Phänomenologie diesseits von Identität und Differenz

Autor:in - Georg Stenger
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99. Thema: Zumutungen im pädagogischen Feld Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/1999)
Copyright: © Georg Stenger 1999

I. Warum Phänomenologie?

1. Rationalität.

Die neuzeitliche Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, daß sie ihre Grundbegriffe, ihren Verstehensboden und ihre Methodenfragen selber erstellt. Sie ist wesentlich Selbstbegründung. Was als Wissenschaft auftreten will, muß diese Voraussetzungen mitbringen, jedenfalls aber als einen wichtigen Teil der Forschungsarbeiten berücksichtigen. Diesem Wissenschaftsparadigma sieht sich auch die Phänomenologie verpflichtet, insofern dort die wissenschaftstheoretische, philosophische, begriffliche und vernunftorientierte Rückbindung gewährleistet ist. Man nennt diese Grundbedingung auch den "Cartesianismus" der Wissenschaften, worin nun aber zugleich ein kritischer Einwand sich ankündigt. Zum einen reduziert der mit dem Dualismus von res cogitans und res extensa verbundene Cartesianismus alles auf ein Funktionsschema, welches nach dem Gesetz der Maschine arbeitet. Zum anderen übernehmen "Subjektbegriff" und "Rationalismus" jene Stellen, von woher alles deduziert und erklärt werden kann.

2. Erfahrung.

Zugleich aber treten die phänomenologischen Forschungen für das Aufnehmen realer Gegebenheiten und Erfahrungswirklichkeiten ein. Sie lassen sich die Dinge mehr geben als daß sie diese entwerfen. Aber auch hierin liegt eine nicht zu unterschätzende Gefahr, nämlich jene verborgener Empirismen, Psychologismen und Positivismen, denen sie dadurch kritisch zu begegnen versucht, daß sie auf das unhintergehbare Zusammengehören von Zugangsweise und Sachgehalt hinweist. Phänomenologie besteht ja keineswegs darin, bloße Beschreibung von Tatsachen und sogenannter Realitäten zu sein.

3. Phänomenologie.

Phänomenologische Forschungen, wie ich sie hier darstellen möchte, setzen diesseits[1] dieser bis heute andauernden scheinbar wissenschaftlichen Alternative an, die sich zwischen den beiden Polen von Erfahrungsunmittelbarkeit und reflexiver Theoriebildung abmüht. Diese philosophische Möglichkeit gewinnt sie dadurch, daß sie die Korrelation von jeweiliger Gegebenheitsweise und entsprechend zugehöriger Subjekterfassung und -verfassung so aufzuzeigen versucht, daß deren gegenseitiger Konstitutionsprozeß deutlich wird. D. h. unter anderem: so wenig es "Realität an sich", "Objektivität überhaupt" oder auch "die Lebenswelt an sich" gibt, so wenig gibt es "die Subjektivität an sich" oder "das Individuum". Der allenthalben beklagte "Reduktionismus" in Theorie und Praxis geht wohl auf die Versuche zurück, einen dieser Topoi als grundlegend anzusetzen.

4. "Epoché üben".

Ein entscheidender Schritt besteht nun darin, erst einmal zurückzutreten, und dies sowohl vor dem unmittelbaren Gegebensein der Realität als auch vor den immer schon mitgebrachten Verstandes- und Verstehensformen. Dieses Zurücktreten, mit Husserl gesprochen, das "Epoché üben" verfolgt vor allem den Sinn, die Erfassungsweisen und Gegebenheiten nicht einfach so hinzunehmen, sondern auf ihre Sinnstrukturen hin anzugehen. "Sinn" tritt gewissermaßen an die Stelle von "Wesen" und "Wahrheit". Hierbei muß man nicht wie noch Husserl auf das "transzendentale Subjekt" als Basisstation rekurrieren, wenn aus den "Was-Erfassungen" ein "Wie" der Gegebenheits-, der Seins-, ja der Lebensweisen wird. Das "Wie" zeigt den Weg, der durch das "Was" auf sein bloßes Resultat zusammenschrumpft.

Was wir normalerweise wahrnehmen und womit wir umgehen, sind bloße Resultate, geschrumpfte Wirklichkeit, eingedoste Wissenshappen. In ihrem Zurücktreten erweist nun die Epoché u.a., daß die gewohnten Sichtweisen eine Vielzahl von Setzungen, Vorentschiedenheiten und Verstehensdogmatismen in sich tragen, die man selber gerade nicht vor Augen bekommt. Was man gewöhnlich "Realität" nennt, kommt mehr einem Einheitsbrei gleich, wo alles irgendwie gleich schmeckt, wenn es dann überhaupt noch schmeckt. Eine phänomenologische Analyse kann dagegen zeigen - sie sollte dies jedenfalls können - daß "die Realität" weitaus differenzierter, vielschichtiger und in vielen Bereichen gar nicht so ohne weiteres miteinander vergleichbar ist. Die Erfassungsweise und die damit einhergehenden Horizontstrukturen eines erblindeten Menschen lassen sich nicht einfach in das Schema sog. sehender Menschen einordnen. Tut man dies dennoch, so treten allein schon aufgrund des damit vorgenommenen Vergleichs der defizitäre Aspekt und somit die "Behinderung" als Bestimmungsgrößen auf. Schon Scheler hat auf diese notwendige Differenz aufmerksam gemacht, wenn er zeigt, daß bsw. jeder religiöse Akt und die damit verbundene Erfahrung ihr eigenes Auge haben, das nicht vergleichbar und ableitbar ist[2]. Der vom Christen bejahte Gott ist nicht jener, den der Atheist verneint und vice versa. Würde der Atheist jenen Gott haben, den der Christ hat, so würde er auch an diesen glauben, und vice versa. Das Ganze verschärft sich noch weiter, nimmt man sich der kulturell geprägten Differenzen an, wo es nicht nur um die begriffsphilosophische Frage geht, wie diese zueinander stehen, sondern um die realpolitische und kulturelle, resp. interkulturelle Grundfrage ihres gemeinsamen Existierens, "diesseits" von allgemeiner Weltvernunft und regionaler, ethnisch und religiös geprägter Einheiten.

