Arbeit und ihr Verlust

Die Probleme der"anderen" sind unsere eigenen

Autor:in - Erich Otto Graf
Themenbereiche: Arbeitswelt
Schlagwörter: Politik, Gesellschaft, Schweiz
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/4/2007, Thema: Disability Studies Behinderte Menschen (3/4/2007)
Copyright: © Behinderte Menschen 2007

Information

BEHINDERTE MENSCHEN, die Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten ist das Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Alle zwei Monate bringt es Fachwissen zu einem Schwerpunktthema. Dazu gibt es Reportagen, Meldungen, Buchbesprechungen, Fortbildungstipps und Kommentare. Produziert wird die Zeitschrift von der Reha-Druck, einer Druckerei in Graz, in der behinderte Menschen Ausbildung und Arbeit finden. Probeexemplare, Geschenkabos und Schnupperabos können auch online angefordert werden: www.behindertemenschen.at

Arbeit und ihr Verlust

Der Mann, der hier arbeitet, ist so weit ein freundlicher Mensch. Er kommt allerdings relativ häufig zu spät. Er schläft im Zug ein, verpasst die Haltestelle, an welcher er aussteigen soll, muss dann auf den nächsten Zug warten, zurückfahren und erscheint mit fast 40 Minuten Verspätung zu seiner Schicht. In der Filiale eines Grossverteilers ist er zuständig für den Getränkerayon. Das bedeutet, dass er einerseits die Regale auffüllen und grosse Mengen von Harassen mit alkoholischen und nichtalkoholischen Getränken auf einem Paletthubwagen im Laden verschieben muss. Daneben muss er die Bestände erheben und die entsprechenden Bestellungen auslösen. Er arbeitet im grossen und ganzen recht gut, aber er ist eher verschlossen und manchmal erscheint er den Leuten wie wenn er abwesend, nicht so ganz richtig bei der Sache ist.

Der Mann ist verheiratet und hat eine drei Monate alte Tochter. Vorletzte Woche hat er eine falsche Bestellung ausgelöst, viel zu viel von den einen Getränken, viel zu wenig von den anderen. Der Filialleiter ist entsprechend verärgert. Er hat ernsthaft mit ihm gesprochen, ihm klar gemacht, dass diese Arbeitsleistung ungenügend ist und dass er ihn entlassen muss, falls sich keine Besserung einstellt[1].

Liebe Leserin, lieber Leser: Wenn Sie diese Filiale leiten würden, was würden sie tun?

Der Mann kommt häufig zu spät, er scheint sich nicht immer auf seine Arbeit zu konzentrieren, er löst falsche Bestellungen aus und bringt damit die Filiale um Umsatz, zudem sind die Kundinnen und Kunden verärgert, wenn ihr Lieblingsbier ausverkauft ist. Die Konkurrenz mit den Billigdiscountern ist hart. Sie haben ziemlich präzise Vorgaben, über die Ziele, die Sie erreichen müssen.

Eine Woche später: Der Mann besucht die Sozialberatung einer Fachberatungsstelle für Epilepsiekranke. Er erzählt seine Geschichte. Er fährt jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit. Da seine kleine Tochter im Moment viel schreit, kann er nicht gut schlafen. Seine kleinen Absenzen haben seitdem zugenommen. Deshalb verpasst er manchmal die Haltestelle, an der er aussteigen sollte, deshalb ist er manchmal wie abwesend bei der Arbeit, deshalb ist ihm auch die falsche Bestellung passiert. Zur Zeit erträgt er die Medikamente nicht sehr gut. Sie müssen neu eingestellt werden. Das kann viele Monate dauern.

Die Beratungsstelle versucht mit der Firma zu reden. Es gibt eine Besprechung. Eine Frau aus der Human Ressources-Abteilung nimmt teil, der Filialleiter und einer weitere Person aus der Leitung, sowie der Mann aus der Getränkeabteilung. Der Sozialarbeiter spricht mit allen. Er hat sich ein Bild gemacht. Die beste Lösung wäre es, die Firma würde dem Mann eine Arbeit in einer Filiale anbieten, die näher an seinem Wohnort liegt. Aus familiären Gründen kann der Mann jetzt nicht den Wohnort wechseln. Das scheint im Moment auch für die Firma nicht in Frage zu kommen. Die zweitbeste Lösung, auf die sich schliesslich alle einigen, ist die, dass der Mann eine gewisse Zeit in der Frischgemüseabteilung unter der direkten Aufsicht des Filialleiters arbeitet und dass während einer bestimmten Zeit jede Woche ein Auswertungsgespräch über die Arbeitsleistung und mögliche Verbesserungen zwischen dem Filialleiter und dem Mann geführt werden. Der Sozialberater verweist darauf, dass die medikamentöse Einstellung des Mannes viele Monate dauern kann, dass Geduld von nöten ist.

