Behinderung und Dritte Welt

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000. Thema: Über die Grenzen schauen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/2000)
Copyright: © Hans-Peter Schmidtke 2000

Behinderung und Dritte Welt

Über die eigenen Grenzen zu schauen ist für die Interkulturelle Pädagogik eine conditio sine qua non. In der Behindertenarbeit ist es noch immer ein Nebenaspekt. Am Beispiel einer Exkursion nach Mexiko soll der Blick dafür geschärft werden, dass nicht geographische, ökonomische oder politische Kenntnisse die Grundlage für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung legen können, sondern erst der direkte Kontakt und der Dialog mit ihnen.

Was muss ich über ein Land wissen, um Behinderungen in ihrem Kontextzu verstehen?

1. Einleitung

Wissenschaftliche Arbeiten können selbst in einem solch spannenden Feld wie der Arbeit mit Behinderten in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, wo immer etwas von Exotik mitschwingt, dann ermüdend werden, wenn sie sich ständig am gleichen Schema orientieren, so als sei es dem Gegenstand vorgegeben:

a) Beschreibung eines Landes, seine geographische Einordnung, die Unterschiedlichkeit der Landschaften und Regionen, die historische Entwicklung in seiner vorkolonialen, kolonialen und nachkolonialen Phase, der Übergang von der Diktatur zur Demokratie, vom Kriegszustand zum jetzt brüchigen Frieden und seine instabile politische Situation etc.

b) Beschreibung der wirtschaftlichen Situation, die agrare Struktur des Landes und seine Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialherren und dem Großkapital, die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, Stadtflucht, Ausbeutung und Unterdrückung der ärmsten Teile, die Abhängigkeit von der internationalen Hilfe, verbunden mit Tendenzen des Neokolonianismus und der Bevormundung durch die Weltbank und die Hilfsorganisationen etc. (In diesen Teil der Arbeiten ist häufig die Selbstzuschreibung von Schuld an "uns" als Europäer und die Klassifizierung in "wir" und "die" einbezogen.)

c) Beschreibung des Schulsystems, seine Unzulänglichkeiten, die veralteten Schulbücher und Methoden, der Grad des Analphabetismus, der geringe Wert der Schule im Angesicht der Bevölkerung und die Unfähigkeit des Systems, auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder adäquat einzugehen, die unzureichende Ausbildung der Lehrer und ihre Überforderung durch überfüllte Klassen etc.

d) Beschreibung der Behindertenarbeit im Lande, der Erlasse und ihre fehlende Respektierung, Versuch einer zahlenmäßigen Erfassung der als behindert Klassifizierten, Beschreibung einer oder einiger Institutionen, die die eigentliche Grundlage für die Arbeit darstellen etc.

Natürlich sind all diese Kenntnisse und Erkenntnisse wichtig, um Behindertenarbeit in ihrem Kontext zu verstehen (auch wenn sicherlich auffällig ist, dass die Beschreibungen weitgehend auf alle Länder der "Dritten Welt" zu passen scheinen), aber es ist beklagenswert, wenn all die "objektiven" Angaben von a - d ein solches Übergewicht bekommen, dass für die eigentliche Auseinandersetzung mit von Behinderung Betroffenen in ihrem je persönlichen Lebensraum kein Platz mehr bleibt. Da Arbeiten im Bereich "Behinderung und Dritte Welt" in der Regel auf sehr konkreten Erfahrungen in einem Land beruhen, ohne dass dies hinreichend zum Ausdruck kommt, möchte dieser Beitrag die Forderung unterstützen, dass in den Darstellungen den subjektiven Sichtweisen aller Beteiligten ein größeres Gewicht beigemessen wird.

2. Das "Mal de ojo" oder ein Sonderpädagoge als Krankheitsverursacher

Im März dieses Jahres habe ich mit einer Gruppe Studierender eine Exkursion nach Tlaxcala in Mexiko durchgeführt. Wir wollten uns u. a. im Lande mit Fragen der Migration und der mehrsprachigen Erziehung indigener Gruppen beschäftigen; im Mittelpunkt standen jedoch die Konzepte und die Praxis in der schulischen und außerschulischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Es ist selbstverständlich, dass zu einem solchen Unternehmen eine gründliche organisatorische und inhaltliche Vorbereitung gehört. Intensiv haben wir uns deshalb vor Antritt der Reise vier Semester lang mit der Geschichte Mexikos, seiner politischen und wirtschaftlichen Lage, dem Krieg in Chiapas, dem Schulwesen und der multikulturellen Situation auseinandergesetzt.