Das "Epoché üben" vermag also dorthin zu führen, daß man die einzelnen Bereiche, Ebenen und Horizonte in ihrer Verschiedenheit und Besonderheit erfaßt, was zugleich heißt, daß man deren Sinn erfaßt. Sinn, so könnte man folgern, gibt es immer nur konkret, als erarbeiteter und erfahrener. Er ist in der Tat etwas "Besonderes".

5. Das "Sich Zeigen" und "Kommen" der Phänomene.

Das, was dann zur Erscheinung kommt, hat weder bloße Abbild- noch Symbolfunktion eines nicht unmittelbar Gegebenen, es geht aber auch nicht auf in der Erfassung von "Gegenständlichkeit" überhaupt (Husserl), sondern es eröffnet und weist vor auf Momente realitätsstiftender und lebendiger Sinnstrukturen. Das, was zur Erscheinung kommt, muß im wahrsten Sinn des Wortes erst in sein Erscheinen kommen, dann erst kann man eigentlich erst von "Phänomen" in einem vollgültigen Sinne sprechen. So zeigt etwa schon der Versuch bloßer Deskription - sei dieser autobiografischer, fallspezifischer, situationsgebundener, literarischer oder sonstiger Art -, daß das Beschreiben das, was beschrieben wird, allererst in sein "sich-Zeigen" bringt und hebt. Man muß sich sozusagen erst klarwerden über die jeweiligen Konstellationen, und diese Klärung läßt die Dinge erst hervortreten, in ihr Erscheinen, also in ihr "Phänomen" kommen. Phänomene sind im Grunde nichts anderes als Selbst-aufklärungen ungeklärter, unerfaßter und nicht eingestandener Voraussetzungen und Vorentscheidungen, und dies sowohl hinsichtlich dogmatischer Realitätssetzungen als auch transzendentaler Aprioris. Auch deshalb könnte man sagen, daß die phänomenologische Arbeit vor allem darin besteht, die Felder von a priori und a posteriori zu erforschen und kritisch auf ihre abgeleiteten und nachträglichen Festlegungen hin zu untersuchen. Auch die "Intentionalität" als die Grundkategorie aller bewußtseinsmäßigen Phänomenkonstellationen erführe sich relativiert und eingeschränkt.

6. Der "Aufgang" der Phänomene, oder: Körper und Leib.

Daraus folgt nun, daß Phänomene mehr und auch anderes zeigen als sie unmittelbar zeigen. Was sich in einem ersten Hinsehen zeigt, erweist sich als nur eine mögliche Ebene, die das Phänomen mitkonstituiert. Ein Phänomen geht auf, es lebt sozusagen auf. Wird dies nicht erfaßt, schrumpfen die Phänomene zu bloßen Dingen und Fakten zusammen, die wiederum als Funktionsstellen und Verknotungspunkte erscheinen, welche dann als empirische Daten die Entwürfe rationaler Systemkonzepte zu bestätigen haben und dies ja auch tun. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Unterschied von Körper und Leib. Körper ist reduzierter Leib. Der Leib und seine Erfahrungswelt ist sozusagen das aus seiner Vergitterung befreite Körper-ding, ist das, was sich zeigt, sich öffnet und zugleich auch über sich hinausweist[3]. Erst der Leib, so könnte man sagen, zeigt dem Körper-ding sein im Grunde in ihm steckendes Phänomen[4]. Nun ist aber das Leibphänomen keineswegs allein auf den biologischen Leib beschränkt. Geht man davon aus, daß der Leib ein ständiges Interpretationsgeschehen seiner selbst ist, wie es sich bsw. im Fühlen und Wohlfühlen, im Spüren und Empfinden bekundet, so sieht man auch, daß die Leiblichkeit selber weit über die sog. Individualleiblichkeit hinausreicht. So werden etwa Sozial-, Berufs- und Arbeitswelt ebenfalls als inkarnatives Geschehen erlebt - Leiberleben geschieht immer "inkarnativ", weshalb der Leib auch "verletzt" oder "geliebt" werden kann -, das nicht von ungefähr bis in die physische Immunfrage durchschlagen kann. Ein Mensch, der seine Arbeit oder soziale Stellung verliert, kann davon bis in seine leibliche Situation hinein getroffen werden. Seine Arbeit gehört konstitutiv zu seinem Leben und dies schlägt bis in seine körperliche Befindlichkeit durch. Ganz zu schweigen von den Konsequenzen, die die hochzivilisierte Leistungsgesellschaft mit sich bringt. Der "Streß" meldet sich dabei nicht nur als Krankheitssymptom der Leistungsgesellschaft, er nimmt direkt vom Körperleib des Menschen Besitz. So krankt der Leib schon lange, bevor es der Körper bemerkt und bei diesem durchschlägt. Natürlich gibt es auch den "positiven Streß", aber darüber, was zuträglich oder abträglich ist, entscheidet allein die Leibstruktur.



[1] Den Topos "Diesseits" verwende ich hier in Anlehnung an Merleau-Ponty. Darin wird dem Aspekt des dimensionalen Unterschieds Rechnung getragen, wie er gewöhnlich in der Rede von "jenseits von ..." auch anklingt, es kommt aber hinzu, daß man sich in weit größerer Nähe zu den Phänomenen befindet, und sozusagem mit diesen und nicht über diese hinweg arbeitet.

[2] M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen, GW, Bd. V, Bern (5)1968.

[3] Das heißt nun nicht, daß der Körper allein als mißverstandener Leib zu verstehen ist. Es gibt durchaus Bereiche, wo die Rede von einem Körper oder Körperding durchaus sinnvoll ist, wie etwa in der Festkörperphysik oder auch dort, wo der Leibkörper auf seine naturwissenschaftlichen Größen hin verstanden wird. Körper sind dann eben Quanta, Ausdehnungsgrößen und -verhältnisse.

[4] Zur "Phänomenologie des Leibes" vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966; ders., Das Auge und der Geist, Hamburg 1984; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, München (2)1994, 172-203, passim.