Vier Wochen später: Der Mann wurde gekündigt. Von seitens der Firma wurde gesagt, die Neueinstellung der Medikamente habe nichts gebracht, die Arbeitsleistung des Mannes sei ungenügend geblieben. Der Mann sagt, die vereinbarten Gespräche am Wochenende hätten nie statt gefunden.

Was denken Sie jetzt liebe Leserin und lieber Leser über die Geschichte?

Ach ja, habe ich Ihnen gesagt, dass der Mann aus einem Land kommt, wo es Minarette gibt, wo Frauen manchmal Kopftücher tragen, dass er nicht Dialekt, aber relativ gut Hochdeutsch spricht und dass seine Haut nicht so ausschaut, wie die der meisten Leute, die hier leben?



[1] Dieses Beispiel entstammt der Beobachtung einer Beratungssituation bei einer Sozialberatungsstelle. Die Beobachtung ist Teil eines Forschungsprojektes über Arbeit und Behinderung in dessen Verlauf ich mit verschiedenen Stakeholdern Gespräche durchführe und Beobachtungen mache.

Arbeit und menschliche Würde

Die Frage, was denn Arbeit sei, wird immer wieder gestellt und die Benennungen dessen, was Menschen tun, verändern sich (Negt 2002). Im wesentlichen wird die Tätigkeit, das Tun der Menschen als Arbeit gefasst, das in bestimmter Weise einer Finalität des Produzierens gehorcht. Wir sprechen heute von einer "Arbeitsgesellschaft", in die eine Zwiespältigkeit gefasst ist, in der auf der einen Seite das Unfreie, das Mühselige, von der Sklavenarbeit seit Urzeiten bis zum Konzept der Lohnarbeit bei Karl Marx, das die Menschen Zwingende gefasst ist und andererseits das Emanzipatorische der Lebensentäusserung des Menschen durch sein Tun, das es ihm ermöglicht, sich die Welt anzueignen, sich mit ihr vertraut zu machen, wie das Hanna Arendt in ihrem Buch "Vita activa" (Arendt 1981) beschreibt. Arbeit ist so immer Zwang und Chance der Befreiung von Zwang (Emanzipation) in einem. Das Moment der Lohnarbeit enthält in sich ein Moment der Angst, das umso grösser ist, als Lohnarbeit zur zentralen Institution einer Gesellschaft wird. Das Moment der Angst gründet sich in der wirklichen - und nicht bloss phantasierten - Möglichkeit, die Arbeit zu verlieren und keine mehr zu finden.

Mit dem Verlust der Arbeitsstelle ist einerseits der Verlust des Einkommens verbunden - in einem bestimmten Sinne versuchen die so genannten Sozialversicherungen hier Abhilfe zu schaffen. Andererseits ist aber vielmehr damit verbunden, da in unserer Kultur die Tätigkeit, mit der sich jemand seinen Lebensunterhalt verdient, auch seine Identität bestimmt, also das Bild, das ein Mensch von sich selbst macht. Wer seine Arbeitsstelle verliert, verliert sehr oft damit auch viele seiner Selbstverständnisse und er wird in den Augen vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, zu einem unnützen Menschen, der anderen Menschen auf der Tasche liegt.

Diese gesellschaftliche Problematik verschärft sich bei jenen Menschen, die aus vielerlei Gründen keine "Normalarbeitskraft" anzubieten vermögen und dadurch beim Zugang zum Arbeitsmarkt behindert werden. "Die vorherrschende ökonomische Ideologie definiert einen universell verfügbaren Menschen, der in schnell wechselnden Beziehungen, ohne Verwurzelungen irgendwelcher Art - weder in familiären Zusammenhängen noch im Dorf oder in der Stadt - sich zu bewegen vermag, jederzeit verfügungsbereit" (Negt 2002, S. 320).

