Allgemeine Pädagogik und Sonderpädagogik in der Frühförderung

Autor:in - Gerhard Klein
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99. Thema: Zumutungen im pädagogischen Feld Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/1999)
Copyright: © Gerhard Klein 1999

Allgemeine Pädagogik und Sonderpädagogik in der Frühförderung

Sonderpädagogen, mit den Aufgaben der Frühförderung konfrontiert, erfuhren für ihre Arbeit wenig theoretische und praktische Hilfe von der Allgemeinen Pädagogik. Das medizinische Denk- und Handlungsmuster der Heilbehandlung wurde zur maßgebenden Orientierungshilfe der Frühförderer. Die Aktivität der Erwachsenen in der Frühförderung verdeckte und verdrängte die spontane Eigenaktivität, von der alle kindliche Entwicklung getragen wird. Erst langsam setzen sich die pädagogischen und psychologischen Erkenntnisse über das Selbstwerden des Kindes durch.

Frühförderung ist ein relativ junges Arbeitsfeld der Sonderpädagogik. Die Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates im Jahre 1973 gaben den entscheidenden Anstoß zur praktischen Umsetzung von Maßnahmen der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder. Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Erzieherinnen sahen sich mit Aufgaben konfrontiert, für deren praktische Durchführung sie nicht ausgebildet waren. Die Notwendigkeit der Frühförderung war theoretisch zwar gut belegt, doch die theoretische Durchdringung der Praxis steckte noch in den Anfängen und bot wenig Hilfreiches für die Praktiker, die handeln mußten.

So kam es, daß in den siebziger Jahren Frühförderung weithin als funktionsorientierte Therapie verstanden und praktiziert wurde, die sich am medizinischen Denk- und Handlungsmuster der Heilbehandlung orientierte. Hinzu kam, daß von einigen Medizinern entschieden der Anspruch auf Alleinzuständigkeit der Medizin für die Frühförderung erhoben wurde.

Pechstein (1975 S. 28) schrieb:

"Herauszustellen ist, daß Frühtherapie neben der gegebenenfalls anzuwendenden operativen, diätetischen oder medikamentösen Behandlung in erster Linie frühe Lerntherapie darstellt ... Unter Lerntherapie ist dabei die ärztlich veranlaßte, gezielte Initiierung von Lernprozessen in bestimmten Funktionsbereichen der kindlichen Entwicklung unter Berücksichtigung einer differenzierten Diagnose des neuro-psychischen Entwicklungsstandes zu verstehen."

Hellbrügge (1978 S. 178) beschrieb das Vorgehen dabei folgendermaßen:

"Dabei bildet die Entwicklungsdiagnostik zum einen die unabdingbare Grundlage für die Therapie, zum andern beinhaltet sie als Skala der Normalentwicklung gleichzeitig die therapeutischen Ziele bzw. groben therapeutischen Schritte ... Der Aufbau der Entwicklungstherapie in den einzelnen Bereichen erfolgt entlang der vorgegebenen Entwicklungsskala."

Auch mehr pädagogisch ausgerichtete Förderprogramme wurden nach diesem Muster konzipiert. So weist schon Kiphard in seinem Entwicklungsgitter darauf hin, daß die einzelnen Items nicht nur zur Überprüfung der Entwicklung dienen, sondern "ein gezieltes Übungsprogramm zur systematischen Förderung entwicklungsrückständiger Kinder darstellen" (Kiphard 1975, S. 14).

Gertrud Ohlmeyer (1979) nahm diese Anregung auf, formulierte die einzelnen Items des Kiphard-Gitters zu Übungsaufgaben um und veröffentlichte diese als "Frühförderprogramme für behinderte Kinder (0-6), 980 Übungsanweisungen mit Materialangaben".

Beispiele

Diagnostische Frage: "3J 5M: Gelingt es Ihrem Kind, über ein 20 cm breites und 5 cm hohes Kissen zu springen? (Schlußsprung ohne Anlauf)"

Förderempfehlung: "Ermuntern Sie Ihr Kind, 20 cm weit und 5 cm hoch zu springen. Machen Sie es ihm vor und üben Sie es gemeinsam, falls erforderlich."