Im Ausgang von Merleau-Ponty bezüglich pädagogischer Fragestellungen vgl. K. Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität, München 21987; dies., Der Leib - "Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding", In: C. Jamme/O. Pöggeler (Hg.), Phänomenologie im Widerstreit, Frankfurt/M. 1989, 291-306; dies., Welt-Rätsel. Merleau-Pontys Kritik an Husserls Konzeption des Bewußtseins, In: E. W. Orth (Hg.), Die Freiburger Phänomenologie, Freiburg/München 1996, 194-221; W. Lippitz/C. Rittelmeyer (Hg.), Phänomene des Kinderlebens, Kap. "Leib", Bad Heilbrunn/Obb. (2)1990, 37-78; für den sonderpädagogischen Bereich vgl. W. Pfeffer, Förderung schwer geistig Behinderter, Würzburg 1988.

II. Phänomenologische Erweiterungen und Vertiefungen.

1. Diesseits von Theorie und Praxis.

Phänomenologie meint demnach nicht mehr Erscheinen des Logos, wie dies u.a. auch schon Hegel thematisierte. Seine "Phänomenologie des Geistes" ist die zur Erscheinung kommende Vernunft, allerdings mit der Einschränkung, daß die Phänomene dabei selber zu bloßen Materialsammlungen für die Bestätigung formaler Logik degradiert werden. Was eben Hegel noch den "Schacht des Bewußtseins" nennt, der im Dunkeln verbleibt, erweist sich in genuin durchgeführten Phänomenanalysen als "Tiefenstruktur" und "Tiefenschichtung" der Phänomene, die sich schon längst in Arbeit befinden, bis der sog. Logos sie überhaupt zu fassen bekommt. Da scheint etwas auseinanderzulaufen, und die dabei entstandene Kluft schreibt sich dann zwischen den beiden Bereichen von Theorie und Praxis fest. Es könnte sich aber erweisen, daß schon diese "Theorie-Praxis-Dichotomie" etwas spät ansetzt und nur von theoretischer Seite aus plausibel ist. Ähnliches wäre zu Konstellationen wie "Begriff und Erfahrung", "Verstand und Sinnlichkeit", "Bewußtes und Unbewußtes" zu sagen.

2. Praktische Phänomenologie oder "Phänopraxie".

Es gibt den oft beschriebenen "Weg der Phänomenologie" [5], der sich allerdings in methodischer Hinsicht, in Sachfragen wie in Themenschwerpunkten in vielerlei Richtungen verzweigt hat[6]. Es gibt aber auch, gleichsam eine Schicht darunter, dasjenige, das ich mit Rombach "Phäno-praxie" [7] nennen würde. Dies will soviel besagen, daß es nicht mehr allein um Bewußtseinsweisen gehen kann, sondern dem zuvor um Handlungsweisen, um konkrete Lebensweisen, um Grundstrukturen, die aller Bewußtmachung voraus diese erst mithervorbringen. Die Vernunft ist nicht einfach gegeben, sondern sie ist beständig Aufgabe, sie ist nicht nur Subjekt, sondern vor allem auch Objekt der Forschung. Dies bedeutet auch, daß erst mit dem jeweiligen konkreten Geschehen das aufgeht, was man zuvor weder erwarten konnte noch im Bereich des Möglichen lag. Die "Praxis" selber bringt sich hervor, ist niemals bloße Umsetzung theoretischer Entwürfe, sondern Wegbahnung für alles, was dann noch darauf getan, entworfen, gedacht, usw. werden kann[8]. Dies scheint mir bei einem guten Gespräch so zu sein, wo immer bei weitem mehr entsteht, als man selber mitgebracht hat, ebenso bei einer wissenschaftlichen Arbeit, die, wenn sie forschungsmäßig etwas bringen will, nie nur einen gesteckten Rahmen erfüllt. Aber auch in allen möglichen Beziehungsstrukturen ist doch genau dies das Entscheidende, daß diese gleichsam von innen her ihre Bewegungsräume ausschreiten, so daß die darin aufeinander Bezogenen dieses ihr Bezogensein jeweils konkret erfahren. Sie werden sozusagen selber in und zur Erfahrung gebracht. Phänopraxie hebt also vor allem darauf ab, daß weder eine Subjektseite noch eine Objektseite vorgeordnet ist, sondern daß sowohl die Subjekt- wie die Objektstrukturen auseinander hervorgehen. Was man gewöhnlich für das Subjekt oder die Realität hält, stellen nur bestimmte, sehr vorläufige Ergebnisse und Resultate dar, die selber wiederum nur Durchgangsstationen sind.

3. Grenzen der "transzendentalen Subjektivität".

Mit der Primordialität realer Lebensvollzüge wird natürlich nicht ein "Leben pur" gegen eine "reine Reflexivität" oder "Rationalität" postuliert. Vielmehr soll deutlich werden, daß auch letztere selber, wenn man so will, praktische Handlungen sind, die nicht schon deshalb, weil sie scheinbar auf einem höheren "Reflexionsniveau" stehen, eine höhere Wertigkeit und dergleichen beanspruchen können.

Als einen Vorläufer dieser Sichtweise könnte man den Begriff der "Lebenswelt" [9] nennen, der aber wie allgemein bekannt sehr unterschiedliche Anwendung gefunden hat. Ebenso wären die diversen Analysen zur "Intersubjektivität" [10] zu berücksichtigen, zur "Fremderfahrung" [11] ebenso wie zur Erfahrung des "Anderen als Anderen" [12], der mir weit stärker entzogen bleibt als daß er mir gegeben ist. Gerade diese Analysen machen die Selbstbegrenzung einer "transzendentalen Subjektivität" deutlich. Sie können zeigen, welche Dimensionen von Menschsein dadurch nicht gesehen und aufgenommen werden. Das Reduktionstheorem führt bei aller Eröffnung, die es behält, auch einen Reduktionismus mit sich, der lebensmäßig gesehen kaum zu übersehende negative Folgen nach sich zieht.

