gegebenheiten die "(psychosoziale) Stabilisierung" von RehabilitandInnen, die oftmals die Voraussetzung für eine erfolgreiche Vermittlung darstellt und somit die Bedachtnahme auf die "Nachhaltigkeit" von Vermittlungserfolgen, häufig auf der Strecke.

Im Hinblick auf Qualifizierungsmaßnahmen gilt generell auch für die berufliche Rehabilitation, dass ein sich ständig ändernder Arbeitsmarkt eine vorausschauende Entwicklung von Ausbildungs- und Qualifizierungssystemen erfordert. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf Qualitätsstandards und -sicherung liegt es an der Kostenträgerschaft sowie den Rehabilitations-AnbieterInnen, die Forschung nicht nur als Legitimationsinstanz des bestehenden Angebots zu nutzen, sondern deren Wert als Innovations- und Steuerungsinstrument zu erkennen, die Möglichkeiten eröffnen kann.

Die Forcierung der Prävention und Frühintervention und das damit in Zusammenhang stehende Disability Management bewirken die Verlagerung beruflicher Rehabilitation in Betriebe. AnbieterInnen der beruflichen Rehabilitation sind herausgefordert, in diesem neuen Setting ihren Platz zu finden. Daraus können sich neue Chancen ergeben, indem Reha-AnbieterInnen ihr Know-how den Unternehmen zur Verfügung stellen und diese in diesem Prozess unterstützen. Gleichzeitig können Reha-AnbieterInnen von dieser Nähe zum Arbeitsmarkt profitieren, indem sie Bedarfe frühzeitig erkennen und auch in der Erstellung von Qualifizierungs- und Vermittlungsmaßnahmen darauf reagieren können.

Vor allem die Ökonomisierung der beruflichen Rehabilitation bekommen die RehabilitandInnen, zu spüren. Das kurzfristige Verwertungsinteresse der menschlichen Ressource für den Arbeitsmarkt steht über einem längerfristigen Aufbau persönlicher Ressourcen von RehabilitandInnen.

Kurze betriebsnahe Lösungen werden gegenüber umfassenden, zeit- und damit kostenintensiven Qualifizierungsmaßnahmen favorisiert. Dem stehen wissenschaftliche Erkenntnisse gegenüber, dass ein hohes Qualifikationsniveau eine Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Teilnahme am Arbeitsleben darstellt (Dirk 2008, 1). Zudem leistet ein niedriges Qualifikationsniveau, das durch eine schnellstmögliche Integration in den Arbeitsmarkt begünstigt wird, niedrigen Einkommen und prekären Beschäftigungsformen Vorschub.

Dieser Ansatz mag für Personen mit einer leichten Einschränkung, die dem ersten Arbeitsmarkt noch relativ nahe stehen, adäquat sein. Für Menschen mit schwer wiegender Beeinträchtigung, welche einen Bedarf an längeren und intensiveren Maßnahmen haben, um den Einstieg auf den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen und auch dort verbleiben zu können, bedeutet diese Reduzierung der Finanzmittel zusätzlich eine Verringerung ihrer beruflichen Integrations-Chancen.

Der Paradigmenwechsel und damit verbundene praktische Konzepte wie z.B. maßgeschneiderte Angebote oder das Persönliche Budget stellen für Menschen mit Beeinträchtigung eine Chance auf mehr Beteiligung und Selbstbestimmung auch in der beruflichen Rehabilitation dar. Voraussetzung bilden dafür bereitgestellte Rahmenbedingungen wie Information, Beratung, Begleitung. Andernfalls besteht die Gefahr, dass diese Mitbestimmung zur Bürde der Eigenverantwortung wird und einhergeht mit einer Entsolidarisierung.

Letztendlich besteht wohl die größte Herausforderung für Rehabilitations-AnbieterInnen, unter bestehenden Gegebenheiten den Individuen als Personen zu begegnen, ihre Anliegen und Bedürfnisse zu würdigen und diesen soweit als möglich Rechnung zu tragen. Nicht zu vernachlässigen scheint mir der Aspekt, dass berufliche Rehabilitation immer auch ein Stück weit humanitärer Auftrag der Gesellschaft bleiben muss.

Die Autorin

Maria Osterkorn

Mag.a phil. Maria Osterkorn: osterkorn@ibe.co.at

Pädagogin und Sonder- und Heilpädagogin wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Berufs- und Erwachsenenbildungsforschung an der Uni Linz (IBE). Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung, Rehabilitationswissenschaften, Menschen mit Behinderung

Quelle:

Maria Osterkorn: Trends in der beruflichen Rehabilitation.

Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 4/5/2010, Thema: Berufliche Rehabilitation, S. 22-33.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 07.08.2013

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