Diagnostsiche Frage: "Ist Ihr Kind in der Lage, im Schlußsprung 5 Hüpfer hintereinander durchzuführen?"

Förderempfehlung: "Zeigen Sie Ihrem Kind, wie man mit geschlossenen Füssen 5 mal hintereinander vom Boden hochspringt und fordern Sie es zur Nachahmung auf."

Walter Straßmeier (1981) entwickelte in ähnlicher Weise ein Förderprogramm mit 260 lebenspraktischen Übungen, dem ein Screeningtest zugrunde liegt. Er schreibt dazu:

"Die Aufgaben, die der Entwicklungstest prüft, sind aber auch als Ziele zu sehen, die angestrebt werden können, wenn das Kind die Fertigkeit noch nicht beherrscht."

Allerdings betont Straßmeier, daß das Programm nur als Hilfsmittel und Anregung gesehen werden soll und nicht als starre Handlungsanweisung oder "Rezept" verstanden werden darf. Durch Beobachtungen und Einfühlung müßten die speziellen Bedürfnisse eines Kindes wahrgenommen werden. Der Früherzieher müsse darauf achten, "Was teilt mir das Kind darüber mit, was es lernen möchte?" (S.13) und für das Kind Erfahrungsspielräume schaffen.

Das leitende Grundmuster solcher Programme und Therapiekonzepte sieht die Aufgabe der Erwachsenen (Therapeuten, Sonderpädagogen, Eltern) darin, mit den Kindern die nicht altersgerecht entwickelten Funktionen und Verhaltensweisen zu trainieren. Durch Vormachen, durch Worte, durch Gesten und notfalls auch durch Handführung und steuernden Druck wird ein Kind veranlaßt, die gewünschten Bewegungen auszuführen, Laute zu bilden oder Wörter nachzusprechen. Die Erwachsenen sind es letztlich, die durch ihre Einwirkungen und Eingriffe das Kind zu Bewegungen oder lautlichen Äußerungen bringen, welche Entwicklungsfortschritte bewirken sollen.

Diese Konzepte der Frühfördermaßnahmen haben in den vergangenen Jahren vielfache Kritik erfahren (Speck, Kautter, Klein, Schlack), auch von Seiten der Medizin. In der Praxis wird heute in vielen Bereichen anders gearbeitet, vor allem dort, wo Therapeutinnen und Pädagoginnen in langjähriger Erfahrung gelernt haben, sich von den Programmen und strengen Behandlungsmethoden zu lösen und das lebendige Kind vor sich wahrzunehmen. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß immer noch in weiten Bereichen der Praxis nach den beschriebenen Trainingskonzepten verfahren wird und daß die Rahmenbedingungen dieses Vorgehen begünstigen.

Ich will nun nicht versuchen, den denkbaren Ursachen für die Entstehung und Dominanz derartiger Programme und Therapiekonzepte weiter nachzugehen. Doch sei der Hinweis erlaubt, daß sich das Interesse für die Erziehung in früher Kindheit in der Allgemeinen Pädagogik auf wenige Autoren begrenzte: Andreas Flitner in den sechziger Jahren und dann vor allem Günther Bittner. Die "Enzyklopädie Erziehungswissenschaft" widmet zwar dem Thema "Erziehung in früher Kindheit" einen eigenen Band (Bd. 6), doch geht es dort hauptsächlich um Institutionen im Elementarbereich und um Förderprogramme aus den USA. Das sonderpädagogische Aufgabenfeld der Frühförderung kam für die Allgemeine Pädagogik bisher kaum in den Blick. Die Sonderpädagogik konnte nur auf wenig praktische Hilfen zur Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern zurückgreifen. Dieses Vakuum füllten dann Bücher wie "Die ersten 365 Tage" von Hellbrügge und Wimpfen oder später die Bücher von Irina Prekop.

Zwar wurden die Erkenntnisse Portmanns, die Arbeiten von René Spitz und allgemein die Erkenntnisse der Psychoanalyse mehr und mehr in die Allgemeine Pädagogik aufgenommen, doch ist es kaum gelungen, diese Erkenntnisse für die Organisationsformen und Konzepte der Frühförderpraxis maßgebend zu machen.