Der Abbau von räumlich-zeitlichen gebundenen Identitätsstrukturen ist im Hinblick auf den universell gedachten Einsatz der Arbeitskraft ein Vorteil. Menschen die an vielen Orten zu Hause sein können, lassen sich leichter an vielen Orten einsetzen. Kaum jemand wohnt heute noch dort, wo er oder sie zur Schule gegangen ist. Niemand wird mehr in dem Beruf pensioniert, den er oder sie als erstes erlernt hat, usw. Die fordistische Gesellschaft hat das Wissen aus den Tätigkeiten herausgelöst und institutionalisiert. Die Berufsschulen sind nur ein Beispiel dafür. Ein anderes Beispiel ist die seit dem Taylorismus konsequent weitergeführte Kontrolle der Arbeitsteilung im produktiven Prozess, auf allen Ebenen, und die damit notwendigerweise verbundenen organisatorischen Strukturen der Qualitätskontrollen vom TQM[2] bis zu dem, was man "knowledge management" nennt. Da die Arbeitskraft in ihrem Einsatz flexibilisiert wird, kann sie nicht mehr Trägerin des grundlegenden know hows der Produktion sein, also wird dieses in die Organisation übernommen.

Auf dem Hintergrund solcher Prozesse mögen sie nun unmittelbar gesellschaftlich sichtbar gemacht sein oder nicht, entsteht eine prototypische Arbeitskraft, die tendenziell androgyn ist, relativ beziehungslos, hoch einsatzmotiviert und stark konsumorientiert, weder räumlich noch zeitlich gebunden, mit jahrelanger Berufserfahrung: kurz der "Normalmensch", androgyn gesund und zwischen 30 und 45 Jahren alt.

Das Älterwerden und die sich körperlich zeigenden Verbrauchserscheinungen werden zum Handicap jeder Arbeitskraft in einer solchen Struktur. Unter diesem Aspekt ist auch die Forderung der "formation continue", die Forderung nach dem lebenslangen Lernen zu verstehen, als eine Forderung an die menschlichen Träger des Arbeitsvermögens, dieses im Laufe seiner Verwertungsdauer, die sich normal diskontieren lässt, dauernd neu kalibrieren zu lassen. Das menschliche Arbeitsvermögen soll so elastisch wie möglich bleiben, so dass es so flexibel einsetzbar wäre, wie irgendein anderer Produktionsfaktor, am liebsten in einer "just-in-time-Verfügbarkeit", immer dann wenn man sie brauchte, wären sie da und man wäre sie schnell wieder los nach ihrem Gebrauch. Die Schwervermittelbarkeit von Arbeitskräften über 55 Jahren kommt nicht von ungefähr, sondern ist eine blosse Folge der Grenzkostenfunktion. Investitionen in solche Arbeitsvermögen erscheinen oft nicht mehr lohnenswert. Diese Menschen werden schlicht überflüssig, weil sie nicht rentabel genug sind, weil sie keine flexible Perspektive mehr bieten können. Dies wird auch von der Seite der Unternehmer genau so gesehen, wenn der Präsident des Schweizer Arbeitgeberverbandes in einer Stellungnahme sagt: "Wir haben ein gesellschaftliches Problem. Immer mehr Leute können in der Wirtschaft nicht mehr bis zur Pensionierung mithalten"[3].

Hier besteht tatsächlich ein gesellschaftliches Problem, die Wirtschaft, so wie sie in dieser Gesellschaft organisiert ist, ist nicht in der Lage, einen bestimmten Prozentsatz von Menschen bis zu ihrer Pensionierung zu beschäftigen. Sie sind in dieser Hinsicht schlicht behindert, weil sie nicht mehr mithalten mit der Wirtschaft. Und dieses Handicap wird mit ihrem Lebensalter erklärt. Selbstverständlich lässt sich hier die Frage stellen, weshalb jene Menschen, die im Namen der "Wirtschaft" davon reden, dass "immer mehr Leute in der Wirtschaft nicht mehr bis zur Pensionierung mithalten können" in dieser Art und Weise und kaum widersprochen so reden können. Wo ist jene gesellschaftspolitische Position geblieben, die diesen Umstand thematisiert und die Frage stellt, weshalb es nicht möglich ist, dass die Gesamtheit der Menschen sich auf ein Wirtschaften einrichtet, bei dem alle "mithalten können"?



