Differenz - "Konstruktionen"

Grundsätzliche Überlegungen zu Differenzerfahrungen im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen

Autor:in - Wilfried Lippitz
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Schlagwörter: Erziehung, Ethik, Anthropologie
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99. Thema: Zumutungen im pädagogischen Feld Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/1999)
Copyright: © Wilfried Lippitz 1999

Differenz - "Konstruktionen"

Skizziert werden einige in der Erziehungswissenschaft gängige Differenzbestimmungen, die das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen betreffen. Diese Bestimmungen werden in folgenden Problemzusammenhängen näher erläutert:

  • als Erkenntnis und Handlungsproblem, das Problem der Erkenntnis des Fremden und seines Umgang mit ihm; die damit verbundenen unterschiedlichen Modellierungen der Differenz;

  • als ethisches Problem, thematisiert als Erfahrungen ethischer Verbindlichkeit zwischen Kindern und Erwachsenen

  • als Struktur der Dezentrierung der Erfahrung des Anderen und der Selbsterfahrung im Kontext von Kindheitserinnerungen, pädagogischem Handeln als Zwischenereignis.

Ich skizziere einige exemplarische Erfahrungen von Differenzen. Die sich darin zeigenden Strukturen beziehe ich auf einige ausgewählte erziehungswissenschaftliche Modellierungen des Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen. Ich versuche zu verdeutlichen, daß uns beunruhigende Differenzerfahrungen auszuhalten, nicht aber zu glätten sind. Erreichen kann man allenfalls eine höhere Toleranz und Akzeptanz ihnen gegenüber, denn sie machen - pathetisch ausgedrückt - die existentiellen Spannungen des menschlichen Zusammenlebens aus.

Wie geht man mit folgenden Erfahrungen um, die man - so das phänomenologische Verständnis von Erfahrung - nicht bloß macht, sondern durchmacht, d.h. erleidet oder mitmachen muß, und die sich kaum einordnen lassen, weil sie jede Ordnung sprengen?

I. Das Erkenntnis- und Handlungsproblem

Da erfahre ich den anderen Menschen als einen Menschen (ob Kind oder Erwachsenen), der mir in seiner Andersartigkeit fremd bleibt.

Fremderfahrung ist konstitutiver Teil der sozialstrukturellen Verfassung des Menschen, die Intersubjektivität genannt wird. In der paradoxen Formulierung des Phänomenologen Edmund Husserl ist sie die Erfahrung, daß mir der Andere nur in der Weise zugänglich wird, daß ich ihn als unzugänglich erfahre. Der Andere wird nur in seiner Appräsenz präsent, und die Beziehung zum Anderen ist gleichzeitig durch Entzug bestimmt. Jede soziale Erfahrung, nicht bloß eine irgendwie exotische, ist in diesem Sinne Fremderfahrung. Diese Differenzbestimmung, nämlich der Entzug in der Beziehung als radikale (zur Wurzel gehende) Version von Fremdheit und Differenz ist mit den uns vertrauteren Versionen von Differenz und Fremdheit nicht zu vergleichen (vgl. dazu Waldenfels 1997). Ich stelle einige solcher Versionen kurz vor.

  • Die Fremderfahrung paßt nicht in das binäre Schema Freund-Feind, wo das eine durch das andere bestimmt ist und es kein Drittes gibt. Im Gegenteil: Weder Feind noch Freund - entzieht sich der Fremde jeder erwartbaren und gängigen Bestimmung. Er bzw. sie ist eine ambivalente, ja außerordentliche Größe, und der binäre Ordnungsmechanismus versagt davor. Es gibt deshalb auch keine "Bilder" vom Fremden, bzw. jede Bebilderung (vgl. die Science-fiction-Serien) umspielt nur das uns Vertraute. Wo aber die Ordnung des Darstellbaren gesprengt wird, bleibt eine grundlegende Beunruhigung durch etwas, was unsere Fassungskraft sprengt. Bebilderung ist dann eine simplifizierende Form des Begreifens.

