Piaget, Normal-Entwicklung, individuelle Erfahrung

Überlegungen und Bilanzierungen für ("Sonder"-) Schulen und Pädagogen

Autor:in - Ernst Begemann
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/98. Thema: Das Zusammenspiel von Denken und Fühlen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/1998)
Copyright: © Ernst Begemann 1998

Zur Einführung

Piaget wird als einer der großen (Entwicklungs-)Psychologen unseres Jahrhunderts erst in den letzten Jahrzehnten von der "Sonder"-Schulpädagogik rezipiert. Dabei scheint für viele Lehrer die Kennzeichnung der Stufen der kognitiven Entwicklung durch Piaget als gültig und deshalb als verbindlich für pädagogische Praxis. Internationale kritische Auseinandersetzung mit Piaget ist erst in den letzten Jahren in Deutschland aufgenommen (vgl. nur Herzog 1991 und Edelstein/Hoppe-Graf 1993). Ich versuche deshalb in notwendiger Kürze zur Orientierung eine Referierung und Bilanzierung entscheidender Aussagen von Piaget. Da Piaget als "Entwicklungspsychologe" rezipiert wurde, erscheint es mir notwendig, eine weitere Orientierung zu versuchen: Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vorstellung, daß es eine "Normalentwicklung" gebe, die für die Beurteilung, Zielstellung und Einstufung von Schülern wie für die Schulpädagogik und die Organisation von Schülern Maßstab sein könne.

Eine Alternative zur "Normalentwicklung", besonders für die Bestimmung der Lern- und Förderangebote, ist deshalb notwendig. Sie kann aber nicht schon in der Feststellung der "Lernvoraussetzungen" der Schüler gesehen werden, denn, was ein Schüler kann, sagt nichts darüber aus, was er lernen könnte, und sagt ebenso nichts darüber aus, was er lebensnotwendig lernen sollte. Das kann man, Schüler wie Lehrer, erst erfahren, wenn der Schüler es, evtl. mit "Lernbegleitung", selbst und auf seine Weise versucht. Daß es kein typisches Lernverhalten "Lernbehinderter" gibt, hat schon Klauer (1966, 8) herausgestellt, wenn er aufgrund empirischer Untersuchungen feststellt, "daß die Schwachsinnigen die gleichen Lernleistungen vollbrachten wie die normalen Kinder , (...) daß bei Schwachsinnigen keine globale, sondern eine aufgabenspezifische Lernbehinderung vorliege." In der 4. Auflage 1975 wird die Aussage mit Bezug auf weitere Untersuchungen ausführlicher bestätigt. Bekannter geworden ist die Argumentation und Formulierung von Kanter: "Es gibt keine globale Lernfähigkeit des Menschen und damit umgekehrt keinen globalen Mangel an Lernfähigkeit im Sinne einer generellen Lernbehinderung. Vielmehr ist von aufgabenspezifischen Schwierigkeiten auszugehen" (Kanter 1977, 47).

Ich erinnere weiter an Beobachtungen, daß die einzelnen Schüler ihr Vorgehen variieren. Ich nehme u.a. auch das als Erweis dafür, daß man keine "schulartspezifischen" Eigenarten und keine "typischen" Schüler vorfindet. Ich nehme damit auch an, daß es keine "normale" Entwicklung gibt. Immer haben Lehrer es mit heranwachsenden eigenartigen Menschen zu tun, die individuell spezifisch lernen und wahrnehmen, die immer ihre je eigene individuelle Erfahrung machen und machen können als "Eigenwelterweiterung" in "Subjektiven Erfahrungsbereichen" (Bauersfeld). Daraus ergeben sich - bzw. ich schließe noch an weitere - kritische Hinweise auf das Jahrgangsklassensystem und seine Handhabung. Unser Schulsystem geht offensichtlich davon aus, daß es unterschiedlich "begabte" Schüler und Schülergruppen gibt. Daß das eine Illusion ist, habe ich schon gesagt. Die schulische Realität zeigt aber oft kaum bedachte Wirkungen. Einige benenne ich und schließe mit für mich überraschenden Hinweisen auf "weitere" Absichten, die man mit dem Jahrgangsklassenmodell erreichen wollte: den einheitlichen "Staatsbürger".

Zu Piaget und seiner Rezeption

Zur Einleitung

Eine kritische Bilanzierung von Piagets Aussagen zu "Entwicklungsstufen"möchte ich mit einer grundsätzlichen knappen Würdigung beginnen. Piagets Bedeutung für die ("Sonder"-) Pädagogik kann man unter drei Stichworten betrachten. (1) Piagets Stufen der kognitiven Entwicklung. Sie standen weithin im Vordergrund, wurden als gültig angesehen und als Norm für Unterrichtskonzepte angenommen. Daß sie diesen Ansprüchen nicht genügen (können), wurde trotz veröffentlichter internationaler Kritik (hier nur: Driver 1978) nicht zureichend zur Kenntnis genommen. Daß Piaget selbst diesen Anspruch nicht erhob, wurde übersehen. Eine kritische Orientierung über die "Entwicklungsstufen" soll im folgenden geleistet werden.

Das nächste Stichwort: (2) Piagets Konzept der Intelligenzentwicklung. Ich frage hier nur, warum das nicht in der "Sonderpädagogik" rezipiert wurde, denn es hätte eine Alternative zu der pädagogisch unangemessenen und unergiebigen Feststellung von "Intelligenz"-Quotienten mit standardisierten Testverfahren sein können. Man könnte dieses Konzept als dynamisch und genetisch bezeichnen, denn es unterstellt die lebenslang durch "Selbsttätigkeit" des Individuums erworbenen Befähigungen.

Und damit bin ich bei dem (3) Stichwort, Piagets entscheidender Einsicht: Menschliches Erkennen ist an sinnstiftende Aktivität des Individuums gebunden. Das sollte bei allen folgenden Aussagen bewußt bleiben. Deshalb führe ich es mit einem Zitat von Varela noch weiter aus: "Piagets bleibende Leistung besteht darin, uns ein für alle Mal darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß Erkennen - selbst auf seinen vermeintlich höchsten Ebenen - in der konkreten, alltäglichen Tätigkeit des ganzen Organismus, das heißt in sensumotorischen Verknüpfungen gründet. Die Welt ist uns nicht einfach gegeben, sondern sie ist etwas, auf das wir uns einlassen, indem wir uns in ihr bewegen, sie anfassen, einatmen und essen. Aus diesem Grunde spreche ich gerne vom Erkennen als Vollzug. Damit soll angedeutet werden, daß Erkenntnis durch den konkreten Umgang mit der Umwelt hervorgebracht wird" (Varela 1994, 15).Und das ist keine Leistung, die man als isolierbare kognitive deuten kann. Es ist, wie Varela es nennt, "verleiblichte" Erfahrung, die in neuen Situationen wieder zur Verfügung stehen kann. Und insofern könnte man sagen: Ein Mensch ist zu jedem Zeitpunkt das, was er bisher erfahren, erlebt, gelebt hat. Das ist seine Ausgangssituation in neuen situativen Anforderungen und nicht eine - wie auch immer begründete - "normale" Entwicklung.

Zur Gültigkeit der Stufen der kognitiven Entwicklung

Piagets Konzept der kognitiven Entwicklung ist in der deutschen "Sonderpädagogik" spät rezipiert (hier nur: Jetter 1975, Wember 1986). Für viele gelten die vier Entwicklungsstufen von der sensumotorischen bis zur operativen Phase als gültige Beschreibung der menschlichen Entwicklung, die auch von der ("Sonder"-) Pädagogik als verbindliche Basis der Feststellung von Normabweichungen wie als Zielmodell, von dem aus die Förderung bestimmt werden kann (vgl. Kutzer mit seinem Konzept des struktur- und niveauorientierten Unterrichts).

