Statt einer Einleitung

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Thema: Zumutungen im pädagogischen Feld Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/1999)
Copyright: © Andreas Möckel, Ursula Stinkes, Manfred Thalhammer 1999

Andreas Möckel

Im Jahre 1988 erschien die Habilitationsarbeit von Wilhelm Pfeffer mit dem Thema "Förderung schwer geistig Behinderter" [1]. Die Methode seiner Wahl war die Phänomenologie, angelehnt unter anderen an Alfred Schütz. Pfeffer stellte sich die Aufgabe, "die Lebenssituation der zu Erziehenden und der Erzieher als Erziehungswirklichkeit" zu beschreiben. Es ging ihm um personenübergreifende Phänomene im Erziehungsfeld, weder um die Kinder noch um die Lehrenden allein. Sein fruchtbarer wissenschaftlicher Ansatz in einem Arbeitsfeld, in dem sich anthropologische, ethische, allgemein pädagogische und didaktische Fragen elementar stellen, fand bei Fachleuten große Beachtung. Es war bedauerlich, dass er die Reaktionen der Leserinnen und Leser nicht mehr aufnehmen und seinen Ansatz mit Kollegen auch aus Nachbardisziplinen diskutieren und weiterführen konnte. Die Phänomenologie ist eine Grundlage auch für ein Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Allgemeinen und der Schulpädagogik, für die schwere geistige Behinderung lange Zeit nicht als pädagogisches, sondern ausschließlich als medizinisches Thema galt, vielleicht mancherorts auch heute noch gilt. Schwere geistige Behinderung mutet der Pädagogik zu, ihre wissenschaftlichen Grundlagen zu überprüfen. Die Habilitationsarbeit erschien im gleichen Jahr, in dem die Debatte um die Thesen des australischen Philosophen Peter Singer hohe Wellen schlug. Allgemeine Pädagogik kann sich ermutigen lassen, wenn sie erkennt, wie dringend sie von Eltern und Kindern in einer wahrhaft existentiellen Situation gebraucht wird. Der Weg zu einer besseren Verständigung muss immer wieder neu gesucht werden. Die Teilgebiete Heilpädagogik, Schulpädagogik, Allgemeine Pädagogik sind sich oft fremd, obgleich sie auf dem gleichen Grund und Boden bauen: Erziehung als Lebensrecht.



[1] Würzburg (Bentheim Verlag). Wilhelm Pfeffer (4. Juli 1937 - 31. Januar 1987) war Oberstudienrat im Hochschuldienst beim Lehrstuhl Sonderpädagogik I in Würzburg. Das Symposion fand an seinem 60. Geburtstag statt.

Ursula Stinkes

Der Titel des Symposions verweist aus der Sicht der Heilpädagogik absichtsvoll auf die Zumutung des Engagements der Regelpädagogik für einen kleinen Kreis sogenannter "normaler" Menschen. Aus der Sicht der Regelpädagogik besteht die Zumutung im Insistieren der Heilpädagogik auf ein Bildungssubjekt, das sich nicht nur als souveränes, reines Denkwesen, sondern als leiblich-sinnliches Wesen innerhalb eines gemeinsam-geteilten Lebenszusammenhangs versteht. Menschen mit schwerer Behinderung sind auf eine präreflexive und gemeinsam-geteilte Welt angewiesen. Dass sie als Bildungssubjekte auch Hilfe in Anspruch nehmen müssen oder sich in Grenzbereichen des Lebens befinden können - und sich damit Bildung und Erziehung nicht mehr bruchlos als progressives Fortschreiten bestimmen lässt - macht sie "untauglich" für das souverän konzipierte Bildungssubjekt einer "Moderne".