  • Differenz läßt sich auch nicht als Spiegelgestalt oder Ich-Verdoppelung begreifen. Versteht ein Ich ein anderes fremdes Ich, indem es sich in den Anderen einfühlt oder ihn über Analogieschlüsse zu verstehen versucht? Dann legt es am anderen nur das aus, was es ihm einlegt, und jede soziale Erfahrung wäre nur der projektive Vorgang eines letztlich solipsistischen Ichs, das in der abendländischen Bewußtseinsphilosophie sein Unwesen getrieben hat. Fremdes gäbe es eigentlich nicht, und jede Begegnung oder jeder Dialog wäre bloß ein Monolog (vgl. dazu Lippitz 1995).

  • Die dialektische Version der Fremderfahrung setzt auf Mobilität. Fremderfahrung ist ein Durchgangsstadium im Bildungsprozeß des Ich: Im Lern- und Erfahrungsprozeß, in den darin erfahrenen Widerständen und Enttäuschungen der zeitweiligen Entfremdungen kehrt das Ich bereichert zu sich zurück. Es hat sich am Fremden abgearbeitet, indem es sich das Fremde angeeignet oder genossen hat. Somit ist die Differenz nur eine vorläufige, ein aufzuhebender Mangel. Den oder das Fremde konsumiere ich, statt anzuerkennen oder zu respektieren.

  • Die in unserer Denktradition oftmals praktizierte "Lösung" des Differenzproblems, nämlich Differenz nur als partikular gelten zu lassen, als Differenz zwischen den Teilen gegenüber einem sie übergreifenden Ganzen (des Bewußtseins, des transzendentalen Ichs, des Kosmos, des Bildungssubjekts, der Nation), möchte ich nur kurz hinweisen. Fremdes wäre das prinzipiell zu homogenisierende Heteronome (vgl. Lippitz 1992). Betonen wir nochmals: Der oder das Fremde in der Fremderfahrung bleiben eine ambivalente nicht einzuordnende Größe, die alle Erwartungen und Erfahrungsmuster sprengt.

In der Erziehungswissenschaft, besonders auch in der Thematisierung des Problems pädagogischen Verstehens und pädagogischen Handelns zeigen sich Versuche, diese Ambivalenz zu bewältigen oder aber anzuerkennen. Dazu einige Stichworte:

Geisteswissenschaftliche, kulturpädagogische, aber auch sozialwissenschaftlich-kritische Richtungen thematisieren Differenzerfahrungen inkonsistent. Sie bewegen sich zwischen radikalen ordnungskritischen und affirmativen Diskursen:

  • Das aus der christlichen Tradition stammende und in der geisteswissenschaftlichen Tradition gängige "Individuum-ineffabile-Theorem" besagt: Sowohl im Erkennen wie im Handeln ist das Individuum in seinem personalen Kern unerreichbar. Jede Form pädagogischer Intentionalität (Absichten, Normen, Einwirkungsversuche) stößt auf eine unüberwindbare Grenze der Individualität. Deshalb versagen Technikmodelle, bzw. sie werden kritisiert. Pädagogik als erwachsenenzentriertes Unternehmen hat deshalb eine unüberwindbare innere Grenze. Das Kind als Individuum in seinem personalen Kern bleibt unerreichbar. Die pädagogische Intentionalität ist deswegen in sich "gebrochen". Als Mensch ist das Kind wie auch der Erwachsene unvergleichlich. Darin gibt es keinen Unterschied.