4. Eröffnung von "Welt".

Problemanfrage: Jegliches "Ich" verbleibt in einer Intentionalstruktur, d. h. es ist bezogen auf etwas, bezogen auf jemanden. Damit ist schon sehr viel entschieden, zumindest geht man von zwei Polen aus. Dem voraus erscheint es mir sinnvoll, nicht von einem Ich schon auszugehen - im übrigen eine typisch okzidentale Denknote -, sondern die Strukturierungsfelder anzugehen, aus denen und als die sich dann u. a. auch "Iche" konstituieren. Das Phänomen "Welt" könnte hier hilfreich sein. Es besagt u. a. dies, daß nicht nur jeder die Welt anders erfährt, also in gewisser Weise seine Welt erfährt, sondern daß jeder eine "Welt" ist, nicht erst vor sich hat und zu ihr in Beziehung tritt. In jeder Welt sieht alles anders aus[13]. Gewiß, man kann nach wie vor von einer allgemeinen Welt sprechen, nur muß man dabei berücksichtigen, daß ein solches Verständnis von Welt allgemein und formal bleibt und in der konkreten Arbeit wenig austrägt. Schon hermeneutische Bemühungen zeigen, daß die Welt nur über Horizontstrukturen verstanden werden kann, und wem ein bestimmter Horizont fehlt, dem erscheinen bestimmte Phänomene schlechterdings nicht. Daß etwa "Behinderung" ein Phänomen ist, das, läßt man sich einmal darauf ein, eine ganze Welt eröffnet, in der nicht nur alles ganz anders aussieht, sondern im Grunde auch nicht verglichen werden kann mit anderen, ohne daß man Entscheidendes nimmt, dies wird nur demjenigen klar, der einen Horizont dafür bereithält. Hat man ihn nicht, so erscheinen die Gegebenheiten auf einem anderen, gleichsam phänomenfremden Feld.

Einem durch und durch ökonomischen Horizont erscheint alles unter einem Nützlichkeits- und Gewinnaspekt, sei dies für den einzelnen oder volkswirtschaftlich veranschlagt. Einem Menschen, dem der Horizont für Behinderung fehlt, vermag Behinderung lediglich als Mangel und Defizienz zu qualifizieren[14]. Er sieht "Behinderung", das Phänomen der Behinderung nicht. Die Grundfrage, die sich allerdings für alle hermeneutischen Zugänge stellt, ist die: wo liegen die Kriterien für die Übereinstimmung von Horizont und Gegebenheit? Es gibt durchaus falsche oder weniger treffende Horizonte für die Erfassung von Gegebenheiten. Wer entscheidet, welcher Horizont der richtigere ist? Ein Index dafür wäre, inwieweit sich eben das jeweilige Phänomen öffnet, entfaltet und aufgeht, ja man könnte geradezu sagen, inwieweit es zu sprechen beginnt. Anderenfalls bleibt es in bekannte Denkmuster und erlerntes Methodenbewußtsein eingegliedert, was sich etwa darin bekundet, daß man jede Begebenheit als "Fall" des einem selber bekannten Systems versteht und dementsprechend "einordnet". Es entsteht nicht wirklich etwas, geschweige denn, daß sich etwas entfaltet und aufgeht. Das philosophische Problem dabei ist, daß der jeweilige Horizont nicht sieht, daß sein Horizont die Bedingungsfolie des Erfassens darstellt und es einen Horizont des Horizontes, eine Art Metahorizont von der Sache her eigentlich nicht geben kann. Jeder sog. "Metahorizont" verbirgt sich seine spezifische Horizontgebundenheit. Verstehensmäßig ist da wenig zu machen, da man "von außen" an die Dinge herangeht und sie dadurch von vorneherein schon in ihrer Statik wahrnimmt und darin feststellt. Dagegen aber wäre zu sagen, daß jedes Phänomen sich in der Weise entfaltet, in der es zum Phänomen wird.

5. Aufgang von "Welt".

Eine mögliche Antwort könnte man nun darin sehen, daß es nicht um das Verstehen und Bestätigen geht, sondern darum, daß Horizont und konkrete Sache gleichsam aneinander wachsen, daß sie über sich hinaussteigen, wo das "Verstehen" gar nicht mehr mitkommt. Verstehen reduziert immer schon auf Bekanntes, hat immer schon verstanden. Dagegen geschieht dort, wo man sich auf eine Sache einläßt, das Eigentümliche, daß diese sich öffnet, daß sie überhaupt erst zu sprechen beginnt. In der Weise, in der dieses Sicheinlassen geschieht, in der Weise wird man mit- und aufgenommen. Dieses Phänomen scheint nirgendwo stärker in den Vordergrund zu treten als im pädagogischen Alltag, so daß es ganz richtig ist, Pädagogik als "Lebenspraxis" zu verstehen, die weder Anwendung noch Umsetzung theoretischer Entwürfe meint, sondern die eigentliche "Bildung", wenn man so will, auch "Heilung" des Menschen bedeutet[15]. Natürlich genügt ein Sicheinlassen nicht, zeigt doch die Selbsterfahrung des Phänomens, daß dabei auch das "Sich" losgelassen wird, um einer spezifischen Anziehungskraft, durchaus auch Verlockung, zu antworten, für die man zunächst keine Gründe anzugeben wüßte, und die dennoch den entscheidenden Prozeß darstellt. Es kann nicht einfach ausgesprochen und gesagt werden, aber nur, weil es den Boden allen Sagenkönnens erst erstellt. Dieser Boden, man könnte hier schon von "Welt" sprechen, bekundet sich zunächst als eine Art Vertrauen, Vertrauen in die Sache, um die es geht, und darin zugleich in den Menschen, um den es geht.