Im Begriff der Zumutung steckt absichtsvoll der Mut als eine Anmaßung, etwa dann, wenn sich die Zumutung einem Sich-Herausnehmen annähert. Dies kann ein Zu-nahe-Treten sein, ein Tun, das eine Schwelle beim anderen oder mir überschreitet. In ihm steckt aber auch der Mut als Auszeichnung, weil jede Zumutung damit rechnet, der andere sei in der Lage, sich betreffen zu lassen. So kann man sich geehrt fühlen, dass eine Wahrheit oder Aufgabe zugemutet wird. Der Begriff suggeriert weder nur eine latente Provokation, noch nur eine Ermutigung, sondern wahrt eine Indifferenz.

Das Symposion sollte sich in diesem Spannungsfeld bewegen. Wohl wissend, dass die "Zumutung" so lange Bestand hat, wie es nicht zu gemeinsam-geteilten Zusammenhängen und Auseinandersetzungen kommt, bei der unaufhebbare Differenzen nicht verschüttet werden.

Manfred Thalhammer

Sich zu fragen, wie die Sicht der Situation des schwer mehrfachbehinderten Menschen der "Allgemeinen Pädagogik", der "Regelpädagogik" vorzutragen wäre, wenn sie daran Interesse zeigte, scheitert sicherlich daran, dass "Sprache" fehlt, diese subjektiv-intersubjektive Wirklichkeit zu artikulieren. Weitgehend Mutmaßungen, Konstrukte, erste Theoreme, schüchterne Interpretationsversuche vermögen kaum zu überzeugen. Ein "ecce homo": "Seht, welch ein Mensch" scheint nur insofern Interesse zu wecken, als man sich hierin nicht repräsentiert fühlt und wahrnimmt, und dies zur Gänze auch nicht zulassen kann.

Dies hält Distanz stabil zum behinderten Menschen: Sie tut gut, bannt freilich nicht das Grauen vor dem eigenen leiblich-leibhaftigen Verfall und Zerfall. Dies kann sich zeigen an leichten Amnesien, bis hin zu einer existentiellen Hyperemesis, die, wodurch auch immer ausgelöst, das Grauen, im Leib zu sein, evoziert, leibhaftig werden lässt. Verstellungskünste im Alltag, schweißtreibende Alpträume und ihre Residuen während der Nacht lösen sich nur bedingt in ihren Kontrakturen durch ein "Aufwachen ohne Gnade" (Ungaretti), ein Aufwachen, das die Konfrontation mit dem Grauen nicht zu lindern imstande ist. Überbrückungsversuche, Verdrängungsverfahren, Modalitäten des Schönredens, ephemer, alles zusammen nur einen Tag, es schützt nichts. Die "Sprache" ist insofern auch verräterisch, da sie dies und jenes noch zu verschleiern sucht. "Nicht Gott, nein der Schmerz genießt die Vorzüge der Allgegenwärtigkeit" (E.M. Cioran 1979, 23).

Die Zeit drängt, dass sich "Regelpädagogik" nicht noch weiterhin allzu lange verschließt in dieser eschatologischen Phase des Menschseins. Nochmals: Es ist fürs Erste der verzweifelte Versuch, "eine neue Sprache zu finden", denn "mit einer neuen Sprache wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht, und nicht, wo man versucht, die Sprache an sich neu zu machen, als könnte die Sprache selber die Erkenntnis eintreiben und die Erfahrung kundtun, die man nie gehabt hat. Wo nur mit ihr hantiert wird, damit sie sich neuartig anfühlt, rächt sie sich bald und entlarvt die Absicht. Eine neue Sprache muß eine neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt" (I. Bachmann 1980, 16). Für eine Anthropodizee wäre es höchste Zeit, sich den jeweiligen Zumutungen und dem "Ruck" zu stellen, wovon die Wirklichkeit des schwer mehrfachbehinderten Menschen Zeugnis ablegt. Oder anders: zu verhindern zu suchen, wovor K. Rahner warnt: "... weder zynisch zu verzweifeln noch davonzulaufen".

Quelle:

Andreas Möckel, Ursula Stinkes, Manfred Thalhammer: Statt einer Einleitung

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.08.2005

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