  • Gängige Bildungstheorien konzipieren Subsumtionsmodelle, die das Besondere unter ein Allgemeines einordnen, d.h. ein Individuum unter ein allgemeines Leitbild des Erwachsenseins. An ihre Stelle treten in mehr oder weniger radikaler Differenzmodellierung und als Kritik

  • Modelle des Dialogs (u.a. Buber, Schaller, Langeveld) als symmetrisch gedachte Prozeßmodelle verschiedener Partner der Erziehung;

  • Modelle der Differenz von Theorie und Praxis, d.h. hierarchische Modellierungen von theoretisch nicht einholbaren, da nur praktisch erfahrbaren emotional-empathisch-moralischen Beziehungsverhältnissen wie Liebe-Gehorsam-Vertrauen-Autorität (Nohl, Langeveld, W. Flitner): Hier siedelt sich jedoch die sogenannte advokatorische Pädagogik an; aus Differenz wird ein Reife- und Entwicklungsgefälle;

  • oder radikale in der jüdisch-christlichen Bilderverbotstradition stehende Grenzen-der-Erziehung-Diskussionen (seit der Weimarer Zeit, und neuerdings wieder in Anschluß an Lévinas, vgl. dazu auch Lippitz 1995), die binäre oder totalisierende als Ordnungsstrukturierungen grundsätzlich in Frage stellen. Das Kind, der Fremde, usw. stellt außerordentliche Ansprüche, die alle Erwartungen und jedes pädagogische Wissen sprengen und jede Art von Beziehung erst ermöglicht (s.u. Umschlag des Erkenntnis- in einen ethischen Diskurs);

  • antitechnische interaktionistische und/oder kontrafaktisch-kritische Modellierungen herrschaftsfreier Kommunikation aus der Tradition der Kritischen Theorie: Kinder erscheinen als potentiell emanzipierte Erwachsene, jedoch ihre Rechte und Ansprüche werden von den faktischen Erwachsenen stellvertretend wahrgenommen. Differenz ist ein vorläufiger Status, der kontrafaktisch als überwindbar dargestellt wird;

  • Modelle der Pluralität und Kontingenz in den aktuellen Erörterungen zur Neufassung der Bildungstheorie. Erwachsene wie Kinder und Jugendliche müssen pädagogische Intentionen, Ziele usw. miteinander aushandeln, ohne sich auf traditionale Vorgaben stützen zu können; da beide nicht besser wissen, was die Zukunft sein wird, ist die pädagogische Beziehung in ihrer Ziel- und Normendimension symmetrisch, und in diesen Aushandlungsprozeß gehen differente lebensweltliche Erfahrungen ein;

  • phänomenologisch orientierte Revisionen kommunikationstheoretischer Pädagogik unter dem Leitaspekt der "Zwischenleiblichkeit", der "Zwischenereignisse" (u.a. Meyer-Drawe, Lippitz, Stinckes, Seewald): Pädagogisches Handeln ist ein präreflexives, sinnlich-leibliches und dezentriertes Geschehen. Kinder in ihrer anderen sinnlich-leiblich bedingten Perspektivität erfahren Welt und Sozialität anders als Erwachsene; pädagogisches Handeln als Zusammenhandeln bedeutet dann, neuen Handlungssinn aus der Differenz der Partner zu generieren;

  • radikale Versionen der Fremdheitsthematik in der interkulturellen Erziehung (vgl. dazu weitere Literatur in Waldenfels 1997, Lippitz 1995), und in (auto)-biographischen Thematisierungen von Erziehung: Das "fremde Kind", das kolonialisiert wird über das interventionistische Wissen der Erwachsenen oder aber das Gegenteil: das Kind "in" mir und "vor" mir, die beide ein kaum rational zu klärendes miteinander verstricktes Verhältnis eingehen und das sich deshalb jeder rationalen Rekonstruktion von Erziehung entzieht;

  • mythengeschichtliche und kulturkritische Rekonstruktionen der Kind-(heits)bilder von Erwachsenen, die jedoch Differenzbestimmungen zwischen Erwachsenen und Kindern als kritisch zu behebende und nur als Vorstellungen eines unaufgeklärten Bewußtseins begreifen.