[2] TQM = Total Quality Management

[3] Peter Hasler, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes in der Sonntagszeitung vom 17. Oktober 2004, Seite 1.

Behinderung ist ein soziales Problem

Die Begriffsbestimmungsversuche rund um den Begriff der Behinderung mangeln alle mehr oder weniger daran, dass es ihnen nicht gelingt, das soziale Problem zu fassen, das sich mit Behinderung verbindet. Das Bemühen um die "politische Korrektheit" hat vielfach nicht dazu beigetragen, die Wahrnehmung der Problematik zu verbessern. Soziale Probleme werden hier im Gefolge von Merton/Nisbet (Merton and Nisbet 1976) verstanden als wahrgenommene Diskrepanzen zwischen beobachteten Zuständen von Gesellschaft und vorgestellten Zuständen von Gesellschaft. Dort wo die Wahrnehmung der Gesellschaft ein Bild zeigt, das nicht so ist "wie es sein sollte", dort besteht ein soziales Problem.

Soziale Probleme kreisen immer um Vorstellung von "Normalität". Das "Normale", das "Selbstverständliche", beide sind sie unverzichtbare Konzepte, um den "ganz normalen Alltag" leben zu können. Sie lassen sich am allgemeinsten vielleicht negativ fassen, normal und selbstverständlich sind alle jene sozialen Zonen, Orte, Phänomene usw., bei denen eine Wahrnehmungsdesensibilisierung stattfindet. Auffällig umgekehrt sind jene Verhalten, die auf "Normalität" sensibel reagieren, oder quasimedizinisch formuliert, die auf Normalität überempfindlich, also allergisch reagieren. Behinderung entsteht dort, wo Menschen sich den Trivialisierungsversuchen der Gesellschaft versagen. In der Behinderung zeigt sich ein grundlegender Bruch mit der Kultur - mit jeder Kultur. Das ist der abstrakte Grund oder die abstrakte Ebene von Behinderung, denn Kultur muss - wenigstens ein Stück weit - immer versuchen zu trivialisieren, sonst könnte sie keine in der Zeit - wenigstens relativ - stabilen Orientierungen geben[4]. Von hier lässt sich Behinderung nun wieder historisch-konkret denken. Und diese historische Konkretisierung verläuft in unseren Gesellschaften über die Register der Moderne.

Grundlegend ist festzuhalten, dass es eine Gesellschaft ohne Behinderung nicht geben kann, da in einer normativ verfassten Gesellschaft nicht zu verhindern ist, dass Ausprägungen menschlicher Heterogenität unterschieden werden und auch unterschiedlich bewertet werden. Diese Feststellung, dass Behinderung als gesellschaftliches Phänomen grundlegend unaufhebbar ist, wie der Tod, führt zum Gefühl der Trauer. Im Gegensatz zum Tod, der alle Menschen einholt, irgendwann, auch wenn man es selbst subjektiv nicht zu glauben vermöchte, ist Behinderung weder immer irreversibel noch in irgendeiner Form etwas zeitlich-räumlich Festgelegtes. Trauer gehört zu jenen Gefühlen, mit denen gerade unsere Kultur schlecht umzugehen weiss. Es gibt Kulturen, die damit auch produktiv umzugehen wissen. Im Aushalten der Trauer steckt auch eine befreiende Kraft, aber sie führt nicht unbedingt zur besseren Konfektionierbarkeit des menschlichen Arbeitsvermögens. Es ist zu radikalisieren, wovon Jantzen (1992, S. 40) spricht, wenn er Menschen mit einer Behinderung als "Arbeitskraft minderer Güte" bezeichnet. An ihren Endpunkten finden sich Menschen, deren Subjektivität sich nicht in Arbeitskraft verwandeln lässt, in keiner Art und Weise. Sie fallen aus dem Rahmen der Normalität. Eindrücklich berichten die Bücher des Philosophen Alexandre Jollien (Jollien 2001; Jollien 2003) von dieser Situation. Insbesondere sein letztes Buch, dessen französischer Titel besser als der deutsche ist: "Le métier d'homme", zu deutsch "Die Kunst Mensch zu sein".