Regine Kather (16.02.1997) versucht in einem knappen Bericht eine kritische Würdigung. "Es ist das unbestrittene Verdienst Piagets, als erster darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß im Laufe der menschlichen Entwicklung die Wirklichkeit durch unterschiedliche Schemata geordnet wird. Um diese zu untersuchen, brachte er Kinder durch eine gezielte Fragestellung in eine Wahlsituation, - etwa die, ob sich beim Umgießen einer Flüssigkeit in ein anderes Gefäß die Menge ändert. Dabei ging Piaget davon aus, daß sich einzelne Begriffe, etwa der der Mengenerhaltung, isoliert untersuchen lassen. So kam er zu dem Ergebnis, daß sich die Intelligenz streng hierarchisch in vier Stufen entwickelt. Verzichtet man bei den Aufgaben auf die willkürliche Isolation einzelner Fähigkeiten, dann ergibt sich ein etwas anderes Bild von der Dynamik der Intelligenz: Um eine alltägliche Situation zu bewältigen, werden immer schon verschiedene Fähigkeiten gleichzeitig gefordert. Schon kleine Kinder kombinieren mehrere Elemente einer Beobachtung miteinander. Sie können also, so schließt Friedrich Wilkening aus Tübingen, durchaus schon operativ verfahren; sie gewichten allerdings die verschiedenen Informationen anders und verknüpfen sie nach anderen Regeln als Erwachsene" (Kather 1997, 13).

"In einem viel zu wenig beachteten Beitrag über die ‚Bereichsspezifität formaler Denkstrukturen' übte T. B. Seiler (1973) Kritik an der Piagetschen Theorie des formalen Denkens", urteilt Bauersfeld (1983, 13), und damit zugleich an dem "unbeschränkten Allgemeinheitsanspruch der ‚operativen Schemata'"(...). Seiler entkräftete die Vorstellung, daß ein Individuum die Fähigkeiten eines einmal erworbenen Denkniveaus "konsequent und in allen Situationen und Problemen anwendet" (ebd.). Seiler selbst: "Jedes individuelle kognitive System ist in seinem Wesen nach beschränkt auf die Situationen, in denen es erarbeitet wurde und auf die Elemente und ihre Beziehungen, die es strukturiert (1973, 266) und, das heißt, in diesen Situationen verfügbar macht. Das ist eine der wichtigen Erkenntnisse, die Bauersfeld in seinem Begriff der "Subjektiven Erfahrungsbereiche" zusammenfaßt. Seiler definiert: "Bereichsspezifität impliziert, daß formale Denkoperationen bei jedem Individuum in seiner Auseinandersetzung mit spezifischen Problemen entstehen, die Konsequenz seiner einmaligen und individuellen Lebensgeschichte sind, (...)daß diese formalen Operationen nie eine uneingeschränkte, alle Probleme und Problembereiche umfassende Generalität annehmen, (...) daß auch im selben Bereich ein formales Denksystem nicht alle theoretisch darin eingeschlossenen Unter- und Teilsysteme enthält. (...) daß in ein und demselben Individuum bezüglich ein und desselben Gegenstandsbereiches unterschiedliche formale Denk- und Lösungssysteme nebeneinander bestehen" (Seiler 1973, 268), die je nach Situation, Aufgabe, Handlungs- oder Symbolbereich abgerufen werden können. "Diese Aktualisierung unterschiedlich differenzierter und integrierter Struktursysteme hängt selbst wieder mit der Bereichspezifität der einzelnen Systeme und ihrer Bindung an spezifische situative und motivationale Faktoren und Bedingungen zusammen" (ebd.).

Ein weiterer Kritikpunkt ist nach Kather, daß Piaget sich nicht für die Veränderungen der Schemata der Intelligenz bei Erwachsenen interessiert habe. Außerdem: "Anders als Piaget dachte, scheinen die verschiedenen Facetten der Intelligenz vergleichsweise unabhängig voneinander zu sein. Die Entwicklung der Intelligenz vollzieht sich nicht in streng hierarchisch aufeinanderfolgenden Stufen, sondern durch eine kontinuierliche Ausweitung und Verzahnung mit anderen Fähigkeiten. In den meisten Situationen sind sensomotorische, kognitive und soziale Intelligenz, Gefühle, Werte und Ziele gleichzeitig gefordert. ‚In Piagets Terminologie', so resümiert Wilkening, ‚können sensomotorische Schemata, konkrete Operationen und formale Operationen zusammenarbeiten und tun dies gewöhnlich auch' (Wilkening/Anderson 1991, 21f.). Das Bemühen, in den Ereignissen einen sinnvollen Zusammenhang zu entdecken und sie durch eine schöpferische Konstruktion zu erklären, teilt das Kind mit dem Erwachsenen; die Form, in der es das tut und damit die Wahrnehmung der Wirklichkeit, unterscheidet sich in den einzelnen Lebensphasen tiefgreifend" (Kather 1997, 14 f.), so nehmen Wilkening/Anderson weiter an.

Mit der Argumentation dieses Abschnitts möchte ich nicht die Vorstellung bestätigen, daß es doch sinnvoll ist, eine allgemeine Intelligenz anzunehmen. Piaget selbst vertritt ein anderes Konzept als es von den verschiedenen Intelligenztestautoren mit ihren jeweils unterschiedlichen Konzepten konstruiert wird, die ich auch als "statisch" bezeichnen könnte. Piaget vertritt ein genetisches, prozeßhaftes Konzept. Es kann mit dem biographischen Lernen eines Individuums "identisch" gesehen werden. Der 72jährige Piaget selbst definiert in seinem Glossar zu seinen Vorlesungen von 1968 so: "Im weiten Sinne die Gesamtheit möglicher Koordinationen, die das Verhalten eines Organismus strukturieren. Betrachtet man Intelligenz als eine Totalität, so charakterisiert sie eine bestimmte Stufe, die durch formale, reflektierte Abstraktion aus den praktisch vollzogenen Koordinationen einer vorausgegangenen Stufe entstanden ist (...)" (Piaget 1973, 98.) Mein Fazit: Was Piaget beschreibt, könnte ich so verstehen: Es ist das, was ein Mensch gelernt hat und zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens deshalb kann. Das Stufenmodell aber, das dabei auch angesprochen ist, ist nicht als gültig einzuschätzen und nicht zu übernehmen. Das möchte ich im folgenden ausführen.

Piagets "Entwicklungsstufen" sind pädagogisch nicht nutzbar

Wie kaum ein anderer hat Hans Aebli versucht, Piagets "Entwicklungspsychologie" für didaktische Konzepte zu nutzen und eine sogenannte "operative Methode" zu konzipieren, für die mathematische Unterrichtswerke entwickelt und in Grundschulen zum Einsatz kamen (vgl. zur Effektivität M. Wittoch 1973). Und das war Aebli nur möglich, weil er ein Konzept entwickelte, das "über Piaget hinaus" (Aebli 1970 a) sein mußte, weil er bei Piaget Widersprüchlichkeiten ausgemacht hatte: "Wenn Piaget in seinen genetischen Untersuchungen nachweist, daß in einem bestimmten Alter eine Operation vorhanden ist, so braucht sie dem Kind nicht mehr beigebracht zu werden. Wenn die Operation aber noch nicht vorhanden ist, so kann sie ihm noch nicht beigebracht werden. Im einen Fall hat die spontane Entwicklung das Kind soweit gebracht, daß es die Operation oder den Begriff meistert und richtig verwendet, im anderen Fall ist die Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten, daß es den Begriff erwerben kann" (Aebli 1963, 88).