Zugleich und oftmals auch miteinander verbunden in einzelnen o.g. erziehungswissenschaftlichen Diskursen wird das pädagogische Differenzverhältnis subsumtionslogisch und hierarchisch strukturiert:

  • U.a. in der materialen klassischen oder dialektischen Bildungstheorie, die auf kulturellen Konsens, auf Einheit und Ganzheit setzte;

  • in geisteswissenschaftlichen und später auch an Piaget, Kohlberg, Habermas orientierten Entwicklungs- und Kompetenztheorien und Gesellschaftstheorien. Die Differenz von Kind und Erwachsenen wird als "Noch-nicht" vor dem normativen Horizont von Entwicklungsstadien und -zielen bestimmt. Die Differenz ist vorläufig, nicht aber radikal;

  • in strukturfunktionalistischen und systemischen Theorien der Erziehung und Schule, deren "strukturierender, binärer Ordnungslogik" Kinder und Jugendliche unterworfen werden;

  • in interkulturellen Erziehungskonzeptionen, die Kulturdifferenzen betont, d.h. Kultur hypostasiert und Reethnisierungsprozesse als Reaktionsbildung gegen die Dominanzkultur befördert.

II. Das ethische Problem - Differenzierungserfahrungen als ethische Ereignisse

Ich komme zu einer weiteren Erfahrung, die eine neue, nämlich die ethische Dimension von Differenz eröffnet im Anschluß an Lévinas. Da grüßt mich ein anderer Mensch oder steht als Gast vor der Tür und bittet um Einlaß, stellt mir eine Frage in der Hoffnung auf Antwort, berührt meine Hand und appelliert an meine Zuwendung! Solche und ähnliche Ereignisse sind alltäglich, und doch gelten sie in ethischer Hinsicht aus der Sicht von Lévinas als prototypische Ereignisse der Verantwortung für den Anderen. In jeder sozialen Ordnung oder Beziehung bricht eine Differenzerfahrung auf, die diskontinuierlich und anarchisch ist, denn sie entgeht jedem Vorwissen, jeder Vorerwartung, jeder Regelung oder Ritualisierung und setzt überhaupt jedes Ordnungsgeschehen erst ein. Anarchisch, d.h. außer-ordentlich ist nicht das Was, die jeweilige Bedeutung des Grüßens, der Bitte, der Berührungen usw., sondern das Daß, das Faktum. Denn unerwartet und unvorbereitet trifft mich der grüßende Blick des Anderen, die Bitte auf Einlaß, und ihnen gegenüber bin ich eine Antwort schuldig. Verantwortung ist nicht die, die wir von uns aus ergreifen, so wie wir sie in der uns gewohnten abendländischen Tradition bestimmt haben, nämlich als advokatorische, in pädagogischen Zusammenhängen als stellvertretende im wohlmeinenden Besserwissen oder Besserkönnen gegenüber dem Noch-nicht-Erwachsenen. Verantwortung ist hier im Gegenteil eine Gabe des Anderen, die wir im wortwörtlichen Sinne übernehmen, die es uns ermöglicht, eine Antwort zu geben, das heißt ethisch handeln zu können. Dieses Können können wir nicht selbst können, diese Möglichkeit wird uns erst geboten.

Wie ist nun die Differenz zwischen mir und dem anderen zu bestimmen? Ist sie dann nicht asymmetrisch hinsichtlich der Möglichkeiten, die ich nicht habe, sondern die ich vom anderen her erhalte?

Wie zeigt sich hier Differenz?