Es mag ein Wortspiel sein, aber nur dort, wo man Vertrauen hat, dort traut man sich auch etwas zu, und dieses Zutrauen erfährt seine Legitimation aus der Möglichkeit des Aufgangs seiner Welt. Resoniert darin nicht, und sei es nur ansatzweise, eine Welt, so schlägt Vertrauen in Mißtrauen um. Mögliche Öffnung wird zur Blockade, Blockaden erfordern neue Strategien, Strategien verstärken die Blockaden, im Grunde geht nichts mehr. Mit "Welt" ist also nicht Welt überhaupt gemeint, sondern eine je spezifisch strukturierte Vielfalt, aus der sich jeder einzelne, wenn man so will, erst entgegenkommt. Dies bedeutet näherhin, daß sich der "Weltcharakter" aus konkreten Situationen heraus aufbaut, Situationen, die Mittler- und Mediatisierungsfunktion innehaben, die aber nicht erst zu einer Welt hinführen, sondern die selber schon so gebaut sind, daß mit jeder Einzelsituation "Welt als ganze" erlebt und erfahren wird. Eine Geste, ein Wort nur können eine Welt zusammenbrechen lassen, aber nur, weil darin schon "Welt" anklingt. Aber genauso kann eine Welt aufgehen, ja vermutlich liegt darin erst der "Sinn von Welt". Aus diesem gegenseitigen Hervorrufen von Situation und Welt, einem beständigen Anruf- und Antwortgeschehen gewinnt sich jene Dynamik, die eine Welt realiter aufgehen läßt. Darin besteht die Arbeit, als die sich das Leben vorbringt, eine Arbeit, die nicht in einem Erwartungshorizont geleistet wird, sondern die sich als Umstrukturierung im ganzen beständig tut. Nur der darin Mitgehende erfährt dies, ganz konkret, denn sein Mitgehen ist sein Aufgehen, und sein Aufgehen ist der Aufgang einer Welt. Erst wenn das Aufgehen (einem) aufgeht, geht auch eine Welt auf. Zulange schon hat man den Weltverlust, den Weltzusammenbruch und -einbruch thematisiert, es gälte nun, stärker auf den Weltaufgang, den Weltdurchbruch und die Weltfindung zu achten und diese zum wissenschaftlichen, therapeutischen und pädagogischen Thema zu machen. Denn nur darin stimmt sich der Mensch zu, erfährt er positive Resonanz, seine Welt antwortet ihm, sie fordert ihn heraus, ja über sich hinaus, und genau darin liegt die Förderung.

6. Erziehungsgeschehen.

Der Erziehungsprozeß hängt am Aufgang einer Welt, niemals an didaktischen Finessen und Strategien. Kann man dann aber noch, so wäre zu fragen, von "Erziehung" sprechen, wo bleibt der Erzieher, und was geschieht mit dem zu Erziehenden? Nun, die These ist auch hier, daß man diese Parameter nicht als Ausgangspole nehmen darf - es entstehen die bekannten pädagogischen Aporien[16] -, sondern daß die jeweilige Sache, um die es geht, die Führung, man könnte auch sagen, die Erziehung übernimmt, sei dies ein Spiel, ein bestimmtes Material, eine Phantasie, eine Konfliktsituation, usw.. Das Erziehungsgeschehen selber erzieht, und so erziehen sich Erzieher und zu Erziehender gegenseitig. Sie entstehen erst aus diesem Prozeß, ebenso wie die Sache, der Inhalt, um die es geht. Man ist nicht Erzieher, man wird es[17]. In dem Maße, in dem dies gelingt, in dem Maße geht eine Welt auf. Wichtig dabei scheint mir zu sein, daß es nicht so sehr um die direkte Erzieher-Zögling-Konstellation geht, sondern um das Erfahren der jeweiligen Bewegungsfelder, Wahrnehmungsweisen, Gestaltungsmöglichkeiten, usw.. Ein Offensein für Entdeckungen, Findungen, für Unvorwegnehmbares und Überraschungen, für Fehler ebenso wie für Korrekturversuche könnten sich dabei als "springende Punkte" pädagogischer Arbeit erweisen[18]. Hierzu mag Provokation ebenso gehören wie Evokation und Revokation, geschieht dies im Sinne eines möglichen Weltaufgangs, so ist es im Recht.

Hier wird auch deutlich, daß ein Weltaufgang keineswegs allein auf den Einzelnen bezogen ist, wiewohl natürlich auch jeder seine Welt ist. Darüberhinaus, oder genauer gesagt, dem zuvor gehen schon Welten auf, an denen mehrere, vielleicht gar die ganze Klasse oder Gruppe, mitsamt dem Lehrer und Erzieher nicht nur teilnehmen, sondern selber daraus hervorgehen. So geht etwa die Welt des Spiels aus dem Spielen selber hervor, und es geht buchstäblich darin auf, was eine Welt zur Welt macht. Ebenso kann die jeweilige Sache, um die es geht, eine Welt öffnen, ja selber zur Welt werden, wie bsw. in der Mathematik. Index dafür ist, daß die Schüler nicht mehr zu halten sind, in ihnen ist sozusagen der Forscher- und Experimentiergeist aufgestanden. In solchen Lernprozessen wird anfänglich erfahren, was eine Welt zur Welt macht und was unter dem "Aufgang einer Welt" zu verstehen ist. So lernt man gleichsam beiher auch die "Welt des Sozialen" und "Solidarischen" kennen, weil man deren Strukturen von innen heraus selber erfahren hat. Von sozialen und politischen Zusammenhängen zu wissen und Kenntnisse darüber zu haben, bedeutet noch lange nicht, die Welt und den Sinn von Sozialität und politischem Bewußtsein erfaßt zu haben.

7. Nähe und Distanz, das Offene und Verborgene.

Zum einen verbindet ein Weltaufgang (Am Aufgang der "Welt der Mathematik" ist der Lehrer nicht ganz unschuldig und daher vielleicht auch der erste heimliche Geliebte), zum anderen trennt er auch (Der Mathelehrer bleibt eben unerreichbar, und dies nicht nur hinsichtlich seiner mathematischen Fähigkeiten). Welten öffnen sich nicht nur, sie verschließen sich auch gegenseitig. Ein Zwischen von Nähe und Distanz. Und wie es die Anziehungskraft einer Welt gibt, so gibt es ihre Abkehr, ihr sich Abwenden. Aber auch darin steckt eine Aufforderung, und sei es die des Respektes, der Achtung, des Eingeständnisses, daß hier etwas fundamental entzogen bleibt. Dieses Entzogensein deutet geradehin auf einen sich verbergenden Weltcharakter, der vielleicht nie der Sprache wird mächtig sein können, der aber gleichwohl andere "Sprachwelten" kennt, die für denjenigen, der es gewohnt ist, sich via Sprache zu verständigen, noch weiter entfernt sind als die entfernteste Fremdsprache. Man wird da nie ein Allheilmittel finden können, und das ist auch gut so, aber vielleicht würde das Finden und Entdecken bislang unerkannter Sinnstrukturen, gerade auf dem weiten Feld nonverbaler Kommunikation, sehr hilfreich und bereichernd sein können. Einem Raum des Schweigens etwa fehlt die Rede nicht, ja Schweigen kann beredter sein als jedes Sprechen[19]. Gerade für die Seite des Erziehenden können sich hier ungeahnte Erfahrungsfelder erschließen.