Walter Herzog, dem ich diesen Hinweis verdanke, zeigt, daß es ein Mißverständnis ist, wenn man Piaget als Entwicklungspsychologen versteht, der eine Reifungstheorie vertrete, "die ein für allemal festlegt, wie das Aufwachsen des Kindes vor sich geht" (1991, 288). Und Herzog fügt an: "Aebli hat zwar recht, wenn er Piaget nicht von der Theorie der kognitiven Stufen her rezipiert. Doch er hat unrecht, wenn er glaubt, sich deshalb von Piagets Entwicklungspsychologie abwenden zu müssen. (...) Die Voreingenommenheit gegenüber Piaget läßt wesentliche Züge seines Denkens unbeachtet, insbesondere seine Epistemologie und seine Anthropologie. Genau hier aber müßte die Rezeption Piagets ansetzen" (ebd.). Denn Piagets lebenslanges Grundanliegen sei Erkenntnistheorie (Epistemologie) und seine genetische Entwicklungspsychologie stehe in dessen Diensten bzw. habe sich daraus ergeben. Piaget sei Wissenschaftstheoretiker.

"Was Piaget als Psychologe vorgelegt hat, ist nämlich keineswegs eine Darstellung ‚der' kognitiven Entwicklung" (Herzog 1991, 290; Hervorhebung, E.B.). Piaget fragt danach, wie Menschen zu höherer, theoretischer, wissenschaftlicher Erkenntnis kommen. Was höhere von niederer Erkenntnis unterscheidet, will er als Psychologe nicht entscheiden. Das haben Spezialisten oder Logiker zu tun. Damit unterstellt er aber zugleich, daß man höhere von niederer Erkenntnis unterscheiden könne, daß es dabei um isolierbare kognitive Erkenntnisse gehe, die in der Regel auch sprachlich, begrifflich gefaßt werden (können). Er unterstellt auch, daß Kinder die höhere Erkenntnisstufe noch nicht haben, sondern sie "erwerben" müssen bzw. daß sie sich "entwickeln" (unter bestimmten Bedingungen).

Piaget entwarf theoretische Modelle der kognitiven Entwicklung und wollte sie durch empirische Tatsachen stützen. Dazu benötigte er entwicklungspsychologisches Material. Die Tatsachenfragen Piagets für seine "entwicklungspsychologischen" Untersuchungen werden aus den theoretischen Konstrukten abgeleitet. "Piaget hat nie "reine" Tatsachen erhoben, sondern immer Tatsachen, die auf einen terminus ad quem (Zeitpunkt, von dem an etwas beginnt bzw. ausgeführt wird, E.B.) ausgerichtet waren, nämlich die voll entwickelten Schemata des wissenschaftlichen Denkens" (Herzog 1991, 290). Herzog erläutert weiter: Piagets "empirische Forschung hatte daher nie die Aufgabe, "die" kognitive Entwicklung zu untersuchen. Ihr Anspruch ist bescheidener. Sie soll ausfindig machen, ob es Entwicklungsverläufe gibt, die als Annäherungen an das vorgängig definierte Ziel der Entwicklung rekonstruiert werden können. Damit läßt sich nicht ausschließen, daß es andere Pfade der Entwicklung gibt" (1991, 291).

Zwischenbilanz: Piaget hat mit seinem Strukturschema nicht die für alle gültigen Stufen der kognitiven Entwicklung aufgezeigt oder aufzeigen wollen. Er hat das nicht beansprucht. Sein Ansatz ist erkenntnistheoretisch konstruktiv und deduktiv. Er suchte Belege für vorher erdachte Erkenntnisstufen. Die "höheren" kognitiven Erkenntnisse hat er nicht selbst "gefunden", sondern von Wissenschaftlern übernommen. Wenn man In-Frage-stellen muß, ob es bei Menschen in ihren jeweiligen situativen, leiblichen Handlungen isolierte kognitive Funktionen gibt, die unabhängig von der Situation, ihren Inhalten und den Intentionen sind, wird die Begrenztheit dieses Aspektes der Piagetschen Forschungen erkennbar.

Ebenso, wenn man unterstellen muß, daß Kinder durchaus gedanklich "anspruchsvoll" und sinnvoll in ihren Lebenssituationen denken und handeln, wie wir grundsätzlich annehmen müssen und alltäglich erfahren können. Die forschungsmethodischen Einwände habe ich mit Driver schon ausführlich vorgetragen (Begemann 1988, 289-298). Piagets eminente Bedeutung für die Pädagogik liegt also nicht in seiner konkreten Entwicklungspsychologie, sondern in dem Aufweis des Zusammenhanges von Eigentätigkeit und individueller "Genese". Dabei müßte ich aber ergänzen: Die Tätigkeit muß eine Selbsttätigkeit sein. Das meint nicht nur, selbst ausüben, sondern aus existentieller Betroffenheit intentional ausgerichtet sein und ein Problem, eine Aufgabe o.ä. verantwortlich "lösen" zu wollen, so daß es zu einer Eigenwelterweiterung kommen kann.

Piaget und die soziale Umwelt

Ich referiere hier die Zusammenfassung von Herzog. Er urteilt: Piaget habe "immer wieder deutlich gemacht, daß die kognitive Entwicklung ohne den Einfluß der sozialen Interaktion nicht verständlich ist. Ohne soziale Beziehungen würde das Individuum die verschiedenen Formen seines Egozentrismus nicht überwinden können" (1991, 292). Trotzdem könne nicht übersehen werden, "daß Piaget die konkrete Analyse sozialer Einflüsse vernachlässigt hat. Damit hat er dem Mißverständnis, seine Theorie sei eine Reifungstheorie Vorschub geleistet" (ebd.). "Deutlich gesehen werden muß allerdings, daß Piaget das Soziale als Kausalfaktor abgelehnt hat. Sowohl die physische wie die soziale Umwelt können immer nur Anlaß für Entwicklung sein, nie deren Ursache. (...) Die Bedeutung der sozialen Umwelt für die kognitive Entwicklung liegt genau darin, daß sie dem Individuum ein Ziel vorgibt und einen Rahmen schafft, innerhalb dessen es das Ziel erreichen kann. Das Ziel ist das naturwissenschaftliche Denken. Der Rahmen sind die pädagogischen Stützsysteme, die dem Individuum helfen, sich auf das Ziel hin zu bewegen. (...)

So gesehen ist Piagets Theorie eine eminent pädagogische Theorie, auch wenn sich nun die Frage stellt, ob Piagets Zielvorgabe, die wissenschaftstheoretisch legitimiert ist, auch pädagogisch gerechtfertigt ist" (ebd.).

In diesen Aussagen wird der Mensch vor allem als einseitiges kognitives Erkenntnissubjekt gesehen, das in den Interaktionen seine kognitiven Strukturen entwickelt. Es wird noch nicht wahrgenommen, daß Kinder von Anfang an in der Gestaltung gemeinsamer Lebenswirklichkeit ihre eigenen Lebensformen gestalten und daß dabei "Kognition" nicht als eigene Struktur isolierbar ist, die von dem übrigen "leiblichen" Handeln und Sein abtrennbar wäre. Es kann danach nicht um eine mehr oder weniger normale Entwicklung von kognitiven oder anderen Fähigkeitsstrukturen gehen, sondern immer nur um Befähigungen für Lebenssituationen und in ihnen und um ihre Erweiterungen. Davon hat aber Piaget offensichtlich schon viel erkannt.