[4] Vgl. Dazu Graf (2006).

Der Preis der Behinderung

Überall dort, wo eine Integration in den Arbeitsmarkt nicht erfolgt, entsteht ein ironischerweise so genannter "zweiter Arbeitsmarkt", der eben keiner ist, da Märkte, die geschützt sind, nicht wirkliche Märkte sind, sondern Austauschssysteme unter monopolistischen oder oligopolistischen Bedingungen, die schliesslich in so genannten "geschützten Werkstätten" ihre Fluchtpunkte finden, wobei unklar und offen bleibt, wer und was von wem und wovor geschützt wird und zu schützen ist.

Die Stimme der Menschen mit einer Behinderung ist auf diesem Feld oft kaum vernehmbar. Am ehesten noch jene der Funktionäre von Behindertenorganisationen, die sind oft, jedoch nicht immer, selbst von einer bestimmten Behinderung betroffen.

Seit rund 10 Jahren steigt in der Schweiz die Zahl der Menschen, die eine Versicherungsleistung der Invalidenversicherung[5] beanspruchen stetig und die Rentenquote liegt bei etwa 5 % der arbeitsfähigen Bevölkerung. Während die Statistik eine scheinbar klare Sprache spricht, ist weniger klar, was sich verändert hat. Ganz offensichtlich ist nur, dass mehr Menschen als vor 10 Jahren Renten beziehen und dass diese Rentenbezüge statistisch gesehen ungleiche Verteilungen aufweisen. Invalid ist jemand, der eine Rente der IV bezieht. Diese Bestimmung entspricht haargenau der Definition die Georg Simmel (1983, S. 345 ff.) über den "Armen" in seiner "Soziologie" macht. Aus dieser Entwicklung lässt sich der Schluss ziehen, dass Behinderung ihren Preis hat, einen Preis, den jemand bezahlen muss (vgl. die Studien von Guggisberg et al. 2004 und Zwicky 2003). Ökonomisch gesprochen handelt es sich um einen Verteilungskampf um die Aufteilung der Kosten zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten. In dem Masse, in dem die Behinderten ihre Rechte einklagen und durchzusetzen vermögen, werden die Kosten für die Seite der Nicht-Behinderten steigen. Das hat zur Folge, dass in der Gesellschaft darüber gestritten werden muss, wer zu bezahlen hat.

Wieder führt die Analyse der Behinderung auf das Feld des Politischen. Es geht letztlich um die Gesamtkosten der Arbeitskraft im Land. Taktisch wird es darum gehen, Wirtschaftsunternehmen klar zu machen, dass sie sowieso etwas bezahlen müssen, entweder in Form einer Steuer, wenn sie keine Menschen mit einer Behinderung einstellen oder in Form einer geschmälerten Rentabilität, wenn sie solche Menschen einstellen. Als wichtiges intervenierendes Moment wird selbstverständlich das Moment der Globalisierung zu berücksichtigen sein. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass zur Zeit in unserer Gesellschaft ein Konsens darüber besteht, dass Unternehmen dazu da sind, Gewinne zu erwirtschaften.

Wichtig ist die gesellschaftliche Vermittlung des Inhaltes, dass keine Wahl besteht, nicht zu bezahlen, dass Ausschluss von Menschen mit einer Behinderung nicht sein kann. Die Frage stellt sich allerdings, wie viel institutionelle und politische Macht eine Minderheit von rund 7 % der Bevölkerung zu mobilisieren vermag, eine Bevölkerung, die in der Regel aufgrund ihrer Lebenslage genug damit zu tun hat, ihren schwierigen Alltag zu bewältigen. Am deutlichsten sind solche Verwerfungen wohl in der Grauzone zwischen "klarer Behinderung" und "klarer Nicht-Behinderung" zu beobachten, wo der gesellschaftliche Diskurs der Individualisierung am stärksten ist. Der psychisch behinderte Mensch, der Mühe hat, am Morgen zur Arbeit zu gehen, wird bei all denen, die als psychisch-nichtbehindert gelten, aber auch Mühe haben, am Morgen zur Arbeit zu gehen, und dennoch zur Arbeit erscheinen, vermutlich Schwierigkeiten haben, auf Verständnis für seine Situation zu stossen. Wer hat nicht mal ein wenig eine depressive Verstimmung, ohne deswegen gleich die Arbeit zu schmeissen? Solche und ähnliche Diskurse sind Teil unseres Alltags und dienen unserem normalen Funktionieren. Wieder bricht der Umstand der Behinderung diesen Alltag auf. Es ist in dieser Gesellschaft darüber zu streiten, wofür Behinderung steht.