Mir scheint, daß gerade in dieser grundsätzlichen Differenz von Welten das pädagogisch fruchtbare Moment zu suchen ist, insofern hier einerseits der Andere, die andere Welt gelassen, d. h. auch zugelassen (im doppelten Sinn) wird und andererseits zugleich auf Eröffnungs- und Entfaltungsmöglichkeiten hin angesprochen und freigelassen wird. Dies wäre allerdings wiederum nicht im Sinne einer Idealtypik und Zielgestalt zu nehmen, sondern als Votum für eine jeweils vorläufige, endliche, situative, ja provisorische Pädagogik zu verstehen. Sie wäre nicht weniger als die hehren pädagogischen Idealbilder, im Gegenteil, sie wäre menschlicher und natürlicher, und sie wäre realer, gerade weil sie konkret gestaltend ist. Hinderungen und Fehler, Risse und Abbrüche wären ihr mindestens so wertvoll wie glückliche Findungen und Gelungenheiten.

8. Zum Phänomen der Behinderung.

Für die Situation des geistig Behinderten könnte der Schritt von einer wie auch immer angenommenen Subjektkonzeption hin zum Weltcharakter vieles bewirken. Der Streit etwa, ob man bei schwerster geistiger Behinderung von einem vollgültigen Individuum, dem die klassischen Kriterien von Bewußtsein zugesprochen werden müßten, ausgehen könne, verlöre seinen Boden und auch seine wissenschaftliche Peinlichkeit. Die Rede von einem stabilen Personenkern, von dem man ausgehen müsse, mag manchen beruhigen, sie hat aber bestenfalls noch antiquarischen Wert, zumal sie aus einer Zeit stammt, in der "Behinderung" als Absenz der "Normalität" gesehen wurde. Pointiert gesagt: es wurde Behinderung als Phänomen, und das heißt als veritable, eigenständige Größe, die ihre eigenen Möglichkeiten und Wirklichkeiten hat, noch gar nicht gesehen.

Es gälte also auch hier "praktische Epoché" zu üben, d. h. zurückzutreten vor allzu schnellen Verifikationen und Ordnungsmustern, Feststellungen und Festlegungen. Gerade in den Bereichen sonderpädagogischer Arbeit könnte sich dies als sehr fruchtbar erweisen. Einem "Zurücktreten vor" korrespondiert ein "Sicheinlassen auf", durchaus auch ein "Sichaussetzen", alles Verhaltensweisen, die sich geben, ja beschenken lassen und die nicht immer schon genommen und verstanden haben. In solchen Bewegungsfiguren liegen schon Aspekte des "Heilens", gerade weil sie vorläufig, endlich, situativ und doch sich ganz hineinbegebend stattfinden. Es geht also um die Wegerfahrung, um die Prozessualität, die man sich nicht schenken kann, geht doch erst dadurch die jeweilige Sache, und mit ihr eine jeweilige Welt und der jeweilige Mensch mit auf. Es scheint demnach eine Frage der "Genese" zu sein, und noch das Wort "Genesung" verdankt sich diesem Weg- und Geschehenscharakter. Wer aber für immer geheilt sein möchte oder "ewige Heilung" verspricht, der ist auf eine ihm verborgene Weise kränker als jeder Kranke[20].

9. Zur Geschichtlichkeit der "Behinderung".

Dieser Aspekt kann hier nur kurz angedeutet werden. Gemeint ist nicht die Auflistung historischer Begebenheiten, sondern die Verwandlung ihrer jeweiligen Grundsituation im ganzen. Behinderung bedeutet jeweils etwas im ganzen anderes, wird anders gesehen und anders erfahren. Es sagt etwas, daß erst die zweite Hälfte des 20. Jhs. "Behinderung" als ein eigenständiges, lebensweltlich relevantes und wissenschaftliches Phänomen erkannt hat, das nicht darin aufgeht, "vonwoandersher" interpretiert zu werden. Eine Gesellschaft, die "Behinderung" sieht und nicht nur karitativ darum weiß, ist weniger "behindert", zumal sie dann erst erfährt, worin ihre eigene Selbstbehinderung lag.

10. Der Umstrukturierungs- und Verwandlungsaspekt von Behinderung.

Einige Beispiele: Das Drama "Ödipus" von Sophokles zeigt u. a. dies, wie ein Mensch verstümmelt und ausgesetzt wird, und wie genau dieser Ausgesetzte (Ödipus heißt ja Klumpfuß) das Rätsel der Sphinx löst und damit den Schritt vom "Halbwesen Tier-Mensch" zum "vollgültigen Menschen" macht. Eine völlig ausweglose Situation wird so umstrukturiert, daß daraus eine unvordenkliche, neue Ebene hervorspringt. Ödipus ist viel komplexer und vor allem "reicher" als der "Ödipuskomplex". Victor Hugo zeigt in seinem "Glöckner von Notre Dame", daß das Groteske und Narrenhafte nicht nur wirklichkeitskonstitutive Kraft hat, sondern der sog. normalen Welt deren in sich verzerrten Spiegel vorzuhalten in der Lage ist. Louis Armstrong machte vor, wie keine Stimme ihre Stimme findet: "What a wonderful world". Der Franzose J. Lusseyran, der selber durch einen tragischen Unfall erblindete, zeigt, wie diese Behinderung nicht einfach Verlust bleibt, sondern schließlich völlig neue Erfahrungsräume und "Sinnlichkeiten" freisetzt. Ein Blinder sieht nicht nur anders und anderes als ein Sehender, er sieht überhaupt erst, wie das Sehen zum Sehen kommt. Ein Sehen, das neu sieht und hört, neu schmeckt und fühlt, ein Sehen, das sich auch für sog. Nicht-Blinde zu sehen lohnt[21]. Der bekannte Kabarettist Dieter Hildebrandt "überwindet" sein Stottern gerade dadurch, daß er es nicht kaschiert oder wegtherapiert, sondern als eigene Kreationsmöglichkeit sein läßt. Hier wurde jeweils eine Welt gefunden, die sich auch ausarbeiten konnte. D. h., daß die Behinderung gerade nicht übersprungen oder gar überwunden wird, sondern daß aus der Not selber, einer Unmöglichkeit, eine neue und eigene Möglichkeit gefunden wird. Nun mag man einwenden, daß dies ja Ausnahmefälle seien. Gewiß, aber sie zeigen gewissermaßen prototypisch, welche grundsätzliche Möglichkeit und welche Chance eine Behinderung in sich bergen kann, und daß diese herauszuarbeiten eine je eigene Welt eröffnet. Meist aber ist dies nicht möglich, es bleibt in unendlichen Fehlversuchen stecken, und je mehr man es machen will, um so weniger gelingt es. Ja manchmal besteht nicht einmal der Hauch einer Möglichkeit. Und dennoch hat jeder eine Welt, seine Welt, die aufgehen möchte, und sei sie noch so sehr verborgen oder gar in Vergessenheit geraten und von niemandem erblickt[22].