Zur Rolle des Subjekts

Herzog macht in seiner philosophisch orientierten Abhandlung deutlich, daß Piaget "ein neues Verständnis menschlicher Subjektivität" (1991, 302) ermöglicht habe. Das Subjekt sei nach Piaget zu Anfang nicht mehr als ein "Zentrum des Funktionierens" (Piaget 1973, 68f.). Seine kognitiven Strukturen sind unlösbar mit und in den Tätigkeiten des Subjekts (Piaget 1973, 138). Dabei hat er die Möglichkeiten eines Säuglings zu Initiative und Aktion noch nicht gekannt. Er geht noch davon aus, daß ein neugeborener Mensch als leiblich-organismisches Subjekt beginnt. Danach gewinnt er dann seine, ich müßte sagen, weiteren kognitiven Möglichkeiten durch Erfahrung und Entwicklung. Beides könnte ich nicht mehr als getrennte Prozesse sehen. Unabweisbar und allgemeingültig ist Piagets Einsicht, daß jeder Mensch sein Leben selbst durch Aktivität verwirklichen muß. Nicht jeder möchte vielleicht den nächsten Schritt mit nachvollziehen, der Piagets zentrale und wohl auch gültige Aussage betrifft, daß der einzelne Mensch seine Erkenntnis durch sein Handeln konstruiert, daß Erkenntnissubjektive Konstruktion ist (Piaget 1974, 374). Daß dabei offen ist, was Subjekt ist und ob das Subjekt sein Handeln ganz bestimmen kann, könnte man auch offener formulieren. Erkenntnis wird dem einzelnen in Lebens- und Tätigkeitssituation als "Konstruktion" nicht als Abbild einer objektiven Welt, sondern als gestaltende Deutung und damit als "Konstruktion" (gegeben).

Egozentrismus

Herzog macht auf ein Mißverständnis aufmerksam: "Egozentrismus meint nicht (...) Autismus, Solipsimus oder Narzismus. Egozentrismus ist der naive Glaube" (1991, 304), wenn ein Kind davon ausgeht, "daß "seine" Welt "die" Welt ist. Es ist keineswegs auf sich selbst bezogen - im Gegenteil. Es lebt in der "natürlichen Einstellung", für die die Welt von Anbeginn keine Privatwelt ist, 'sondern eine intersubjektive Welt, die uns allen gemeinsam ist' (Schütz 1971, 239). Egozentrismus meint die Unfähigkeit zu dezentrieren (Piaget 1982, 13) und den eigenen Standpunkt vom Standpunkt anderer zu unterscheiden. Der Egozentrismus stammt'... absolut nicht aus einem Individualismus, der den Beziehungen zu anderen vorausgeht ...'(ebd., 14)" (Herzog 1991, 304f.). Der Egozentrismus kann sich auch nach Piaget überwinden lassen im Handeln, denn Handeln ist immer auch Interaktion und damit das Erleben der eigenen Grenzen, des eigenen Teilseins, das Angewiesensein auf die Mitwelt.

Herzogs Bilanz

"Piaget hat sich kaum für das Nebeneinander verschiedener Erkenntnisformen interessiert. (...) Das Weltbild des Kindes ändert sich in Abhängigkeit vom Fortschritt der kognitiven Entwicklung. (...) Auch Erwachsene denken nicht permanent formal-operational. Die sensomotorische Intelligenz bleibt das ganze Leben wirksam, denn wir können uns von unserer Körperlichkeit nicht befreien. Ähnliches gilt für das anschauliche Denken. (...) Wir entkommen der Zeitlichkeit unserer Seinsweise nicht, auch wenn uns unser Denken eine relative Freiheit von der Zeit ermöglicht. Deshalb kann eine pädagogische Theorie, die die Bildung von persönlicher Identität und moralischer Subjektivität nicht übergehen will (...), ihren Focus nicht - wie die genetische Epistemologie Piagets - auf das formal-operational Denken allein richten" (Herzog 1991, 306f.). "Piagets rekonstruktive Perspektive auf die kognitive Entwicklung ist aufgrund ihrer erkenntnistheoretische Verengung nicht in der Lage, den Pluralismus moderner bzw. postmoderner Subjektivität adäquat zu fassen. (...) Soll dabei die Wissenschaft ihre bildende Funktion behalten, so hat die Pädagogik sorgfältig darauf zu achten, das wissenschaftliche Denken in die Pluralität der Lebenswelt (der Schüler, E.B.) einzulassen.(...) Bildung besteht darin, das Gewohnte "mit anderen Augen" (Plessner) zu sehen. Sie kann nicht darin bestehen, einem Schüler etwas beizubringen, als ginge es darum, eine tabula rasa zu beschriften. Der Schüler weiß bereits. Er kommt als lebensweltlich Wissender in die Schule. Eine Pädagogik, die sich um das lebensweltliche Wissen nicht bemüht, ist zum vorneherein zum Scheitern verurteilt" (Herzog 1991, 307f.).

"Das Wissen der Schüler kann ein Hindernis sein, das den schulischen Bildungsprozeß erschwert. Piaget zeigt sich nicht interessiert an solchen "Erkenntnishindernissen" (Bachelard). Sein auf das Endziel der Entwicklung gerichteter Blick läßt die Schwierigkeiten des Entwicklungsprozesses übersehen. Der Pädagoge aber ist darauf angewiesen zu wissen, was die Entwicklung erschwert" (308). "Soll der Mensch gebildet werden, dann darf er nicht in seiner epistemischen Kompetenz allein gefördert werden" (309). "Piagets Perspektive ist zweifellos ungenügend, um eine Bildungstheorie zu begründen. Aber nicht, weil er dem Lehrer zuwenig Handlungsanweisungen gibt, sondern weil uns in der Schule nicht bloß epistemische Subjekte begegnen", soweit Herzog (1991, 309).

Lernen in Abhängigkeit von einer "Normalentwicklung"

Zur ("sonder"-)pädagogischen Problematik

Die Vorstellung, daß es für den Menschen so etwas wie eine Normalentwicklung gebe bzw. geben könne, ist erst neueren Datums. Eine differenzierte Entwicklungspsychologie wurde erst in unserem Jahrhundert entwickelt, durch die aus empirischen Beobachtungen Strukturen und Normen erfaßt werden sollten, die wiederum für die Erziehung maßgebend sein könnten. Das Ziel einer altersgemäß gestuften Schule hat sich erst langsam in den letzten Jahrhunderten als Vorstellung herausgebildet. Im Mittelalter war diese Vorstellung nicht vorhanden. Die Realisierung der Jahrgangsklassenschule begann in den Gymnasien und dann in den großen Volksschulen der Städte. Erst in den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wurde sie als Organisationsmodell allgemein durchgesetzt. Damit im Zusammenhang ist wohl auch zu sehen, daß die Vorstellung einer Normalentwicklung Allgemeingut wurde und nicht nur von Schulpädagogen als selbstverständliche "Grundlage" vieler Beobachtungen und Einschätzungen angenommen wurde.

