Nur ein kleiner Stich

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Thema: Zumutungen im pädagogischen Feld Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/1999)
Copyright: © Franz-Joseph Huainigg 1999

Inhaltsverzeichnis

Nur ein kleiner Stich

Als ich vor kurzem beim Zahnarzt war und ein gereizter Zahnnerv mittels Spritze betäubt werden sollte, zuckte ich im Angesicht der Nadel heftig zusammen, drehte den Kopf zur Seite und meine Muskeln begannen am ganzen Körper spastisch zu zittern. Die Zahnärztin versuchte zu beruhigen: "Na, na, ist ja nur ein kleiner Stich." Darauf ich: "Nur ein kleiner Stich? Das sagte man damals auch - als alles begann".

Wenn Leute mich fragen, was mir passiert ist, spule ich wie ein kleines Bändchen die Geschichte ab. Die besondere Leistung dabei ist, alle Geschehnisse in nur drei (bis vier) Sätzen verpackt so zu bringen, dass keine Frage offen bleibt. Das hört sich dann so an: "Als Baby, im siebenten Lebensmonat erhielt ich eine Impfung und reagierte darauf mit Fieber. Den zweiten Teil der Dreifachimpfung bekam ich auch, wieder Fieber, ich hörte zu strampeln auf, der Kopf fiel auf die Seite. Die dritte Impfung bekam ich nicht mehr. Meine Eltern brachten mich ins Krankenhaus, dort wurde ich untersucht, aber die Ärzte haben nie herausgefunden, woran es genau liegt".

Genaugenommen enthalten diese Sätze eine Information nicht. Die Frage der Leute ist also auch schon vorprogrammiert.

Leute: "Was war das für eine Impfung?"

Ich: "Keuchhusten-Diphterie-Tetanus."

Leute (mit betroffenen Gesichtern): "Aha."

Natürlich könnte jetzt der eine oder andere sagen, dass das ein blödes Spielchen von mir ist und ich den Namen der Impfung gleich in die vier Sätze einbauen könnte ... Hab ich freilich schon ausprobiert, allerdings mit schlechten Erfolgen. Da sich den Leuten dann nämlich keine Frage mehr aufdrängt und ihnen nur noch das hilflos mit den Schulter zuckende "Aha" bleibt.

Hören die Leute "Impfung" als Ursache reagieren sie immer gleich: Das nackte Entsetzen ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Langjährigen persönlichen Forschungsuntersuchungen folgend wage ich sogar zu behaupten, dass "Impfschaden" in den Augen der Leute so ziemlich das Schlimmste ist, was einem passieren kann. Besonders als Kind, so mit 7 bis 9 Jahren, habe ich auf die Frage von meist alten Leute auf der Straße immer mit anderen Schreckensszenarien geantwortet. Die frechste war: "Ich bin aus dem 12. Stockwerk gefallen. Gott sei Dank auf die Füße. Und Sie?"

Einmal in einer Schulklasse habe ich auch erzählt, was mir passiert ist. Darauf ein Kind: "Und was ist mit dem Arzt? Sitzt der im Gefängnis?" Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Es ist im Gegenteil vielmehr so, dass mein "Impfschaden" per Bescheid vom Sozialministerium nicht als Impfschaden anerkannt wurde. Als ca. 20 Jahre nach meiner Geburt ein sogenanntes "Impfschadengesetz" im Parlament beschlossen wurde, habe ich meinen Fall natürlich eingereicht. Ein Arzt nach dem anderen schrieb Gutachten, die sich von "möglich", über "eher unwahrscheinlich" bis "auszuschließen" entwickelten. Persönlich angeschaut hat mich dabei keiner der Ärzte.

Nun gut, es ist müßig, über die Ursache meiner Behinderung zu sprechen. Das dachten wohl auch meine Eltern, denn es wurde kaum darüber geredet. Einmal kam das Thema doch aufs Tapet bzw. als Nachspeise auf den Abendmahltisch. Es war zu jener Zeit als ich schon längst von zuhause ausgezogen war und mich nur mehr sporadisch bei meiner Familie einfand. Eines Tages kam ich mit einer Freundin namens Judit an und bei einem gemeinsamen Abendessen mit den Großeltern ging es dann ums Eingemachte: Die Behinderungsursache des potentiellen Schwiegersohnes. Durch das langjährige Stillschweigen hatten sich unter dem Mantel der Harmonie die Emotionen aufgestaut: Wer ist Schuld an meinem Unglück? Die Großeltern auf gar keinen Fall, "ich hab als erstes gemerkt, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist", triumphierte meine Oma. Mein Vater winkte lässig die Schuldfrage an meine Mutter weiter, "die Sissi ist schuld". Die Eltern meines Vaters hielten natürlich zu ihrem Sohn, "denn als Mutter hätte sie schon längst früher bemerken müssen" ... "und überhaupt wäre alles noch viel schlimmer geworden, wenn nicht meine Großeltern mit mir zu einem Arzt gefahren wären". Eine Geschichtsschreibung, wie sie meine Mutter nicht nachvollziehen konnte, aber gutmütig wie sie nun einmal war, nahm sie die Schuld auf sich. Und so war die Welt wieder in Ordnung.