  • als Kritik eines advokatorischen Pädagogikverständnisses: über die Belehrbarkeit des Erziehenden durch den Lernenden und die ethische Dimension von Erziehung vor jeder Normativität;

  • als Kritik an universalistischen oder auch kulturrelativen, an wie auch immer kulturell verankerten und legitimierten Normen und Leitvorstellungen, die als schon für die Erziehung vorhanden und "anwendbar" gewertet werden;

  • als Eröffnung auf vorprädikative Genealogien von Verbindlichkeit vor jeder Ordnung samt ihren Rechtfertigungstheorien. Verpflichtungen oder Verbindlichkeiten entstehen, bevor sie legitimiert werden können;

  • als generative Differenz im Sinne eines neuen Verständnisses von Generation: Die Zeit unserer Kinder ist nicht unsere Zeit, sie entzieht sich uns in der Beziehung, genauso wie unsere Kinder nicht "unsere" Kinder sind, die uns "gehören" (ein possessives Verhältnis), sondern sie sind unsere Kinder als "andere" Kinder, die das können werden, was wir nicht vermögen. Unsere Kinder als die Möglichkeiten, über die wir nicht verfügen, verweisen auf einen Riß in der Zeit. Generative Zeit ist diskontinuierliche Zeit. Nur so kann zeitliche und soziale Erfahrung etwas sein, in der Neues als radikal Neues entstehen kann, ohne daß es auf schon Bekanntes reduziert werden kann. Pädagogik als generativer Umgang der Generationen untereinander hat deshalb prinzipiellen Projektcharakter unter Bedingungen der Diskontuintät zwischen den Generationen.

III. Die Struktur der Dezentrierung als Differenzerfahrung in mir und zwischen mir und anderen

Da erfahre ich an mir selbst, daß ich mir fremd bin und bleibe. In gewisser Hinsicht bin ich ein Anderer, und Differenzereignisse und -erfahrungen bilden den Artikulationsuntergrund für alle möglichen Sinndeutungen, die persönlichsten eingeschlossen. Der eigene Leib in seinen natürlichen biologischen Rhythmen und Bedeutungen von Leben und Tod, Gesundheit, Älterwerden und Krankheit, in seinen sinnlichen Möglichkeiten entzieht sich weitgehend meinen bewußten Initiativen. Meine Stellungnahmen und Gestaltungsversuche kommen prinzipiell - z.B. beim Faktum meiner Geburt - zu spät oder bezogen auf den Tod zu früh. Selbst meine ureigensten Gedanken fallen mir ein, ohne daß ich sie schon hätte im Sinne der Verfügung, ähnliches gilt für Gefühle. Sie überkommen mich, oder ureigene Erinnerungen verblassen ohne mein Zutun oder werden wieder aktiv. Viele solcher ich-nahen Prozesse bleiben mir unverfügbar und sind unberechenbar. Sie machen darauf aufmerksam, daß Existenz bedeutet: Selbst-Entfremdungen ausgesetzt sein, und bewußtes Existieren heißt, sich erst nachträglich in ein Verhältnis zu sich selbst setzen zu können und damit dezentriert zu bleiben. Wir leben keineswegs immer, sondern nur ganz selten aus einer Bewußtseinsmitte heraus. Unser bewußtes Leben verdankt sich einem vielfältigen, heterogenen Diffenzierungsgeschehen von Sinnartikulationen in den unterschiedlichen Registern und Spannungsfeldern unserer leiblich-sinnlichen Erfahrungen. Das gilt auch für das intrapersonale Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind: Das erinnerte Kind, das man gewesen ist, ist nicht identisch mit dem präsenten, als das ich gelebt habe. Jede Deutungsarbeit erhält aufgrund der zeitlichen Differenzstruktur des diskontinuierlichen Prozesses der Zeitigung der menschlichen Existenz (Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft) unabschließbaren Entwurfcharakter. Authentizität und "Wahrheit" sind deshalb nur regulative Ideen, nicht aber faktische Möglichkeiten autobiographischer Rekonstruktionsversuche.