Das ist kritisch zu kommentieren, denn: Die als "entwicklungspsychologische", empirisch erhobenen Daten stellen nur fest, was unter bestimmten Fragestellungen mit bestimmten Methoden zu beobachten war. Diese Beobachtungen spiegeln wider, was die beobachteten Menschen in ihrer Biographie in ganz bestimmten sozio-kulturellen Lebensbedingungen haben lernen können und wollen. Da die soziokulturellen Verhältnisse sich epochal dauernd verändern, sich zwischen verschiedenen Ländern unterscheiden und auch innerhalb eines Landes sehr heterogen sind, sodaß man von vielen subkulturellen Lebensräumen ausgehen muß, die für die einzelnen Wohnorte und Familien wiederum erhebliche Variationen zulassen, ist eine Altersnorm bzw. Normalentwicklung nicht anzunehmen.

Empirische Daten können dem Pädagogen deshalb nicht anzeigen, was er tun soll oder kann. Die Vorstellung, daß der Mensch in jeweils verschiedenen Altersstufen ein jeweils dieser Altersstufe entsprechendes typisches Verhalten zeigen müsse, ist auch fallen zu lassen. Alterstypisches Verhalten ist nicht biologisch determiniert, sondern, wenn beobachtbar, Ergebnis bestimmter sozio-kultureller Lebensbedingungen und -erwartungen. Hinzuzufügen ist weiterhin: Heutige pädagogische Vorstellungen von Kindern und Erwachsenen waren im Abendland nicht ursprünglich. Sie sind auch nicht einfach eine Ableitung biologischer Entwicklung, sondern ein kulturelles Konzept. Die Kindheit als eine spezifische Lebensform ist eine abendländische Erfindung (vgl. nur Postman 1983; Gstettner 1981; Neumann 1981). Daraus ergibt sich notwendigerweise, daß die Entwicklungspsychologie für Pädagogen und Schule bzw. Lehrpläne keine harten verbindlichen Fakten erheben kann oder erhoben hat. Ihre bisherigen Daten müßten im Rahmen der sozio-kulturellen Lebensverhältnisse, aus denen sie stammen, neu interpretiert bzw. kommentiert werden. Diese Daten müßten auch im Zusammenhang mit dem Erhebungskonzept und den eingesetzten Methoden kritisch analysiert und interpretiert werden.

Wenn es demnach keine für alle Heranwachsende gültige Entwicklungspsychologie geben kann, die eine verbindliche Normalentwicklung darstellt bzw. darstellen kann, dann ist zu fragen: Aus welchen sozio-kulturellen Lebensverhältnissen ist die bisher als gültig angenommene Normalentwicklung erhoben? Für welche Heranwachsenden hat diese Normierung Nachteile gebracht, indem ihre Entwicklung falsch gedeutet, evtl. als retardiert, unvollständig, lückenhaft usw. bezeichnet wurde. "Feststellungen" konnten sich auch"sonderpädagogisch" auswirken, weil Abweichungen von der Norm in bestimmten "sonderpädagogischen" Konzepten als Kennzeichen von "Behinderten" angenommen wurden, weil für Normabweichler institutionelle Konsequenzen die Regelwaren. Die Normalschule nahm sich ihrer besonders an in Förderkursen oder Niveaugruppen. Sie konnte sie auch im Bewußtsein, wissenschaftlich legitim zu handeln, an besondere Institutionen abgeben /abschieben: Sonderschulen usw. Die Regelschule selbst und ihr Normalkonzept waren nicht infrage gestellt, obwohl jede Regelschule im Hinblick auf den "Entwicklungsstand" ihrer Schüler keine Homogenität erwarten kann.

Es ist erstaunlich, daß diese Zusammenhänge in unserer Gesellschaft von Pädagogen, Politikern, Wissenschaftlern u.a. nicht oder nicht zureichend durchschaut wurden. Es ist deshalb bedenklich, wenn bestimmte Entwicklungspsychologien gleichsam als Norm für Lehrpläne und Unterrichtskonzepte herangezogen werden oder werden sollen. Mit den bisherigen Ausführungen habe ich als unangemessen abgewiesen, daß Beobachtungen bei Heranwachsenden unter der Vorstellung einer "Normalentwicklung" gemacht und die Daten an dieser Norm gemessen als "normal", "retardiert" o.a. interpretiert werden, um "Förderbedürfnisse" oder "Therapien" inhaltlich bestimmen zu können. Was aber soll ein ("Sonder"-) Pädagoge dann feststellen, um seine Aufgaben zu erkennen?

Dazu eine Zwischenüberlegung, der ich nicht weiter folgen will: Allgemein angenommen und wohl auch unbestritten ist, daß ein Mensch, nicht nur ein junger, nur auf der Basis seiner "Vorerfahrungen" etwas "Neues" lernen kann. Daß das "Neue" für den einzelnen Schüler lebensbedeutsam sein sollte, also in seiner erreichbaren Lebensperspektive notwendig sein muß, gilt grundsätzlich nicht als fraglich, obwohl die Allgemeinbildung bzw. der Lehrplan der Schulen, wie die Kritik immer wieder aufgezeigt hat, diese Forderung nicht zureichend erfüllen. Eine Orientierung am Lehrplan, an der Stoffverteilung für eine Klasse kann damit nicht beanspruchen, den Schülern gerecht zu werden. Das ist oft ausgesprochen wie die daraus abgeleitete Forderung nach Differenzierung, nach Individualisierung, nach individuellem Lehrplan, zumindest für die Grund- und die meisten Sonderschulen.

Die Antwort kann auch nicht heißen: Der Pädagoge stellt fest, was ein Kind bzw. Schüler kann, um darauf aufbauend ihm neue Aufgaben zu lernen aufzugeben. Die entscheidende Frage ist, wie gesagt, was ist für ihn an Lebensbefähigungen anzustreben. Und das zeigt sich noch nicht in der Beobachtung dessen, was ein Schüler kann. Diese Aussage wird sicher nicht strittig sein. Wenn der "Lehrplan" aber grundsätzlich ausfällt (s.o.), als habe er schon die Einzelheiten für ein spezielles Kind aufgelistet, so gibt er vielleicht doch die richtige Richtung an: "Grundlegende" Befähigung für alle "sozio-kulturellen" Lebensbereiche unserer Gesellschaft bzw. Welt. Und dann scheint es doch einleuchtend, daß die Kenntnis dessen, was ein Kind schon kann, Schlüsse darüber zuläßt, was es als "Nächstes" lernen kann. Das ist sicher nicht falsch, aber auch nicht überzeugend. Ein Kind, mit dem man so "verfährt", wird dann nur Fortsetzungen dessen lernen, was es bisher gelernt hat. Und wenn das sehr eingeschränkt war, wenn das für ein bestimmtes "Milieu" zureichend war, dann bleibt diese Begrenzung bzw. Spezialisierung erhalten. Man erfährt aus den bei einem Heranwachsenden "erhobenen" Daten nicht, was er in Zukunft lernen könnte und vielleicht auch lernen sollte, um seine Chancen in unserer Gesellschaft zu erhalten. Deshalb meine nächste Aussage, die ich im nächsten Abschnitt weiter belegen möchte:

Schülermerkmale können Unterricht nicht normieren.

Ich wiederhole: Es besteht in den verschiedesten pädagogischen und psychologischen Konzeptionen grundsätzlich Einigkeit, daß das Lernen genetisch sein muß im Sinne von: Es muß auf den Lernvoraussetzungen der Schüler aufbauen und vom Schüler selbst (aktiv) vollzogen werden. Die Schule soll (bzw. muß) also die Lernvoraussetzungen jedes ihrer Schüler berücksichtigen. Eine einheitliche Unterrichtskonzeption, die das Lernen in geschlossenen Klassen ohne ausreichende innere Differenzierung handhabt, kann es demnach nicht geben. Oder nur, wenn Klassen homogen besetzt wären, was sie nicht sind, wenn es den typischen Schüler gäbe, der durch dauerhafte Merkmale einheitlich beschreibbar ist. Ihn gibt es nicht.