Auswirkungen dieser Erkenntnisse zeigten sich lediglich in der Institutionenkritik: "Holt die Kinder aus den Heimen". Viele Heime wurden geschlossen. Kindertagesstätten und Krippen wurden grundlegend reformiert und zur Neugestaltung der Kindergartenarbeit gab es vielfältige Versuche.

Die Deprivation in der Familie, die vom quantitativen Ausmaß her weit größer war und ist als in den Heimen, wurde jedoch kaum wahrgenommen. Nur in Fällen extremer Vernachlässigung wurde und wird versucht, durch Maßnahmen der Jugendhilfe bessere Lebensbedingungen für ein Kind zu schaffen.

Insgesamt ist das Interesse der Allgemeinen Pädagogik an der Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern auch heute noch gering, während es inzwischen von Medizinern auch pädagogisch hoch interessante Arbeiten zu dieser Thematik gibt (Largo, Papousek u.a.).

Die Einsichten über das Selbstwerden des Kindes, über die Bedeutung der Eigenaktivität des Kindes für seine Entwicklungsfortschritte finden nur langsam Eingang in die Frühförderpraxis und sind schwer zu vermitteln, wenn es um behinderte oder gar schwerstbehinderte Kinder geht (Klein 1996). Die herrschende Meinung - "Da muß man doch etwas machen!"- ist kaum zu beeinflussen. Wo etwas mit dem Kind gemacht wird, da wird auch bezahlt. Wer jedoch darauf setzt, daß das Kind etwas macht, wer dieses Risiko eingeht, der findet wenig Anerkennung und kaum Geldgeber.

Bei geschädigten und schwerbehinderten Kindern ist es oft sehr schwer, die geringen und zaghaften Zeichen von Eigenaktivität zu erkennen. Dies haben die Untersuchungen von Wilhelm Pfeffer sehr deutlich gezeigt.

Leiblichkeit und Therapie

Wilhelm Pfeffer ist es zu danken, daß er über den Leib einen wesentlichen Zugang zur Förderung schwerstbehindeter Kinder eröffnet hat und dabei der Eigenaktivität dieser Kinder zu ihrem Recht verhalf.

Für die Frühförderung in ihrer ganzen Breite, die alle Arten von Behinderungen und drohender Behinderung meint, hat die Bedeutung des Leibes als natürliches Ich bislang zu wenig Beachtung erfahren.

Vor allem sind es die medizinisch-therapeutischen Berufe der Krankengymnasten, Ergotherapeuten und Logopäden, die über den Leib durch gezielte Übungen und gesteuerte Handlungen oder Äußerungen die kindliche Entwicklung voranzubringen suchen. Unter diesen Berufsbildern wurden therapeutische Hilfen entwickelt, die als Rehabilitationsmaßnahmen bei Erwachsenen sich als erfolgreich erwiesen haben. Bei der Übertragung dieser Behandlungsmethoden auf Kleinkinder wird allerdings nicht beachtet, daß das Verhältnis der Erwachsenen zu ihrem Leib ein anderes ist als das des Kleinkindes.

Während der Erwachsene zu seinem Leib, seinen Bewegungen, seiner Sprache in eine gewisse Distanz treten kann, seinen Leib haben und sich zu sich selbst verhalten kann, ist solches dem Kleinkind noch nicht möglich. Es ist ganz und gar Leib, Sprache, Bewegung. Die Stimme, der Fuß, die Hand, der Bauch, das ist immer das Kind selbst.

Der Erwachsene und wohl auch schon das Schulkind, kann sich klar machen: Das muß ich üben, damit es richtig geht, das Sprechen, das Gehen oder auch das Greifen. Dem Kleinkind gelingt dies nicht. Außerdem geht es beim Kleinkind nicht um ein Wiedererwerben verlorener Funktionen oder Fähigkeiten, sondern allererst um deren Ausbildung.