Als wir starteten, fühlten wir uns bereits wie Expertinnen und Experten, Leute, die die Kultur des Landes studiert hatten, die über Land und Leute Bescheid wussten, über das Erziehungswesen ebenso wie über die Behindertenbetreuung. Dazu hatte Originalliteratur aus dem Land und sonstige Spezialliteratur zu verschiedenen Themen beigetragen.

Gleich zu Beginn der Exkursion - wir genossen das mexikanische Flair in einem Straßencafé Tlaxcalas - gab mir eine Situation zu denken: An einem Nachbartisch hatte eine Familie mit einem Kleinkind im Kinderwagen Platz genommen. Arglos nahm ich zu der Kleinen Blickkontakt auf, winkte ihr zu, spielte mit den Händen, versteckte mich hinter der Speisekarte. Eltern hierzulande reagieren zumeist positiv auf solches Verhalten, nicht so der Vater dieses Kindes. Zunächst beobachtete er missmutig, dass ich sein Kind ansah. Kurze Zeit darauf stand er auf, nahm das Kind aus dem Kinderwagen und kam mit nicht gerade freundlichem Gesicht auf mich zu. Mir war in dem Moment nicht sehr wohl in meiner Haut. Der fremde Mann übergab mir sein Baby und wies mich an, es auf den Arm zu nehmen "para que no le entre el mal de ojo" ("damit es nicht die Krankheit über das Auge erleide").

Ich war extrem überrascht. Wie mir meine mexikanische Kollegin später erläuterte, war ich durch meinen intensiven Blickkontakt zu einem möglichen Verursacher einer unbestimmten Krankheit geworden, die unterschiedliche Schweregrade erreichen kann. Nur durch einen direkten Körperkontakt mit dem Kind konnte ich präventiv tätig werden und den möglichen Ausbruch einer Krankheit verhindern. Auf Rat der Kollegin tat ich ein übriges: ich kaufte dem kleinen Mädchen ein Amulett gegen das "mal de ojo", was die Eltern des Kindes sichtlich erfreute und die gespannte Atmosphäre völlig bereinigte. Auch die Kollegin nahm drei Amuletts für ihre Nichten und Neffen mit. Natürlich glaubte sie nicht an solchen Unfug, versicherte sie mir, sie sei schließlich Sonderpädagogin, aber es handele sich ja um recht schöne Schmuckstücke.

In meinen Arbeitsunterlagen über Mexiko und die dortige Behindertenarbeit suchte ich dieses Phänomen vergebens.

3. Der kulturelle Kontext

Die dargestellte Geschichte spielte sich in einem Straßencafé ab, das nur vom wohlhabenderen Bürgertum besucht wurde. Indigene oder andere arme Teile der Bevölkerung betraten das Lokal bestenfalls in der Rolle als Schuhputzer, Kaugummiverkäufer oder Bettler. Es konnte also bei dieser Familie eine gewisse Bildung vorausgesetzt werden. Auch die Kollegin war deshalb über das Verhalten erstaunt, weil sie es wohl eher bei indigenen Gruppen, nicht aber bei Personen der Mittelschicht erwartet hätte.

Die Begebenheit lässt etwas Grundsätzliches deutlich werden: In bezug auf die Interpretation der Gründe für Krankheiten und Behinderungen sollte man im direkten Dialog mit betroffenen Personen immer auf ungewöhnliche Vorstellungen und Reaktionen gefasst sein. Eine noch intensivere Kenntnis der mexikanischen Kultur hätte möglicherweise geholfen, die Reaktion des Vaters eher zu verstehen, erwartet hatte sie jedoch auch die mexikanische Kollegin nicht.