Kann dann aber das empirisch erhobene Merkmalsrepertoire der Schüler einer Klasse oder nur eines Schülers verbindliche Norm für die Unterrichtsorganisation und die didaktischen Konzepte sein? Meine Antwort ist: Nein!

Meine Argumente: Empirische Daten können eine pädagogische Zielstellung nicht begründen, denn: Um empirische Daten zu gewinnen, benötigt man Fragen, die Phänomene erst erfassen lassen. Man braucht als Pädagoge aber auch (pädagogische) Erfahrungen in einem bestimmten sozio-kulturellen Lebensraum, die solche Fragen und ihren Sinn erst ermöglichen. Und für jeden Heranwachsenden: Er braucht sinnvolle erreichbare Lebensperspektiven in konkreter gesellschaftlicher Wirklichkeit, in der diese Fragen sinnvoll für ihn gestellt werden können, weil dort eine Lebens-Praxis vollzogen wird, auf die die Fragen Antwort suchen. Dadurch ist es erst möglich, über die Methoden zu entscheiden, die relevante Daten zur Beantwortung der Fragen erfassen läßt.

Diese so gewonnenen Daten repräsentieren keine Wirklichkeit an sich, sie sind nicht objektiv und nicht zeitlos gültig, sondern nur verstehbar in ihrem biographischen, sozio-kulturellen situativen Kontext. Von ihm aus müssen sie interpretiert und damit auch relativiert werden. Hinzuzufügen ist, wenn wir an traditionelle Merkmalsuntersuchungen denken, daß die Kategorien, mit denen untersucht wird, theoretische Konstrukte sind, daß die Begriffe ausgrenzende Bestimmungen haben, als Definitionen gefaßt nur theoretisch konstruierte Aspekte der Wirklichkeit erfassen sollen. Dann wird empirisch mit "künstlichen" Methoden eine theoretisch konstruierte Wirklichkeit "erhoben". Über sie ist zu sagen, daß sie relativ ist und keiner Tatsachen-Welt im naiven Verständnis entspricht, sondern wissenschaftliche "Artefakte" enthält, die nicht beanspruchen können, menschliche Lebenssituationen und subjektive Erfahrungen usw. zu erfassen (vgl. H.W. Leonhard, 1989). Das gilt es immer im Bewußtsein zu behalten.

Jede "empirische Erfassung" pädagogischer und anderer menschlicher Wirklichkeit und ihre Interpretation muß also als in ihrer Aspekthaftigkeit und Relativität auf die menschliche Lebenssituation bezogen "verstanden" werden. Das war das Programm der Hermeneutik mit ihrem Zentralbegriff "Lebenswelt". Die "Ermittlung des Tat-sächlichen" bedarf, wie gesagt, der Einordnung in den weltanschaulischen Lebenszusammenhang, wenn man es recht verstehen will. Wilhelm Flitner (1958, 24) formulierte das so: "Beide Verfahren schließen sich nicht aus, sie dürfen gar nicht voneinander getrennt werden; vielmehr ist das isolierend-beschreibende nur sinnvoll, wenn es dem hermeneutischen eingeordnet wird", weil alle Tat-Sachen sich erst im sinnstiftenden Handeln konstituieren und im sinnerschließenden Interpretieren angemessen verstehen lassen.

Das möchte ich mit einem Beispiel belegen, das ich Günther Slotta (1962) verdanke: Elsa Köhler untersuchte in den zwanziger Jahren in einer Längsschnitt-Studie die Kinder im Kindergarten in Jena. Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse läßt sich pointiert verkürzt so beschreiben: Die Kinder arbeiten nicht allein mit Materialien, sondern nur in der Gruppe. Etwa zur gleichen Zeit untersucht Jean Piaget mit ähnlichen Methoden der Erfassung und Auswertung gleichaltrige Kinder im Genfer Kindergarten. Sein "paralleles" Ergebnis heißt verkürzt pointiert: Kinder im Kindergartenalter arbeiten gern einzeln und intensiv mit Materialien. Sie können oder wollen dabei offensichtlich nicht kooperieren. Die gegensätzlichen Ergebnisse lassen sich nicht als Untersuchungsfehler, nicht als Ausweis kultureller Unterschiede des französisch sprechenden Genf und des deutsch sprechenden Jena interpretieren. Die Erklärung ist einfach: Der Kindergarten in Jena wurde nach Gesichtspunkten von Peter Petersen bzw. Friedrich Fröbel geführt, der großen Wert auf die Kooperation, Gruppe und Gemeinschaft legt. Der Kindergarten in Genf war als Montessori-Modell konzipiert und mit den entsprechenden Materialien ausgestattet. Die Psychologen haben "herausgefunden", was die Pädagogen "hineingesteckt" haben. Beide Untersucher haben keine allgemeinen Wahrheiten über Kinder im 3. bis 6. Lebensjahr entdeckt. Vielleicht haben sie sogar übersehen, daß die Kinder in Jena außerhalb der Gruppe, evtl. in der Familie oder auf der Straße Verhaltensweisen, wie die von Piaget beschriebenen zeigen, und die in Genf ähnlich, wie die von Elsa Köhler erfaßten. Daten der Empirie können deshalb nicht aufzeigen, was pädagogisches Soll sein soll. Das pädagogische Ziel ist pädagogisch-politisch zu begründen und zu rechtfertigen. Die Empirie kann nur feststellen, ob es erreicht wurde und welche weiteren Nebenwirkungen sich bei bestimmten Bedingungen zeigen. Für Günther Slotta ist deshalb einsichtig (1962, 34f): daß "jede Forschung innerhalb einer pädagogischen Situation das Verstehen und die Kenntnis eben dieser Situation voraussetzt. Und das bedeutet vor allem: Rückgriff und Erschließung der erzieherischen Intentionen. (...) Dadurch erst wird der Sinn der Tatsachen offenbar. (...) Dadurch wird dreierlei deutlich. Zunächst werden die Tatsachen einer Situation nur durch diese sinnverleihende Intentionalität (...) zu pädagogischen Tatsachen. Als zweites wird deutlich, daß pädagogische Tatsachen durch pädagogische Intentionen gestiftet werden und nicht diesen vorausliegen. Letztlich ist diese Intentionalität auch die entscheidende Komponente dessen, was wir die Situationsbedingtheit pädagogischer Tatsachen nennen" (34f).

Slotta formuliert als methodologischen Ertrag seiner Überlegungen die Einsicht, "daß jede Tatsachenfeststellung innerhalb einer pädagogischen Situation nur möglich und sinnvoll ist, sofern sie sich als auf eben diese pädagogische Situation bezogen erweist" (38), sofern sie deren Gegebenheiten berücksichtigt: nämlich vor allem die erzieherische Intentionalität, die inhaltlich durch den jeweiligen sozio-kulturell geprägten Lebensraum bestimmt ist, die "Individuallage" bzw. die Eigenwelt der Kinder, die zu lernenden Inhalte, die zu lösenden Aufgaben und die sonstigen Faktoren und Umstände der betreffenden Gesamtlebenssituation.