Dieser potentielle welthafte Charakter bekundet sich in der Anmutung, in jedem Menschen eine Unvergleichlichkeit zu sehen, eine recht verstandene "endliche Universalität", ja "Unendlichkeit", und daraufhin gesehen und interpretiert zu werden hat auch jeder ein unverbrüchliches Recht. Gewöhnlich aber werden Behinderungsphänomene unter eher negativen und bedauernswerten Gesichtspunkten gesehen, und dies soll auch gar nicht bestritten werden. Allein, der negativistische Grundzug scheint selber schon in sich so etwas wie eine "mögliche Welt" zu ahnen, die in jedem steckt, nur daß dies gleichsam seitenverkehrt, eben "negativ" gesehen wird, weshalb man auch eine wirkliche "Entwicklung" gar nicht für möglich hält.

Mir scheint, daß die Sonderpädagogik einen ähnlichen Weg wie das Phänomen der Behinderung gehen könnte. Das bedeutet, daß sie sich weder von den Grundlagen der Allgemeinen Pädagogik noch von irgendwelchen anderen Methoden und Wissenschaftsbegriffen leiten läßt, sondern ihren eigenen Weg sucht und geht, der sich seine Spuren von den Phänomenen, um die es diesem Fach geht, geben läßt. Das "Sonder" in der "Sonderpädagogik" ist dann fach- wie gesellschaftsspezifisch kein derivater Begriff, im Gegenteil, es macht darauf aufmerksam, daß jeder etwas "Besonderes", ja im Grunde etwas "Einmaliges" ist, und daß dies zu finden und zu gestalten die eigentliche Aufgabe ist. Man müßte lernen, die Behinderung als eine wirkliche Bereicherung der Gesellschaft zu sehen. Es würde vermutlich dann auch sichtbar, daß das, was als "normal" gilt, auch seine Weise des Behindertseins hat.

11. Schlußbemerkung.

Das "Phänomen der Welt", wie ich es hier anzudeuten versucht habe, besagt Identität und zugleich Differenz, Universalität und zugleich Kontingenz, nimmt den experimentellen und auch fragmentarischen Charakter des Lebens ernst, und wird dadurch erst "lebendig". Es arbeitet "diesseits", d. h. an diesem und jenem Ort, zu dieser und jener Zeit, einer spezifischen Situation, es arbeitet "von innen" und kommt nicht "von außen". Das "von innen" steht dabei nicht in Gegensatz zum "von außen", beide arbeiten sich aneinander ab, strukturieren sich gegenseitig, gewinnen dadurch Profil, entfalten sich und gehen auf. Ein bloßes "von außen" überstülpt und kupiert jegliche Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeit, ein bloßes "von innen" fällt in einen seelischen wie geistigen Solipsismus.

Eine beständig unterwegs seiende und sich kritisch prüfende Phänomenologie vermag der Selbststrukturierung dieser Phänomene nachzugehen, manchmal helfend, manchmal auch hinderlich. Sie läßt sich aber von den Phänomenen korrigieren, darum wissend, daß sie selber konstitutiv zu ihnen gehört. So ist die Phänomenologie weder ein Metastandpunkt (was soll das sein?) noch eine empirische Beschreibungskunst, sie ist weder "Meta" noch "Physik", sie steht diesseits dieser Unterscheidung. Sie hat überhaupt keinen festen Stand, weil sie beständig in Bewegung ist. Sie geht jeweils auf, ganz so, wie jeweils eine bestimmte Welt aufgeht.



[5] Paradigmatisch L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie. Das Problem einer ursprünglichen Erfahrung, Gütersloh 1963; H.-G. Gadamer, Die phänomenologische Bewegung, In: Ders., Kleine Schriften III, Tübingen 1972, 150-189; H. R. Sepp (Hg.), Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewegung, Freiburg/München 1988.

[6] Vgl. H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement, Den Haag (3)1982.

[7] H. Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, Freiburg/München 1980, 16-22, passim.

[8] "In einer phänomenologischen Analyse des Erziehungs- und Unterrichtsgeschehens wird dieses nicht von seinem Ende her, also aus der Maßgeblichkeit der postulierten Ziele, sondern vom Handeln als Sinnkonstituierungsvollzug her verstanden." [kursiv, G.S.] K. Meyer-Drawe, Die Belehrbarkeit des Lehrenden durch den Lernenden - Fragen an den Primat des Pädagogischen Bezugs, In: W. Lippitz/K. Meyer-Drawe (Hg.), Kind und Welt. Phänomenologische Studien zur Pädagogik, Frankfurt/M. (2)1987, 71.

[9] R. Welter, Der Begriff der Lebenswelt, München 1986; W. Lippitz, "Lebenswelt" oder die Rehabilitierung der vorwissenschaftlichen Erfahrung, Weinheim/Basel 1980.

[10] Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Hua I (V. Med.); Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Hua XIII-XV, Den Haag 1950 ff.; R. Grathoff / B. Waldenfels, Sozialität und Intersubjektivität, München 1983.

[11] Vgl. B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt/M. 1987; ders., Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990; ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M. 1995; ders., Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M. 1997.

[12] E. Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg/München 31998; ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München (3)1999.

[13] Vgl. H. Bleeker und J. Mulderij, Im Rollstuhl sieht die Welt ganz anders aus, in: Lippitz/Meyer-Drawe (Hg.), Kind und Welt, (2)1987, 27-38.