Behinderung hat weder im hiesigen kulturellen Kontext, noch in anderen Kulturen eine Bedeutung an sich. Sie wird erst durch persönliche Betroffenheit auf dem jeweiligen Erfahrungshintergrund oder durch strukturelle Bedingungen konstruiert. Je mehr eine Person in ihrem Selbstverständnis, ihren Lebensbedingungen und/ oder Interaktionsmöglichkeiten berührt wird, desto schwerwiegender fallen Abweichungen körperlicher, geistiger oder psychischer Art ins Gewicht. Selbst nach allgemeinen Kriterien als "leicht" eingeschätzte Krankheiten, wie z. B. Durchfallerkrankungen, können dort lebensbedrohend werden, wo das Geld für Medikamente fehlt. Als allgemein "geringfügig" klassifizierte Beeinträchtigungen können dort ein unlösbares Problem darstellen, wo bei knappen Ressourcen die Behinderung zusätzliche Kosten für Medikamente verursacht oder ein erhöhter Betreuungsbedarf zusätzliche Arbeitskräfte bindet, die zur Überlebenssicherung der Gemeinschaft gebraucht werden.

Extreme Lebensbedingungen ziehen selbstverständlich andere Vorstellungen und Umgangsweisen mit den Phänomenen nach sich, die die Gruppe oder den Einzelnen bedrohen. Dabei bleiben die Verhaltensweisen weitgehend im Rahmen dessen, was die Betroffenen bisher als "angemessene Reaktion" haben lernen und erfahren können. Jede Veränderung der Kontextbedingungen führt auch zu Änderungen der eigenen Interpretation der eigenen Lebenssituation, d. h. sie führt auch zur Uminterpretation von Gemeinschaft, Leben und Arbeit, was auch unter dem Begriff der Kultur gefasst werden kann.

Vorstellungen von Außenstehenden über die Kultur einer ethnischen Gruppe, eines Landes und seine kulturellen Besonderheiten können leicht dazu verführen, sich ein Bild über dieses Land und seine Menschen zu machen. Derartige Bilder gerinnen leicht zu Stereotypen, die nicht mehr offen sind für neue, nicht ins Bild passende, ungewöhnlich erscheinende Vorstellungen und Reaktionen. Vorkenntnisse über die Kultur eines Landes und die seiner Menschen laufen Gefahr, dass sie dem ständigen Wandel der Kultur und den unzähligen Interpretationsmöglichkeiten derjenigen, die zu dieser Kultur gehören, nicht mehr gerecht werden.

4. Die Bedeutung der statistischen Angaben

In zahlreichen Arbeiten zur Vergleichenden Sonderpädagogik oder zur Sonderpädagogik des Auslandes haben die statistischen Angaben über Häufigkeiten von Behinderungen einen herausragenden Stellenwert. Es scheint, als ergebe sich aus der Betrachtung der bloßen Zahlen eine vertiefte Kenntnis über das tatsächliche Ausmaß des Problems in dem jeweiligen Land. Das "Handbuch Sonderpädagogik -Vergleichende Sonderpädagogik" verstärkt diesen Eindruck, da in vielen Beiträgen auf die prozentualen Anteile der verschiedenen Behinderungsarten besonderer Wert gelegt wird.

In vielen Darstellungen über die Behindertenarbeit eines Landes wird von einem Prozentsatz von 10% Behinderter eines Jahrgangs als grobe Orientierungshilfe ausgegangen, so wie sie von der WHO vorgegeben wurde. Es ist selbstverständlich, dass sich dieser Wert je nach gesellschaftlichem Verständnis von Normalität, je nach Ausbau des Bildungs- und Gesundheitswesens erheblich variiert. Die Aussagekraft der statistischen Angaben sind insbesondere als Grundlage für die Arbeit in Ländern der Dritten Welt äußerst gering, selbst wenn es sich um Versuche handeln sollte, alle Menschen mit Behinderungen in einer Region zu erfassen.

In Costa Rica wurde eine solche Untersuchung im Kanton Nicoya durchgeführt. Sie kam zu einem Anteil von 13,7 %. Selbst in Costa Rica, einem Land mit gut ausgebauter Infrastruktur, einem flächendeckenden Erziehungs- und Gesundheitswesen und einer seit über 50 Jahren tätigen nichtstaatlichen Organisation, die große Teile der Behindertenarbeit im Lande erfasst und koordiniert, basieren die Angaben letztlich auf Schätzungen.