Es gibt kein spezifisches Lernverhalten "Lernbehinderter"

Das möchte ich zeigen. Dabei unterstelle ich, daß die Aussage für die Schüler aller Schulen und Klassen gilt. Im Blick auf die Schüler "L" will ich über drei Einsichten kurz berichten. Zunächst erinnere ich (vgl. Einführung) an die von Klauer (1966) formulierte, von Bleidick (1968) zitierte und durch Kanter (1977) allgemein bekannt gewordene Formel. Es gibt keine allgemeine "Lernfähigkeit", dementsprechend keine allgemeine "Lernbehinderung", sondern nur "aufgabenspezifische Schwierigkeiten".

Das Lernverhalten Lernbehinderter läßt sich nicht auf eine allem Lernen zugrundeliegende Fähigkeit oder Kapazität zurückführen. Trotz aufwendiger theoretischer und empirischer Bemühungen ist es nicht gelungen, das Schulversagen und ein typisches Lernverhalten Lernbehinderter durch Schwachsinn, Intelligenzschwäche, niedrige Lernfähigkeit o.ä. zu erklären. Das Ergebnis: Jeder Schüler befindet sich in einer speziellen Lernsituation mit vielfältigen fördernden oder hemmenden Bedingungen. Er kann in jeder Situation individuell spezifisch vorgehen und dabei aufgabenspezifische Schwierigkeiten haben. Da sich das Lernen, die Aktivitäten und Lebensformen, die Auseinandersetzungen und die Teilnahme an Umwelt und Mitwelt in der Gestalt jedes einzelnen Menschen "verkörpern", können die Schüler der "Schule für Lernbehinderte" (oder ihrer Nachfolgekonzepte) wie alle anderen auch als individuell spezifisch Lern- und Handlungsfähige angesehen werden.

Die Untersuchungen von "Lernbehinderten" und ihres Lernens bzw. Lösens von Tests lassen keine einheitliche Beschreibung nach bestimmten Merkmalen zu, sondern zeigen bei Vergleichsuntersuchungen eine große Überlappung mit Schülern anderer Schularten (vgl. hier nur Kleber 1980, 49-55). Darüber hinaus findet man, wie durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen unveröffentlicher Mainzer Zulassungsarbeiten von Dietrich, Knöbl, Daum, Glaser, Joos, Schwaller (1979, bei mir einzusehen) belegt ist, wenn man die verschiedenen kognitiven Stile bei Schülern der Schule für Lernbehinderte und der Hauptschule vergleichend untersucht, daß sich kein einheitliches Bild je Schülergruppe ergibt, daß die Schülerleistungen vom Material abhängig scheinen (konkret, ikonisch, verbal), daß Leistungen bei einer Wiederholung nach Stunden, Tagen oder Wochen unterschiedliche Ergebnisse (Strukturen) zeigen.

Wir müssen annehmen, daß es individuelle Vorgehensweisen und Strategien, nicht aber kognitive Stile als durchgängige dauerhafte Merkmale bei den untersuchten Schülern gibt, daß also Leistungen situations-, zeit- und materialabhängig sind. Damit wird bestätigt, was andere Untersuchungen bzw. Beobachtungen vermuten ließen: der Mensch ist durch Fähigkeiten oder Merkmale nicht so zu beschreiben, daß sich daraus künftiges Handeln oder Verhalten gültig vorhersagen läßt. Jeder ist vielmehr als Subjekt in der Lage, sich situativ unvorhersehbar zu verhalten, zu handeln: Es selbst zu tun. Dabei wird sicher eine Rolle spielen, was ein Mensch gelernt hat, welche Vorerfahrungen er gemacht hat, wie er die Situation einschätzt, was er von ihr befürchtet, erwartet, erhofft, welche Vorstellung er von sich selbst hat.

Jahrgangsklasse: Wirkungen und Absichten

Inhaltsverzeichnis

Zur Ausgangssituation

Die traditionelle Vorstellung ist, daß für einen effektiven Unterricht Klassen gebildet werden, die von einem Lehrer jeweils unterrichtet bzw. gelehrt werden. Je kleiner eine Klasse gebildet werden kann, desto besser soll es traditionsgemäß sein, weil dann angeblich die Schüler besser gefördert würden und die Lehrer den einzelnen Abnehmer seiner Lehre besser beachten könnten. Dahinter steht meist unausgesprochen das Konzept eines lehrerdominierten Unterrichts, die Vorstellung: Lehren kommt vor Lernen, Lehren bestimmt Lernen. Die tatsächliche Klassenbildung erfolgt in den Schulen der Bundesrepublik nicht einheitlich. Gruppierungen nach Alter, Leistung oder Entwicklung haben sich allgemein nicht durchsetzen lassen, weil kein Kriterium allein maßgeblich war und weil andere Gesichtspunkte hinzutraten. Als Ideal wurde oft angestrebt die mindestens einzügige vollausgebaute (Sonder-)Schule. Sie soll sicherstellen, daß ein Schüler nach seiner Gesamtentwicklung zugeordnet wird. Der Unterrichtsstoff richtet sich vorwiegend nach dem, was im Lehrplan für die Lernstufe/ Klasse aufgeführt ist, der der Klasse zugeordnet ist. Die in den Richtlinien vorgesehenen individuellen Lehrpläne werden kaum realisiert.

Probleme

"Um Unterricht für Lernbehinderte und von Lernbehinderung bedrohte Schüler angemessen zu planen und zu gestalten, zentriert sich unterrichtliches Handeln auch heute noch primär um die Vermittlung der reduzierten Lehrziele und Lerninhalte. Weniger berücksichtigt bleibt die Gestaltung des Lehr- und Lernprozesses in Abhängigkeit von den doch sehr heterogenen Lernvoraussetzungen des Schülers in Lernbehindertenklassen", so Masendorf (1979, 19). Ein weiteres Problem, auf das auch Masendorf hinweist, ist: In der Schule für Lernbehinderte werden die Schüler mit Unterrichtsinhalten konfrontiert, die in der Grund- und Hauptschule oft zwei oder mehrere Jahre früher angeboten werden. Die Inhalte des Lernens zeigen den Schülern so täglich, daß sie nicht so alt sein können, wie sie sind. In der Schule sollen sie motiviert sein für etwas, was ihnen nicht entspricht. Ihre Vergleiche mit Altersgleichen wie ihre Erfahrungen und Interessen werden in der Schule kaum aufgenommen oder weithin ignoriert, ihr Selbstbewußtsein wird gefährdet und ihre Identität verändert. Es gibt weitere Probleme, die mit dem Organisationsprinzip der Jahrgangs-Klasse zusammenhängen. Obwohl Ingenkamp (1972) nachgewiesen hat, daß die Jahrgangsklasse das nicht leistet, was sie soll, nämlich eine gerechte Leistungsförderung aller Schüler, überrascht es, daß das Jahrgangsklassenprinzip in der Literatur über die Differenzierung weithin unbeachtet bleibt (vgl. Hausser 1980, 126 ff.).Wenn man genauer hinsieht, erkennt man die Jahrgangsklasse als das zentrale Hindernis aller Individualisierungsbemühungen.