Ich komme auf eine weitere Erfahrung zu sprechen, mit der ich einen oben nur kurz erwähnten Aspekt etwas deutlicher kennzeichnen möchte: Wir sprechen zusammen oder handeln mit oder gegeneinander. Betrachten wir diese Geschehensweisen, die Waldenfels "Zwischenereignisse" nennt, aus der Prozeßperspektive, dann zeigt sich eine komplexe Struktur (vgl. dazu grundsätzlich Waldenfels 1994). Sie besteht nicht unglücklicherweise aus Brüchen oder Differenzen, die zu Verständigungsschwierigkeiten oder Handlungsproblemen führen, vielmehr stellen Brüche und Differenzen ihre ureigenen Möglichkeiten dar. Handeln oder Gespräche sind sozial geregelte Prozesse. Jedoch - die Partner interagieren nicht wie Marionetten einer übergeordneten Regelungsinstanz, als würden sie an Fäden gezogen und als hätten sie nach einem schon vorhandenen Skript ihre Rolle zu spielen. Im Gegenteil, weder stehen im Gespräch oder im Handeln die Ergebnisse schon fest, noch schreiben eindeutige Rollen das Spielverhalten und seine Ergebnisse vor. Ergebnisse bilden sich erst aufgrund eines komplizierten Geflechts von Interaktionen, und sie sind keineswegs auf die Initiativen oder Pläne des einzelnen zurückführbar: Im Gespräch bringt mich der andere auf neue Gedanken, die ich nicht schon hatte, und oft entsteht in der allmählichen Verfertigung der Rede (nach Kleist) im Angesicht des Publikums ein unerhörter Gedanke, der den Redner selbst überrascht. Hier deutet sich ein grundlegender Hiatus und eine grundlegende Asymmetrie zwischen den Partnern an, der, wie ich oben schon kurz angedeutet habe, anarchischen Charakter hat. Der Gesprächspartner stellt eine Frage und ergreift somit die Initiative. Kontextualisiert wie in der Phänomenologie üblich beginnt hier eine komplexe Struktur:

Was geht der Frage voraus - ein um Aufmerksamkeit heischender Blick seinerseits, eine Bereitschaftsgeste meinerseits, eine beidseitige Verlegenheit, die die Initiative motiviert? Steckt nicht in der Frage schon vor jedem Inhalt ein Appell, dem ich mich nicht entziehen kann und der meiner eigenen Initiative zuvorkommt, ein Appell, den ich schon vernommen habe, bevor ich auf ihn eingehe oder nicht eingehe? Bedeutet das nicht wiederum, daß sich mir der Fragende in gewisser Weise ausliefert, da er weder vorher weiß, ob und wie ich seine Frage aufgreife und welche Antwort ich ihm geben werde. Und bildet die Frage nicht in bestimmter Weise einen Möglichkeitsspielraum von Antworten oder Versuchen vor, in die ich durch sie versetzt werde und ohne die ich keinesfalls mich auf die Suche nach der Antwort gemacht hätte? Bin ich aber sicher, daß meine gefundene Antwort auch die gesuchte ist, wenn ich sie dem Frager übergebe, damit er sie prüfe? Entsteht nicht so wiederum ein neues asymmetrisches Spannungsfeld von Appell, Verpflichtung und Angewiesenheit?

Vielleicht ist aus dieser kleinen anfänglichen Strukturskizze das ethisch dimensionierte assymetrische Differenzverhältnis in sozialen Interaktionen deutlich geworden. Übliche Reziprozitäts- oder Dialogmodelle, wie man sie in vielen sozialen Theorien vorfindet, erweisen sich demgegenüber als simplifizierende Modelle. Begreift man jede Art von pädagogischer Interaktion und Kommunikation als "Zwischenereignisse", dann ist jede Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen durch eine radikale Differenz markiert. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit der Offenheit und Prozessualität des pädagogischen Feldes, und sie durchzieht auch jede soziale Form der Kontaktaufnahme zwischen Erwachsenen und Kindern, sei es die pädagogisch praktischen sei es die methodisch kontrollierten. Zwischenereignisse sind kommunikative Phänomene, die man nicht konstruktivistisch auf subjektive Konstrukte oder übersubjektive Regelhaftigkeiten zurückführen kann. Dann verlieren sie ihre sinngenerierende Funktion.