[5] Die schweizerische Invalidenversicherung (IV) ist eine staatliche und obligatorische Versicherung in der Schweiz. Ihr Ziel ist es, den Versicherten welche "invalid" werden/sind mit Eingliederungsmassnahmen und/oder Geldleistungen die Existenzgrundlage zu sichern. Die Forderung wurde im Laufe des Landesgeneralstreiks von 1918 durch die Arbeiterbewegung aufgestellt und in einer Volksabstimmung von 1925 in der Verfassung verankert. Realisiert wurde dieser obligatorische Versicherungsschutz für die Arbeitskräfte aber erst 1961. Die Versicherung versichert auch Geburtsgebrechen. Nach einem starken Anstieg von Berentungen in den 1990er Jahren und einem entsprechende finanziellem Defizit der IV ist die Versicherung in den letzten Jahren zu einem in der schweizerischen Politik heiss umstrittenen Thema geworden. Ohne dass die Finanzierung der Versicherung defizitfrei langfristig gesichert ist, haben das Parlament und der Souverän der Schweiz einer Reihe von objektiven materiellen Verschlechterungen für die versicherten Menschen immer wieder zugestimmt. Zum Anstieg der Versichertenzahlen und Erklärungsversuche regionaler Unterschiede in den Kantonen vgl. Guggisberg et. al (2004).

Was behindert? - Wer behindert? - Wer ist behindert?

Der Integration in die Arbeitswelt kommt bei der gesellschaftlichen Bewältigung des sozialen Problems der Behinderung eine besonders wichtige Bedeutung zu. Es gilt also zunächst nach den Gründen zu suchen, die es Menschen mit einer Behinderung erschweren, auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein. Klinger macht in einem im "Disability Journal Quaterly" im Jahre 2002 publizierten Aufsatz dafür zwei relevante gesellschaftliche Bereiche aus. Es gibt zwei Gründe, weshalb Personen mit einer Behinderung in der Arbeitswelt schlechter gestellt sind als Personen ohne Behinderung. Der erste Grund liegt auf einer Ebene der Wahrnehmungen und Haltungen. Dazu gehört auch die Furcht der Unternehmen, eine behinderte Person wegen geltender Diskriminierungsverbote nicht mehr entlassen zu dürfen. Der zweite Grund liegt in der Organisationskultur, die historisch vor der Behinderung entstanden ist und an die anzupassen Behinderte sich gezwungen sehen.

Zum einen betont Klinger, dass nach wie vor Probleme der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle spielen. Man will und/oder kann die Probleme, die im Zusammenhang mit der Anstellung behinderter Menschen vorhanden sind, nicht entsprechend wahrnehmen, sei es aus Mangel an Einsicht, Einfühlungsvermögen, sei es aufgrund eigener Werthaltungen und Attitüden, die dies verunmöglichen. Der andere Grund liegt in der Organisationskultur. Alle Organisationen der Arbeitswelt sind in der Regel schon vorhanden gewesen, bevor sie sich mit dem Problem der Behinderung befassten mussten. Ihre Normalität geht der Normalität der Behinderung gewissermassen voraus. Die Folge dieser Situation ist, dass Menschen mit einer Behinderung sich diesen Organisationskulturen anzupassen haben. Das wiederum erschwert ihre Einbettung in diese.

Die Hypothese von Klinger wird durch die Aussagen des Vizedirektors des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, Hans Rudolf Schuppisser, in einem Interview der Neuen Zürcher Zeitung vom 1. Dezember 2004 (Nr. 281, S. 67) deutlich: "Wie gesagt, viele Arbeitgeber führen sich überfordert, wenn sie es mit Behinderten zu tun haben. Es stellen sich Fragen wie: Passt eine behinderte Person ins Team, schafft sie die vorgesehene Arbeit terminlich und qualitativ? Unter diesem Druck umgeht wohl mancher Arbeitgeber dieses Problem. Andererseits muss man festhalten, dass wir bis Anfang der neunziger Jahre keine Probleme mit der Beschäftigung von Behinderten hatten"[6].