Die Jahrgangsklasse erfordert einen Lehrplan, der für alle Fächer Einheiten festlegt, die von allen Schülern in demselben Alterszeitraum oft auch mit den selben Methoden gelernt werden sollen; obwohl wir keine Normalentwicklung aller Schüler kennen und wissen, daß sie unterschiedlich lernen und verschiedene Lernvoraussetzungen mitbringen, behalten wir in der Regel den den Jahrgangsklassen zugeordneten Lehrplan bei. Dabei ist die Abfolge der Ziele und Inhalte ungeprüft und fragwürdig, ebenso ungeprüft ist der Sinn der synchronen Anordnung der Fächer zueinander wie zu bestimmten Altersstufen. Der Jahrgangsklassenunterricht unterstellt oder strebt an: Leistungshomogenität. Er "beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß (im Regelfall, E.B.) alle gleichaltrigen Schüler gleich begabt sind, den gleichen Entwicklungsstand und das selbe Arbeitstempo besitzen" (Xochellis 1967, 14). "Die Individualität des einzelnen, seine Begabung und Leistungsfähigkeit, seine Neigungen und Interessen usw. sind für das Klassengebilde keine verbindlichen Gesichtspunkte. Die Schulklasse und der Klassenunterricht richten sich nach einem letzten Endes zufällig entstandenen Durchschnitt und erheben ihn zur Norm mit der Folge, daß nur ein geringer Teil der Schüler gefördert wird" (ebd.17).

Das Instrument von Vorrücken und Nichtversetzen kann das Dilemma nicht beheben. Das Elend der Sitzenbleiber ist, daß sie in den ausreichend beurteilten Fächern auch wiederholen, daß sie bei mangelhafter Beurteilung keine gezielte Hilfe bei ihren Schwierigkeiten erhalten, sondern einfach im Klassenunterricht, der ihre Misere bewirkte, wieder mitlaufen sollen und daß eine Nichtversetzung sie in ihrem Lernanspruch, Interesse und Alterskameradenvergleich um ein Jahr zurückwirft. Ihr Selbstverständnis und ihre Gruppenzugehörigkeit wird administrativ neu definiert. Das Jahrgangsklassensystem zeigt nach Ingenkamp (1972) eine höchst heterogene Verteilung der Schüler nach Alter und Leistung. Es bewirkt klare Unterschiede in den Schulleistungen und der Lehrerbeurteilung bei den einmaligen oder mehrfachen Sitzenbleibern wie den regelmäßig versetzten Schülern. Es zeigt signifikante Leistungsunterschiede in Parallelklassen derselben Jahrgangsstufen in verschiedenen Schulen wie im selben Schulsystem. Trotzdem wurde es bisher nicht aufgegeben, nicht einmal in der Sonderschule. Dahinter könnte u.a. die Vorstellung einer altersgebundenen Entwicklung stehen, "die Annahme einheitlicher psychischer Reifung mit dem Lebensalter" (Haußer 1980, 134).

Dagegen ist mit Haußer festzustellen: "Das Lebensalter an sich ist also keine psychologische Variable (Heckhausen 1974, 89), und die pädagogische Aufforderung zu "phasengerechtem Erziehen" (W. Fischer 1958, 59) vermag allenthalben schematische Rezepte zu bieten, entbehrt jedoch jeder wissenschaftlichen Grundlage. Im Gegensatz zu der Denkvorstellung endogen gesteuerter, von Phase zu Phase einheitlich ablaufender psychischer Entwicklung hat die Sozialisationsforschung immer wieder hervorgehoben, "daß sich die menschliche Persönlichkeit in keiner ihrer Dimension gesellschaftsfrei herausbildet, sondern stets in einer konkreten Lebenswelt, die gesellschaftlich-historisch vermittelt ist" (Hurrelmann 1976, 17).

Nicht ein metaphysisch-endogener Reifungsplan, sondern gesellschaftlich-institutionelle Regelhaftigkeiten sind überall dort ausschlaggebend, wo psychologische Untersuchungen einheitliche Verläufe zu ergeben scheinen. "Im sozialwissenschaftlichen Verständnis von Sozialisation wird das jeweils erreichte Stadium der persönlichen Entwicklung und die jeweilige Phase des individuellen Lebensweges in Beziehung zu sozialstrukturell bedingten situativen Umweltfaktoren gesehen" (Hurrelmann 1976, 18). Damit ist eine wesentliche Grundannahme des Jahrgangsklassenprinzips zumindest in Frage gestellt" (Hausser 1980, 135). Ingenkamp (1972, 32) vermutet, daß die Vorstellung altersgemäßer Phasen ein Ergebnis der jahrgangsweisen Schülerorganisation sei und einem "Ordnungsprinzip der Betrachter" entspreche. Die Vorstellung der Altersgemäßheit muß neu bedacht werden. "Die Koppelung einer Lehrplaneinheit mit einem bestimmten ("vernünftigen") Lebensalter von Schülern führt jedoch eher zu Denk-, Lern- und Entwicklungshemmungen, als daß Über- oder Unterforderungen vermieden werden" (Hausser 1980, 135).

Statt dessen sollten unterschiedliche Lerninhalte, Lernwege, Lerntermine und Lernzeiten ermöglicht werden. Dann könnte der Schüler zum Subjekt seines Lernens werden und sich nicht wie im Jahrgangsklassenbildungskonzept als Objekt einer Bildungsorganisation ausgeliefert erleben. Das stände auch unserem demokratischen Staat gut an. Er bräuchte nicht die Tradition der "auf Restauration des Untertanenstaates bedachten preußischen Regierung" fortzusetzen, die gegen drohende bürgerliche Revolutionen daran interessiert war, das "Jahrgangsklassenkonzept" zur Uniformierung der Untertanen gegenüber dem absolutistischen Staat und Herrscher" (Ingenkamp 1972, 23) zu nutzen.

Das Jahrgangskonzept orientiert sich am Lebensalter, an einer Normalentwicklung, an "Leistung". Es unterstellt den lehrergesteuerten Unterricht von typischen "Normalschülern". Der einzelne Schüler wird nicht als Subjekt seines Lernens mit individuell spezifischer Ausgangslage und Lernfähigkeit in Rechnung gestellt. Schulversagen wird individualtheoretisch mit einem globalen Begabungsmangel erklärt. Sitzenbleiber erleiden einen Identitätsbruch. Das Jahrgangsklassenkonzept erlaubt eine Trennung von Unterricht und Erziehung. Die emotional-sozialen Aspekte eines Klassenunterrichts müssen nicht besonders bedacht sein. Die Schüler erleben sich in einer Hierarchie nach Alter und Leistung, die auch Sozialprestige vermittelt. Sie finden sich einer Gruppe zugeordnet, die sich auch im Ansehen von anderen unterscheidet. Wer die Parallelität von Alter und Schulleistung nicht schafft, der wird als Retardierter, als Schwachbegabter, als Versager etikettiert. In der Klasse muß keine Gemeinschaft gelebt werden. Vielmehr droht dieses System als Leistungskonkurrenz, den einzelnen Schüler zu isolieren und egozentrisch auszurichten.

Ich verzichte auf eine Zusammenfassung oder Bilanz.

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Der Autor

Prof. Dr. Ernst Begemann, geb. 1927, war von 1949 bis 1965 Lehrer und Schulleiter an Volks- und Sonderschulen in Westfalen und Westberlin; in der Ausbildung von SonderschullehrerInnen tätig in Dortmund, Reutlingen, Mainz und jetzt in Landau. Schulversuche: Förderung Schwerstkörperbehinderter, Hauptschulabschluß für Lernbehinderte, Innere Differenzierung in der Schule für Lernbehinderte. Zahlreiche Publikationen.

Kontakt

Universität Koblenz-Landau

Institut für Sonderpädagogik

Xylanderstr. 1

D-76829 Landau

Quelle:

Ernst Begemann: Piaget, Normal-Entwicklung, individuelle Entwicklung - Überlegungen und Bilanzierung für ("Sonder"-)Schulen und Pädagogen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/98; Reha Druck Graz

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Stand: 04.03.2005

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