Ungenauer bis unbrauchbar werden Angaben dort, wo es keine Koordination der Arbeiten und keine zentrale Erfassung von Daten gibt. In El Salvador teilen sich fünf Ministerien die Aufgaben im Behindertenbereich: Erziehung, Soziales, Familie, Verteidigung und Justiz. Bei einer Studie, die ich 1985 durchführte, übergab mir ein Verantwortlicher des Erziehungsministeriums ein Dokument, in dem von einem Prozentsatz von 73% (!) Behinderter an der allgemeinen Schulpopulation ausgegangen wurde. Eine neuere Studie, die 1994 im Auftrag der GTZ für das Land erstellt wurde, kam hochgerechnet für das ganze Land auf 15%, stellte aber gleichzeitig fest, dass in den ersten Schuljahren 30 - 40% Schulversager zu erwarten sind. Hinzuzurechnen ist noch die Zahl der Kinder, die gar nicht erst in den Schulstatistiken auftauchen, weil sie gar keine Schule besuchen. Sie wird auf über 10% geschätzt.

Es ist selbstverständlich fraglich, ob im sozialen und wirtschaftlichen Kontext vieler Länder die Folgen von fehlendem Schulbesuch oder Schulflucht und Schulversagen überhaupt als "Behinderung" kategorisiert werden können, da viele dieser Kinder über ihre Arbeitskraft zur Überlebenssicherung ihrer Familien beitragen, und Schulversagen der Kinder sich sehr deutlich als Versagen der Schulorganisation im Umgang mit den didaktischen und pädagogischen Notwendigkeiten für diese Kinder darstellen. Hier stoßen wir an die Grenzen der Übertragbarkeit unserer eigenen Behinderungskategorien.

Epidemiologische Untersuchungen können selbstverständlich dazu beitragen, bestimmte Schwerpunktgebiete für einzelne Behinderungsarten zu lokalisieren, um durch Impfungen oder andere medizinische Indikationen präventiv vorgehen zu können z. B. bei Blindheit (in einigen Regionen Belizes oder die sog. Flussblindheit in einigen Ländern Westafrikas, die durch winzige Mücken übertragen wird), die hohe Rate gehörgeschädigter Menschen in einer der nördlichen Provinzen von Honduras oder die erhöhte Zahl von Menschen mit geistiger Behinderung aufgrund von Jodmangel in einigen Andenregionen. Welche Bedeutung die Behinderungen in den jeweiligen Regionen für die Einzelnen und ihr Umfeld hat, wird durch solche Untersuchungen selbstverständlich nicht erkennbar.

Einen ebenso großen Wert für Planungen im sonderpädagogischen Feld wie die meist unbrauchbaren Schätzungen der Zahlen über Behinderungen sollten Angaben haben, die Auskunft über die Armutssituation in den jeweiligen Ländern und Regionen gibt. Der Jahresbericht von UNICEF "Zur Situation der Kinder in der Welt (1998) mit dem Schwerpunktthema Armut, liest sich wie eine Bestandsaufnahme von Kausalfaktoren für Krankheiten und Behinderungen. Nimmt man die Informationen aus aktuellen Berichterstattungen über die menschlichen Katastrophen im Rahmen der Kriege in Äthiopien, in Afghanistan oder im Kosovo, die Flutkatastrophen in Bangladesch, China oder die verheerenden Auswirkungen des Hurrikan Mitch in Mittelamerika hinzu, wird das Ausmaß von zusätzlichen Risikofaktoren neben dem Risikofaktor Nr. 1, der Armut, überdeutlich.

Wer den Zusammenhang von Armut und Behinderung kennt, kann eigentlich auf zusätzliche Erhebungen von vermeintlich objektiven Daten und Zahlen über Behinderungen in Ländern der "Dritten Welt" verzichten. Wenn zusätzlich mitbedacht wird, dass bei Formen schwerer Behinderung in aller Regel weitere Familienmitglieder indirekt betroffen sind, weil sie für die Versorgung der behinderten Person benötigt werden, ist es unverständlich, dass bei einigen großen Hilfsorganisationen (wie z. B. bei der GTZ) die Hilfe für Behinderte nicht als eine zentrale Aufgabe in der Entwicklungszusammenarbeit neben der Grundbildung erkannt wird, die in erster Linie Professionalität und nicht Almosen aus einer Haltung des Mitleids heraus erfordert.