IV. Abschluß

"Differenz" ist für mich mehr als nur ein Modewort. Der Terminus reflektiert aus philosophischer Sicht ein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem: Hypostasiert als Strukturmerkmal menschlicher Kommunikation und Interaktion meint der Begriff mehr als bloß konkrete, das heißt merkmalsorientierte Differenzbestimmungen, die man allerorten, so auch in soziologischen oder erziehungswissenschaftlichen Theorien antrifft. In Frage stehen vielmehr grundsätzlich der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff und seine identitätsphilosophischen Voraussetzungen. Läuft nicht jede Erkenntnis auf Repräsentation von Wirklichkeit im homogenisierenden Raum ihrer Methoden und Begriffe hinaus? Setzt nicht jede Art von Erkenntnis zwangsläufig einen identifikatorischen, machtförmigen Mechanismus in Gang, der methodisch und systematisch instrumentiert alles Neue und Unbekannte auf das Selbe zurückführt und damit sie kolonialisiert, statt ihnen Respekt zu erweisen? Dagegen hilft nur die Kritik solcher kolonialisierenden Denkmodelle, von denen ich einige angeführt habe.

Natürlich kennen wir in den Sozial- und Erziehungswissenschaften Spielarten solcher kritischen Fragen durchaus, aber haben wir sie in ihrer Radikalität zur Kenntnis genommen? Eine letzte Frage: Gehen sie nicht an den Nerv jeder wissenschaftlichen Forschung? Fragwürdig im wortwörtlichen Sinne werden ja nicht bloß übliche Differenzkonstruktionen im Verhältnis von Wissenschaft und ihren Gegenständen bzw. Forschungsobjekten, die - wie auch immer bestimmt - in einem vorausgesetzten Ordnungsrahmen ausgehandelt und gewertet werden.

Wie kann man sich des Kolonialisierungsverdachtes erwehren, wie er angesichts der seit dem 19. Jahrhundert aufblühenden entwicklungspsychologischen Kindheitsforschung (vgl. zur Literatur Lippitz 1995) kritisch rekonstruiert wurde? Kolonialisierend wirken hier nicht allein naturwissenschaftliche Theorietraditionen, die sich aufgrund ihrer Methoden sowieso in Distanz zu ihren Forschungsobjekten halten und sie auf analytisch-empirisch reduzierte künstliche Segmente reduzieren; sondern raffinierter und damit unentrinnbarer scheinen gerade auch die hermeneutisch-qualitativen Methoden zu kolonialisieren, die sich als Feldforschung ganz in der Nähe ihrer Objekte aufhalten und ihnen eine eigene Sprache zugestehen. Zur Generalisierung verurteilt, kann man sich nicht mit dichten Narrationen begnügen, sondern es entstehen Typologien und Rasterungen, also Einordnungen, durch die die lebendige Gegenwart der Kinder aus der Theoriearbeit ausgetrieben wird. An die Stelle von erlebter Präsenz interaktiver Forschungsbeziehungen tritt die theoretische Repräsentation, auch schon wenn man sich daran begibt, solche Interaktionen zu verschriftlichen und damit anderen zugänglich zu machen. Ähnliche Differenzerfahrungen zeigen sich im sozialpädagogischen Kolonialisierungsverdacht gegenüber den keineswegs hochartistischen hermeneutischen Deutungsexperten, den man in den 80iger Jahren seitens der Sozialpädagogik hörte, die sich einer subjektnahen lebens- bzw. alltagsweltlichen Forschung verschrieben haben. Interessant ist für mich dabei die Artikulation von Differenz im Sinne eines theoretischen Ungenügens, die in immer neuen Wendungen sich zu Worte meldet: zum Beispiel als Differenz von Wissen und Erleben schon um die Jahrhundertwende; als unausweichliche Idealisierungspraxis jedweder Art von Theorie, die sich aus dieser Differenz heraus, aus dieser prinzipiellen Nachträglichkeit von Theorie als Re-Flexion konstituiert, als "Hinken" der philosophischen Reflexion gegenüber den Artikulationen vor- und nichtwissenschaftlicher, leiblich-sinnlicher Wahrnehmungsprozesse (in der phänomenologischen Tradition), als signikative Differenz in der Sprachphilosophie und der Kritik von Referenzmodellen in den Zeichentheorien. Interessant ist auch der Umschlag in den ethischen Diskurs: die Rede vom Respekt vor dem Anderen und Fremden, von der Akzeptanz seiner Nicht-Repräsentierbarkeit, die zugleich jedoch weiterhin an den verpflichtenden Appellcharakter jeder Art von sozialer Interaktion vor jeder bewußten Normierung gebunden bleibt.