Ich war ein fröhliches Kind, hieß es. Immer mit einem Lächeln auf den Lippen wurde ich von Ärzten untersucht, die wiederum nichts an mir feststellen konnten, - außer dass ich eben ein sehr fröhliches Kind bin. Nachdem die Kärntner Ärzte bald am Ende ihres Lateins waren, wurde ich als kleines "Kärntner Wunderding" nach Wien ins Zentrum der ärztlichen Kunst gebracht. Dort wurde ich von verschiedenen Ärzten und Professoren genauer unter die Lupe genommen: Gehirnluftfüllung, Rückenmarkstich, psychologische Tests usw. gehörten zum Alltag des immer lächelnden kleinen Patienten aus Kärnten. Meine Mutter besuchte mich so oft als möglich, befreite mich dann aus dem Gitterbettdasein und unternahm mit mir Spaziergänge und kleine Ausflüge. Immer konnte sie natürlich nicht bei mir sein. Der Alltag zwischen den Testreihen in so einem Gitterbett kann freilich sehr öd sein. Um Lösungsansätze war ich jedoch nicht verlegen: Einmal aß ich eine ganze Tube Blendi-Kinderzahnpasta. Danach kotzte ich das erste Mal und war ob der Reaktionen der Krankenschwestern sehr überrascht. Ich wurde herausgenommen, ein wenig herumgetragen, die Bettwäsche wurde gewechselt, man kümmerte sich um mich, ich stand im Mittelpunkt - und lächelte. Als die Testreihe in Wien nach drei Monaten ohne wesentliche Ergebnisse abgebrochen wurde, holte mich meine Mutter ab. Zum Abschied nahm mich die Ärztin noch einmal auf den Arm. Ich erbrach das Mittagessen über ihr schönes weißes Gewand und grinste dann fröhlich: Adieu Wien - es ging wieder nach Kärnten.

Bei verschiedenen Intelligenztests in Wien hatte ich nicht so schlecht abgeschnitten. Trotzdem beobachtete man mich kritisch. Mit vier Jahren kam ich in den Kindergarten. Als ich eines Tages von meiner Mutter abgeholt wurde, spielte im Raum Musik, die mir gefiel und ich wippte im Takt mit dem Oberkörper hin und her. Die Kindergärtnerin zeigte auf mich und meinte zu meiner Mutter: "Sehen sie, er reagiert auf Musik". "Mein Gott sind die dämlich", dachte ich.

Dass ich nicht ganz blöd bin, stellte ich hin und wieder unter Beweis. So hatten wir zwei sehr wilde und schlimme Katzen zuhause, die mir mit Vorliebe auf den Rücken sprangen und sich dort festkrallten. Ich krabbelte am Boden herum, konnte nicht aufstehen und sie abschütteln und war daher ein ständiges Opfer der zwei Quälgeister. So unsozial die Katzen auch waren, so dumm waren sie auch. Eines Tages waren sie beispielsweise auf den höchsten Baum im Stadtpark geklettert, ohne sich dabei überlegt zu haben, wie sie jemals wieder runter kommen würden. Da saßen sie dann beide jammernd oben im Wipfel und warteten auf die Feuerwehr, die sie mittels einer hohen Leiter herunterholte. Diese Dummheit der Katzen ausnutzend band ich Fäden zu einem Wollknäuel, wedelte damit vor den Augen der Katzen ein wenig hin und her und warf es dann in die Waschmaschine. Beide Katzen sprangen hinterher, Tür zu - und ich hatte wieder einen Nachmittag vor ihnen Ruhe. Ich weiß nicht mehr, wie die Katzen geendet sind, vielleicht wurden sie von meiner Mutter versehentlich einmal weichgespült. Jedenfalls habe ich seither ein besonders schlechtes Verhältnis zu Katzen und ein besonders gutes zu Waschmaschinen.

Wir wohnten im "alten Haus" mit meinen Großeltern und meiner Urgroßmutter zusammen. Meine Urgroßmutter hatte in ihrem Zimmer eine alte Pendeluhr stehen. Stundenlang saß ich am Boden davor und beobachtete das leise tickende Phänomen "Zeit". Meine Urgroßoma, weiß ich heute noch, sagte immer: Wasser frischt das Herzl auf. Das gefiel mir sehr und ich sagte immer grinsend, wenn ich ein Glas Wasser trank, "Wasser frischt das Herzl auf". Eines Tages war meine Oma tot. Ich dachte mir, sie hätte noch schnell ein Glas Wasser trinken müssen. Und irgendwann wenn ich alt bin, nahm ich mir vor, werde ich immer ein Glas Wasser bereit halten.

(Fortsetzung folgt)

Quelle:

Franz-Josef Huainigg: Nur ein kleiner Stich

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 13.09.2005

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