Jeder steuernde Eingriff in das Handeln des Kleinkindes, vor allem das passive Bewegt-Werden, nimmt dem Ich die Möglichkeit sich zu entwickeln, oder wie Montessori sagt, "seinen Geist aufzubauen"(S. 25), "sein ‚geistiges Fleisch' zu schaffen" (23) oder "sich in dem trägen Leib zu inkarnieren"(S. 49). Das sich entwickelnde Subjekt wird so seiner ureigensten Funktion beraubt. Dieser Unterschied zwischen den Rehabilitationsmaßnahmen für Erwachsene und den therapeutischen Hilfen für Säuglinge und Kleinkinder wird bislang zu wenig beachtet.

Singers Thesen

Abschließend sei mir noch erlaubt, auf ein anderes Thema hinzuweisen, durch welches Allgemeine Pädagogik und Sonderpädagogik in gleicher Weise gefordert sind.

Die Thesen, die Peter Singer (1984) in seiner "Praktischen Ethik" vertritt, haben in der Bundesrepublik wiederholt heftige Diskussionen ausgelöst. Nach Singer sind Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein die entscheidenden Merkmale, die das Personsein eines Menschen ausmachen. Da behinderte Kleinkinder und Säuglinge diese Merkmale nicht haben, sei es kein Unrecht, sie zu töten.

Es kann hier nicht die ganze Diskussion um diese Thesen ausgebreitet werden, doch möchte ich mir die Frage erlauben, ob Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein in der Allgemeinen Pädagogik nicht mitunter zu hoch eingeschätzt wurden.

Könnte nicht im Sinne einer ‚ungewollten Nebenwirkung' Peter Singer in seiner Meinung dadurch bestärkt worden sein oder noch bestärkt werden?

Literatur

Hellbrügge, TH./v. Wimpffen, J.H.(Hrsg.) (1973): Die ersten 365 Leben eines Kindes. Die Entwicklung des Säuglings. München: Knaur

Hellbrügge, Th. (1978): Münchener funktionelle Entwicklungsdiagnostik. Fortschritte der Sozialpädiatrie, Bd. 4, München: Urban und Schwarzenberg.

Kautter, H.; Klein, G.; Laupheimer W.; Wiegand H.S. (41998): Das Kind als Akteur seiner Entwicklung. Heidelberg: Schindele.

Kiphard , E.J. (1975 /1975): Wie weit ist ein Kind entwickelt? Dortmund: modernes lernen.

Klein, G. (1996): Frühförderung als Spielförderung oder Training nach Förderprogrammen? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 47 (1996); S.373 - 380.

Largo, R. (1993): Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht. Das andere Erziehungsbuch. Hamburg: Carlsen

Montessori, M. (1978): Das kreative Kind. Freiburg: Herder

Ohlmeyer, G. (1979): Frühförderungsprogramme für behinderte Kinder (0-6), 980 Übungsanweisungen mit Materialangaben. Dortmund: modernes lernen.

Pechstein, J.(1975): Sozialpädiatrische Zentren für behinderte und entwicklungsgefährdete Kinder. Deutscher Bildungsrat: Gutachten und Studien der Bildungskommission. Sonderpädagogik 6. Stuttgart

Pfeffer, W.(1988): Förderung schwer geistig Behinderter. Würzburg: Edition Bentheim

Singer, P. (1984): Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam

Straßmeier, W. (1981): Frühförderung konkret. 260 lebenspraktische Übungen für entwicklungsverzögerte und behinderte Kinder. München: Reinhardt.

Der Autor

Prof. Dr. Gerhard Klein lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Fakultät für Sonderpädagogik in Reutlingen (Außenstelle der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg). Er vertrat dort das Fachgebiet der Lernbehindertenpädagogik. Zuvor unterrichtete er mehrere Jahre an Volks- und Sonderschulen. Studium an den Universitäten Tübingen und Bonn (Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Psychopathologie). Von 1989 bis 1997 war er Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Konzepte der Lernbehindertenpädagogik, soziale Benachteiligung lernbehinderter Kinder und Jugendlicher, Frühförderung, Kooperation von allgemeinen Schulen mit Sonderschulen und Montessoripädagogik.

Schlossgartenstrasse 105

D-72793 Pfullingen

Quelle:

Gerhard Klein: Allgemeine Pädagogik und Sonderpädagogik in der Frühförderung

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 05.04.2005

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