5. Unterschiede der sonderpädagogischen Konzepte

Statistische Angaben über Behinderungen orientieren sich selbstverständlich an den Kategorien, die die gebräuchlichen Konzepte in einem Land vorgeben. Wie überall bestehen auch in den Ländern der "Dritten Welt" zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und zwischen ihnen und den anderen Expertinnen und Experten erhebliche Unterschiede im Verständnis dieser Konzepte, was zu anderen Zahlen und auch anderen Modellen der Arbeit führt. Dies bedeutet bezogen auf die Begrifflichkeit in der Behindertenarbeit, dass hinter vielen Begriffen eine breite Diskussion steht, so dass seine bloße, oft lediglich wörtliche Übersetzung dem eigentlichen Bedeutungsgehalt in seiner Vielschichtigkeit nicht gerecht wird. Im europäischen Kontext kann etwa mit der Primarschule eine vier-, sechs- oder achtjährige Schulform gemeint sein. Eine Übersetzung mit "Grundschule" führt notwendigerweise zu falschen Assoziationen. Oder man bedenke das breite Spektrum der Interpretationen von Begriffen wie "Behinderung" oder "Heilpädagogik". Eine bloße Übersetzung gibt den eigentlichen Bedeutungsgehalt nicht annähernd wieder.

In Mexiko wurde uns das Konzept der "deficiencia mental" oder "discapacidad mental" erläutert. Die "geistige Behinderung", wie der Begriff in der Regel übersetzt wird, umfasst drei Gruppen: discapacidad ligera - leichte geistige Behinderung, discapacidad moderada - mittlere geistige Behinderung, discapacidad servera - schwere geistige Behinderung

Insgesamt wird mit etwa 2,8 % "discapacitados mentales" gerechnet. Ähnliche Werte werden in anderen lateinamerikanischen Ländern und auch von der WHO gehandelt. Der Vergleichswert für die Gruppe der geistig Behinderten liegt in Niedersachsen bei nur 0,7% . Schon aus der Relation wird deutlich, dass die Gruppen Unterschiedliches bezeichnen, dass "discapacidad mental" entsprechend nicht einfach mit "geistiger Behinderung" übersetzt werden darf. Nimmt man bei den niedersächsischen Zahlen den Wert für Lernbehinderte von 2,7% (Kultusministerium 1996, S. 68) hinzu, wird deutlich, dass sich dann die statistischen Werte annähern.

Dieser konzeptuelle Unterschied müsste sich eigentlich in schulischer und außerschulischer Arbeit mit den als "lernbehindert" oder "dicapacitados mentales leves" Klassifizierten niederschlagen. Für die Ansätze des sonderpädagogischen Förderbedarfs sollte es mitbestimmend sein, ob die Ursachen für Lernschwierigkeiten eines Kindes wie bei Lernbehinderungen eher im gesellschaftlichen oder schulorganisatorischen Umfeld des Kindes zu verorten sind oder ob sie als eine leichte Form der geistigen Behinderung, also als mentales Handicap eines Schülers verstanden werden. In Mexiko wurde uns über die Gruppe der "discapacidades mentales ligeras" hinaus von der großen Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit "graves problemas de aprendizaje", d. h. schwerwiegenden Lernproblemen berichtet. Hiermit sind all die Kinder gemeint, die bereits im ersten Schuljahr versagen und häufig auch im darauffolgenden Jahr erneut Lernstörungen aufweisen. Diese Gruppe kann in einzelnen Schulen nahezu ein Drittel der Schülerschaft ausmachen. Oft gehören hierzu die Kinder aus indigenen Familien, die des Spanischen nicht mächtig sind, oder Kinder aus den städtischen Randgebieten, wo die Lebensverhältnisse schulischem Lernen entgegenstehen.

Auf diesem Hintergrund bekommt auch die Vorstellung von Integration ein anderes Gesicht. Mexiko hat zumindest theoretisch das Konzept Spaniens zur Integration Behinderter und Auflösung der staatlichen Zentren für Sondererziehung übernommen: Behinderte werden danach nicht mehr als eine besondere Gruppe angesehen, für die stärkere Individualisierung gefordert ist, die Schule sollte von ihrem Auftrag her als Schule für alle Kinder allen Unterricht soweit individualisieren und differenzieren, dass jeder einzelne mit seinen jeweiligen Besonderheiten eine angemessene Förderung erhält. Damit können eine besondere Individualisierung und Förderung aufgrund einer Behinderung entfallen. Zumindest einige spanische Schulen haben daraus den Schluss gezogen, dass damit weitere Individualisierung aufgrund besonderen pädagogischen Förderbedarfs entfallen kann; Die Klassenfrequenzen brauchen nicht mehr gesenkt zu werden, sondern im Gegenteil, sie können wieder erhöht werden, denn theoretisch ist damit die bestmögliche Förderung von Kindern mit besonderem pädagogischen Förderbedarf aufgrund einer Behinderung gewährleistet. Die Folge ist jedoch bisher nicht die Abschaffung aller sonderpädagogischen Einrichtungen. Nach Aussagen von Experten haben, zumindest in der Provinz Tarragona die sonderpädagogischen Einrichtungen trotz staatlich verordneter Integration nicht einen Schüler verloren.