Literatur

Lippitz, W.: Das Antlitz und der Leib des Anderen. Aspekte der Sozialität zwischen Generalität und Heterogenität. In: Marotzki, Sünker (Hrsg.).: Kritische Erziehungswissenschaft - Moderne - Postmoderne. Weinheim, S. 316-334.

Lippitz, W.: "Weil es schwer fällt zuzugeben, daß jenes Kind da ... in dir unerreichbar ist" (Christa Wolf). Das Problem der Authentizität in Autobiographien. In: Philosophie der Endlichkeit. Festschrift f.E.C.Schröder, hrsg. v. B. Niemeyer und D. Schütze. Königshausen & Neumann: Wiesbaden 1992, S.201-222

Lippitz, W.: "Fremd"-Verstehen - Irritationen pädagogischer Erfahrung. In: Neue Sammlung Heft 2, 1995

Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M. 1997

Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt/M. 1994

Der Autor

Prof. Dr. Wilfried Lippitz, geb. 1945, erstes und zweites Volkschullehrerexamen, 1975 Promotion in der Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück, 1980 Wissenschaftlicher Assistent an der an der Universität-Gesamthochschule bis 1982, 1980 Habilitation: Lehrbefugnis für Erziehungswissenschaft, bis 1987 befristete Professur in Siegen, 1987-94 stellvertret. Arbeitsbereichsleiter im AB Schulpädagogik/Erwachsenenbildung des Deutschen Instituts für Fernstudien (DIFF) an der Universität Tübingen, Honorarprofessor an der Universität Tübingen, zwischen 91-94 Vertretungsprofessuren in Jena, Kiel, Osnabrück, Abt. Vechta, 1994-96 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Hochschule Vechta.

Seit 1996 Ordinarius für Systematische/Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, Philosophie der Erziehung (in phänomenologischer Tradition), Kindheitsforschung, Pädagogische Anthropologie und Ethik, Interkulturelle Erziehung.

Zahlreiche Buch- und Aufsatzpublikationen in den genannten Bereichen, u.a. 1980 "Lebenswelt" oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze eines phänomenologisch begründeten anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Denkens in der Erziehungswissenschaft (Habil.-Schrift); in Herausgeberschaften zusammen mit K. Meyer-Drawe "Lernen und seine Horizonte (3. Aufl. 1984) "Kind und Welt" (2. Aufl. 1986), 1990 zusammen mit Chr. Rittelmeyer "Phänomene des Kinderlebens" (2 Aufl.), 1995 zusammen mit E. Papp "MenschensKinder - im internationalen Jahr der Familie 1994"; Autor von: Phänomenologische Studien in der Pädagogik 1993. Mitherausgeber des Jahrbuchs für Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Schneider: Hohengehren 1. Bd. 1998

Justus-Liebig-Universität Gießen

Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften

Karl-Glöckner-Straße 21B

D-35394 Gießen

Quelle:

Wilfried Lippitz: Differenz -"Konstruktionen" - Grundsätzliche Überlegungen zu Differenzerfahrungen im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.01.2006

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