Dass Behinderte als zu Integrierende wahrgenommen werden suggeriert, dass sie bisher ausgeschlossen gewesen sind, bzw. an bestimmten sozialen Statuspositionen nicht oder nur teilweise teilnehmen konnten. Das wird sich auch in Zukunft vermutlich wenig verändern, denn es kommt ein weiterer Aspekt zu dieser Problematik hinzu. Im Personalselektionsverfahren scheinen Menschen mit einer Behinderung benachteiligt zu werden, weil die Manifestation ihrer Behinderung die Wahrnehmung dieser Menschen als Arbeitskraft verändert[7]. Bei Anstellungsprozessen liegt das Hauptaugenmerk darauf, ob die sich anbietende Arbeitskraft die für sie vorgesehene Funktion vollständig erfüllen kann. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die mögliche Flexibilität der einzustellenden zukünftigen Arbeitskraft im Falle von organisationalen Veränderungen im Unternehmen. Der dritte wichtige Aspekt ist die Abschätzung des finanziellen Risikos, welche der Arbeitgeber mit der Verpflichtung einer Arbeitskraft eingeht. Menschen mit einer Behinderung stehen hier unter einem verstärkten Legitimationsdruck. Auch hier muss die Frage gestellt werden, wie denn die in der Wirtschaft geltenden Austauschverhältnisse geregelt sind, dass Menschen mit Behinderungen sich rechtfertigen müssen und nicht die in der Wirtschaft tätigen Unternehmen dafür gerade stehen müssen, dass sie Menschen mit Behinderungen nicht beschäftigen oder wie in unserem Beispiel entlassen. Wie kommt es, dass offenbar ein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass jemand, der es offensichtlich nicht so leicht hat wie jemand anderer, sich dafür auch noch rechtfertigen muss?

Wenn man alle diese Kriterien mit den eben zitierten Äusserungen im Interview mit dem Vertreter des Arbeitgeberverbandes vergleicht, dann stellt man fest, dass alle Kriterien, die anscheinend für die Anstellung einer behinderten Person wichtig sind, sich nicht unterscheiden von den wichtigen Kriterien für nicht-behinderte Personen. Was macht dann den Unterschied aus? Also bleibt das von Klinger genannte Kriterium der Wahrnehmung. In dieser Hinsicht sind Menschen mit einer Behinderung einem verstärkten Legitimationsdruck ausgesetzt. Sie müssen zunächst einen potentiellen Arbeitgeber davon überzeugen, dass ihr Arbeitsvermögen im Hinblick auf die zu erbringende Leistung jenem eines Menschen ohne Behinderung nicht wesentlich nachsteht. Bei jeder Anstellung muss die Person, die sich anstellen lässt, sich auf Seiten der rekrutierenden Instanz einem Risikokalkül stellen. Lohnt sich das Risiko einer Anstellung?

Wie verhalten sich Kosten und Nutzen? Die Manifestation einer Behinderung führt dazu, dass das Augenmerk des zukünftigen Arbeitgebers besonders stark auf diesen Aspekt fokussiert, wenn Menschen mit einer Behinderung sich bewerben. Aber selbst wenn es gelingt, die Akteure der rekrutierenden Instanz im direkten Gespräch, in der face-to-face-Situation zu überzeugen, besteht eine weitere Hürde, die von grosser Bedeutung ist. Menschen mit Behinderung müssen auch noch die bei den Rekrutierenden bestehende Barriere hinsichtlich einer möglichen Abweisung im jeweiligen Arbeitskontext überwinden. Jeder Personalverantwortliche macht sich Gedanken darüber, ob ein neuer Mitarbeiter oder eine neue Mitarbeiterin bei seinen oder ihren zukünftigen Kollegen auch akzeptiert wird. Kurz gesagt, bei der Rekrutierungssituation stehen Menschen mit einer Behinderung vor einer doppelt vorurteilsbelasteten Schranke, die sie überwinden müssen, um Eingang in die Arbeitswelt zu finden. In der Rekrutierungssituation befinden sie sich realen und imaginierten sozialen Vorurteilen gegenüber; soziale Vorurteile wirken umso stärker, je weniger sie einer Realitätskontrolle unterzogen werden können oder müssen. Und es zeigt sich, dass jemand, der im Arbeitsleben nicht viele Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen gemacht hat, skeptischer gegenüber solchen Erfahrungen ist, während Menschen mit solchen Erfahrungen in der Regel offener sind.