Die Integration, die wir in Mexiko beobachten konnten, bezog sich in erster Linie auf Schülerinnen und Schüler mit "graves problemas de aprendizaje", also Lernbehinderungen, wie es meist übersetzt wird. Nur in Ausnahmefällen waren auch Sinnesgeschädigte oder Kinder mit leichter, mittlerer oder schwerer geistiger Behinderung beteiligt. Anders gewertet: Schülerinnen und Schüler, die in Mexiko als "lernbehindert" bezeichnet werden und um die sich im wesentlichen die Integrationsdebatte dreht, sind für das Lehrpersonal der Grundschulen in der Bundesrepublik selbstverständlicher Bestandteil ihrer pädagogischen Arbeit im Rahmen von Förderunterricht, der Nachhilfe und der besonderen unterrichtlichen Zuwendung allgemein, Schülerinnen und Schüler, für die es zumindest offiziell glücklicherweise keine festen Kategorien gibt.

Die beiden Beispiele mögen dafür genügen, dass es trotz bester Fremdsprachenkenntnisse von ausländischen Expertinnen und Experten dann zu Übersetzungs- und Übertragungsfehlern und Verzerrungen des Bildes kommen kann, wenn nicht über den Dialog eine Annäherung an die Bedeutung der Fachbegriffe und Konzepte stattgefunden hat.

6. Schulsystem und Schulwirklichkeit

Wir haben uns bei der Vorbereitung der Exkursion den Aufbau des mexikanischen Schulwesens vor Augen geführt, haben versucht, die Integrationsdebatte auch mit Literatur in spanischer Sprache nachzuvollziehen. Wir haben uns durch Vorträge der Schulverwaltung des Staates Tlaxcala über USAERs (Unidad de Servicio de Apoyo de la Educación Regular -mobile Fördergruppen) und CAM (Centro de Atención Múltiple - in etwa vergleichbar mit Sonderschulen) informiert und stellten bei Beobachtungen vor Ort fest, dass in der Praxis nur wenig mit dem übereinstimmte, was wir gelesen und gehört hatten: die Schulen entsprachen nicht den Verordnungen, der Unterricht nicht den Richtlinien und Lehrplänen, die Lehrer unterrichteten frontal, ohne auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler einzugehen, auch nicht auf diejenigen mit Behinderungen. Zwar sollte der Unterricht an einigen der Schulen in der Muttersprache der Kinder stattfinden, doch die spanische Sprache war das tragende Element.

Natürlich wurde der Schulalltag wie überall in der Welt zunächst durch die situativen Bedingungen bestimmt, dann erst durch das, was die Lehrerinnen und Lehrer aus Ausbildung oder Studium in die Praxis retten konnten und erst danach rangierten die offiziellen Verordnungen, soweit man sie überhaupt intensiv studiert hatte. Erst im Dialog mit Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern erfuhren wir etwas von der Vielfalt von Lebens- und Lernstrategien, von den Vorstellungen, was Behinderung mit Menschen macht, und den Schwierigkeiten der USAERs.

7. Die Bedeutung des Dialogs in der interkulturellen Zusammenarbeit

An diesem Beispiel der Vorbereitung und Durchführung einer Exkursion nach Mexiko sollte deutlich werden, dass in vielen Arbeiten zum Thema "Behinderung und Dritte Welt" dem vermeintlichen kulturellen Hintergrund mit seiner geographischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Verankerung, den offiziellen Verlautbarungen zu Schule, Unterricht und Integration und den statistischen Angaben ein zu hoher Wert beigelegt wird.

Es sollte deutlich werden, wie wichtig es für die Vorstellungen, Bewertungen und die praktische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ist, die Betroffenen in ihren konkreten Lebensräumen, mit ihren Vorstellungen und Interpretationen und ihren konkreten Bedürfnissen wiederzuentdecken (vgl. Bürli 1997, S. 193 f). Interkulturelle Pädagogik beginnt dort, wo der Dialog mit Betroffenen getragen von gegenseitiger Achtung wieder die Grundlage der Arbeit bildet.