[14] Von hier aus scheint mir beispielsweise die sog. "Singer-Debatte" sinnvoll angegangen werden zu können. Im Klartext: Dem dort fehlenden Horizont für Behinderung rutscht das Phänomen in einen anderen Horizont, etwa den utilitaristischer Abzweckungen, die ja auch, geradezu pointiert eine "Ethik" beanspruchen. Die philosophische Auseinandersetzung wäre hier also über die Horizontstruktur, und vermutlich besser, über das Weltphänomen zu führen, rein unter universalistischen Gesichtspunkten wird man der Argumentationsfigur von Singer wenig entgegenhalten können.

[15] Wenn hier "Bildung" und "Heilung" in einer gewissen Entsprechung auftauchen, so geschieht das nicht zufällig. Jeder Bildungsprozeß ist ein therapeutischer Prozeß, und umgekehrt. Das heißt nicht, daß man ein grundsätzliches Krankheitsbild zugrunde legen würde, das zu therapieren wäre. Im Gegenteil: Therapie hätte hier eher den Sinn zu erfassen, daß nichts schon bei sich selbst ist, sondern schon qua Leben unterwegs ist, sich verfehlt und überbietet, sich trifft und wieder weniger trifft, daß es ein durchgängiges Geschehen ist, das sich selber beständig korrigiert, übersteigt und gerade darin bestätigt. Das Geschehen ist ein "Lernprozeß", der nicht etwas erlernt - das ist sozusagen der sekundäre Effekt -, sondern der als Prozeß Lernen ist. Der Prozeß lernt an sich selber sein Prozeßgeschehen und darin ist er "bildend", "therapierend", "heilend".

[16] Eine Aporie wäre etwa die, daß ja nur ein "Wesen" erzogen werden kann, das autonom und selbständig ist, das also allen "Erziehungsinhalt" aus sich selber erbringt. Alles andere wäre Dressur oder Manipulation. Man kann also gar nicht "irgendwohin" erziehen wollen, was nicht selber erbracht und dem nicht aus sich selber zugestimmt worden ist. Dagegen steht eben ein mehr oder weniger traditioneller Erziehungsbegriff, wo der Erzieher und Pädagoge weiß, wohin der Zögling zu bringen ist, er also "Ordnung ins Chaos bringt". Die Pädagogik-Antipädagogik-Kontroverse hat auf dieses Dilemma aufmerksam gemacht und es trägt sich bis heute durch, wo es als Alternative angesehen wird, entweder "vom Erzieher aus" oder "vom Kinde aus" das Problem anzugehen. Beides aber scheint nur die Kehrseite derselben Erziehungsmedaille zu sein.

[17] Natürlich behält all jenes, was man zuvor gelernt und studiert haben mag, seine Geltung und seine Wichtigkeit, aber - und vermutlich gehört dies zu den entscheidenden Schritten des Pädagogen - nur, um es wiederum vergessen zu können. Alles Wissen und Gewußte muß in der pädagogischen Erfahrung erneut in Erfahrung gebracht werden, es will "verlebendigt" und überformt werden, vermag es doch nur so pädagogisch fruchtbar zu werden. Kein Wunder, daß - wie oft zu hören ist - erst nach Erzieherausbildung, nach Studium und Referendariat das eigentlich angestrebte und gesuchte "pädagogische Wirken" und die "Lust an der Arbeit" beginnen. In dem Maße, indem dies dem Lehrer gelingt, in dem Maße werden die Schüler mitgenommen und sie lassen sich auch mitnehmen. Auch das Lernen gelingt dann, und es gelingt vermutlich in dem Maße, in dem es "Lust und auch Spaß macht". Kein Hedonismus, sondern Bildung! Man sollte diesen Umstand einmal bezüglich des pädagogischen Sinns näher befragen und mit in die pädagogische Ausbildung aufnehmen. Dagegen bleibt eine bloße "Anwendungspraxis" weit zurück, die sich auch noch über die augenfällige Verweigerungshaltung der Schüler wundert. Der überall spürbare Mißerfolg wird dann gewöhnlich auf dem Rücken der Schüler und "Zöglinge" abgeladen, indem nicht davor zurückgeschreckt wird, ihnen "absolute Borniertheit" bis hin zu "geistigem Stupor" zu attestieren.

[18] Vgl. H. Danner, Vom Bambus zur Panflöte, In: W. Lippitz / C. Rittelmeyer (Hg.), Phänomene des Kinderlebens, 81-92. Ich verweise auch auf Tendenzen, wie sie in Anknüpfung an die "Reggio-Pädagogik" aus Italien möglich werden, wo es zuvörderst um den Gestaltungsprozeß selber geht. Das heißt dann auch, daß die sinnlichen und aisthetischen Erfahrungen zu unabdingbaren Konstitutionsbedingungen des Sinngeschehens selber werden. Vgl. Reggio Children (Hg.), The Hundred Languages of Chidren. Catalogue of the exhibit, Reggio Emilia 1996.

[19] In Japan gibt es gar eine "Therapie des Schweigens", die u. a. der Psychiater T. Matsuo entwickelt hat und praktiziert. Vgl. hierzu I Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft. Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit, München 1997, 68-71.

[20] Es scheint kein Zufall zu sein, daß gerade die beiden "Heilsversprechungen", wie sie sich traditionell in Theologie und Medizin bekunden, auf eine eigentümliche Weise an sich selber kranken.

[21] J. Lusseyran, Das wiedergefundene Licht. Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand, München (7)1995.

[22] Man denke als Beispiel etwa an solche Erscheinungen wie den Autismus, wo eine eigentümliche "Weltfülle" geradezu in ihr Nichts abgetaucht zu sein scheint.

Der Autor

Dr. Georg Stenger, geb. 1957. Nach der Promotion in Philosophie 1988 an der Universität Würzburg wissenschaflticher Mitarbeiter am Lehrstuhl I für Philosophie der Universität Würzburg. Lehrtätigkeit in Müchen und Würzburg. Derzeit Habilitationsarbeit zur "Interkulutrellen Philosophie und Phänomenologie".

Universität Würzburg

Josef-Stangl-Platz 2

D-97070 Würzburg

Quelle:

Georg Stenger: Phänomenologie diesseits von Identität und Differenz

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.01.2006

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