Liebe Leserin, lieber Leser: Hand aufs Herz, wie entscheiden Sie, wenn Sie in eine solche Entscheidungssituation kommen, wie der im Beispiel genannte Filialleiter?

Es wäre zweifellos fatal zu meinen, es handle sich hier um ein moralisches Problem, um eines von Zivilcourage. Zivilcourage ist zweifellos heute so stark eine Mangelware geworden, wie ein grades Rückgrat. Dennoch sind alle diese Entscheide in Strukturen eingebettet, die sich nicht so leicht entdecken lassen. Wie sonst ist es zu erklären, dass das Stimmvolk der Schweiz am 17. Juni 2007 einer Revision der Invalidenversicherung zugestimmt hat, die es ermöglicht, dass die Arbeitgebenden eine Arbeitnehmerin oder einen Arbeitnehmer nach einem Monat Krankheit bei der Invalidenversicherung für eine Abklärung anmelden kann - ohne die von der Abklärung betroffene Person vorgängig zu informieren?

Solange im Denken und Fühlen der Menschen jene Phänomene, die wir hilflos mit "Behinderung" zu umschreiben versuchen als private und individuelle Probleme der davon betroffenen Menschen betrachtet werden, hat der im obigen Beispiel erwähnte junge Familienvater aus dem fernen Land mit seiner Epilepsie in diesem Land keine Chance. Sein Problem ist unser Problem und es ist ein politisches Problem.



[6] Nun ist diese Behauptung allerdings blauäugig, weil es damals fast gar keine Menschen mit einer Behinderung in der Arbeitswelt gegeben hat, vgl. dazu die Berechnungen in Baumgartner et al. (2004, S 7).

[7] Dies ist im Rahmen von Interviews mit Human Ressources Managern aus verschiedenen Wirtschaftsbranchen, die ich Rahmen meines Forschungsprojektes durchführte, sehr deutlich geworden.

Literatur

Arendt, H. (1981). Vita activa. vom tätigen Leben. München, Piper.

Baumga rtner, E., Greiwe, S., Schwarb, T. (2004). Die berufliche Integration von behinderten Personen in der Schweiz. Studie zur Beschäftigungssituation und zu Eingliederungsbemühungen. Kurzfassung. Bern, BSV.

Graf, E. O. (2006). Normalität - ein schwieriges Moment unseres Alltags. In: Graf, E. O., Weisser, J. (Hrsg.) Die Unausweichlichkeit von Behinderung in der Kultur. acta empirica. Gesellschaft und Behinderung. Bern. Soziothek.

Guggisberg, J. e. a. (2004). Auf der Spur kantonaler Unterschiede in der Invalidenversicherung. Eine empirische Untersuchung. Zürich/Chur, Verlag Rüegger.

Jantzen, W. (1992). Allgemeine Behindertenpädagogik, Band 1: Sozialwissenschaftliche und psychologische Grundlagen. Weinheim, Beltz Verlag.

Jollien, A. (2001). Lob der Schwachheit. Zürich, Pendo.

Jollien, A. (2003). Die Kunst Mensch zu sein. Zürich, Pendo.

Klinger, M. G. M. (2002). "Organizational Culture and People with Disabilities." Disability Journal Quaterly 22(1): 21-25.

Merton, R. K. and R. Nisbet, Eds. (1976). Contemporary Social Problems. New York. Chicago. San Francisco. Atlanta, Harcourt Brace Jovanovich.

Negt, O. (2002). Arbeit und menschliche Würde. Göttingen, Steidl.

Simmel, G. (1983). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin, Duncker & Humblot.

Zwicky, H. (2003). "Zur sozialen Lage von Menschen mit einer Behinderung in der Schweiz." Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 28(3).

Quelle:

Erich Otto Graf: Arbeit und ihr Verlust. Die Probleme der"anderen" sind unsere eigenen

Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 3/4/2007, Thema: Disability Studies

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Stand: 10.11.2009

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