Literatur

Bürli, Alois: Sonderpädagogik international - Vergleiche, Tendenzen, Perspektiven, Luzern 1997

Ministerio de Educación: Macro Proyecto de Educación Especial con Participación Estatal y Comunal - 1985 - 1989, San Salvador, (unveröffentlicht) Juli 1985

HerreA; A. Wuilmann, O.: Sondeo para identificar problemas de aprendizaje y discapacidades relacionadas con la educación especial en la escuela regular del area rural de una zona ex-conflictiva de la Republica de El Salvador, San Salvador (unveröffentlicht) 1994

Schmidtke, Hans-Peter: Mittelamerika. In: Klauer, Karl-Josef (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 11: Vergleichende Sonderpädagogik, (Marhold) Berlin, S. 587-600

Schmidtke, Hans-Peter: Lebensqualität - Reflexionen über (pädagogische) Assistenzen für Menschen mit Behinderungen. Das Beispiel Zentralamerika. In: Behindertenpädagogik, 36. Jg., Heft 3/ August 1997, S. 300-310

Schmidtke, Hans-Peter: Frauen und Behinderung - Lebensentwürfe und Lebensalltag in Mittelamerika. In: Jantzen, Wolfgang (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. Subjekt/Objektverhältnisse in Wissenschaft und Praxis, Edition SZH, Luzern 1997, S. 284-295

Sentker, Andreas: Die Blinden vom Fluß. In: Die Zeit, Nr. 10, 1. März 1996, S. 33

World Health Organization: The World Health Report 1995, Genf 1995

UNICEF: Control de los desórdenes por deficiencia de yodo en Centroamérica, Guatemala 1991

UNICEF: "Zur Situation der Kinder in der Welt, Frankfurt 1997

Literaturtipp

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Behinderung und Dritte Welt gibt seit 1990 die Zeitschrift "Behinderung und Dritte Welt" heraus. Diese ist ein wichtiges Kommunikationsmedium zwischen den deutschsprachigen Personen, die sich im In- und Ausland mit dem Thema auseinandersetzen. Dabei geht es sowohl um den Austausch von Erfahrungen aus unterschiedlichen Projekten, als auch um die Verbindung mit anderen in- und ausländischen Netzwerken. Die Zeitschrift ist die einzige bundesdeutsche Fachzeitschrift zum Thema Behinderung und DritteWelt.

Seit 1994 erscheint jede Ausgabe der Zeitschrift mit einem Schwerpunktthema. Parallel dazu gibt es eine über mehrere Hefte hinweglaufende Schwerpunktserie. Die erste Schwerpunktserie widmete sich dem Thema Behinderung in verschiedenen Religionen, zur Zeit geht es um die Vorstellung von Behinderung in verschiedenen Kulturen. Neben diesen beiden Elementen enthält die Zeitschrift einen Informationsteil mit Berichten, Beschreibungen von Organisationen, Kurznachrichten und Literaturhinweisen.

Weitere Informationen:

Zeitschrift Behinderung und Dritte Welt

Wintgenstraße 63, 45239 Essen

Tel.: 0201/ 40 87 745

Fax: 0201/ 40 87 748

Gabi.Weigt@t-online.de

http://www.uni-kassel.de/fb4/zeitschriften/beh3w/ausgaben.html

Für blinde und sehbehinderte Menschen ist die Zeitschrift als Diskette im Word-Format erhältlich.

Der Autor

Hans-Peter Schmidtke, Jg. 1944, 1970 Sonderschullehrer in Bochum, 1974 Wiss. Ass. an der Universität in Essen, 1976 Promotion über Verhaltensprobleme spanischer Schüler in deutschen Schulen, Lehrstuhlvertretungen für Interkulturelle Pädagogik in Bremen, Hamburg und Bielefeld, seit 1985 Universitätsprofessor für Interkulturelle Pädagogik an der Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkt u. a.: Behinderung und Dritte Welt (insbesondere Lateinamerika). Mehrere Forschungsreisen und Exkursionen mit Studierenden in verschiedene Länder Lateinamerikas

Universität Oldenburg

PF 2503

D-26111 Oldenburg

Quelle:

Hans-Peter Schmidtke: Behinderung und Dritte Welt

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.05.2005

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