Behindertes Kind = behinderte Mutter?

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000; Thema: Über die Grenzen schauen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (3/2000)
Copyright: © Dorothea Wolf-Stiegemeyer 2000

Behindertes Kind = behinderte Mutter?

Vor kurzem las ich die Gleichung: Schwerstbehindertes Kind = schwerstbehinderte Mutter. Meines Erachtens kann man diese Aussage nicht generell so stehen lassen!

Ich bin als Mutter nicht behindert, sondern ich werde in vielen Alltagssituationen behindert. Da geht es mir ähnlich wie meiner Tochter. Geht man zunächst davon aus, dass das, was einen Menschen ausmacht, seine Person, seine Individualität, ist, so kann man ganz klar sagen, dass ein Mensch nicht behindert ist, sondern behindert, bzw. gehindert wird. Da sollte meiner Meinung nach auch in der Umgangssprache besser differenziert werden, weil es ein erheblicher Unterschied ist, ob ich behindert bin (Eigenschaft) oder ob ich behindert werde. So wird das mit Schwerstbehinderung lebende Kind zum Beispiel von seinem Leib behindert, sich zu entfalten und von uns und anderen Menschen behindert, da wir seine Person und oft seine Form der Mitteilung nicht erkennen!

Ich lebe seit 14 Jahren mit einem von Schwerstbehinderung betroffenen Kind und ich kann sagen, dass meine Lebensgestaltung dadurch verändert und auch "behindert" wird. In vielen Gesprächen mit Müttern besonderer Kinder wurden ähnliche Erfahrungen geäußert.

Tatsächlich sind die Mütter der mit Schwerstbehinderung lebenden Kinder in ihrem Zusammenleben mit diesen besonderen Kindern vielen Beeinträchtigungen ausgesetzt.

Dieses beginnt im praktischen Erleben von Alltagssituationen: Bin ich als Mutter zum Beispiel mit meiner Tochter im Rollstuhl unterwegs, werde ich durch im Weg parkende Autos, hohe Bordsteinkanten, zu kleine Aufzüge, durch Treppen, etc. am Vorankommen gehindert bzw. behindert voranzukommen.

Ferner bin ich in extrem höherem Umfang als vergleichbare Mütter unbelasteter Kinder an der Umsetzung eigener, meiner Person entsprechender Lebensvorstellungen gehindert. Ich bin zum Beispiel seit Jahren daran gehindert, mich während des Essens auf meine Mahlzeit zu konzentrieren und seit der Geburt meiner Tochter daran gehindert, ruhige, durchschlafene Nächte zu verbringen.

Durch viele Erfahrungen mit den Einstellungen der Mitglieder unserer Gesellschaft zu Menschen mit Schwerstbehinderung fühle ich mich teilweise sozial isoliert.

Durch fehlende Freizeit bin ich gehindert, an dem Leben in der Gesellschaft (Kultur, Gemeinde, Kirche, Verein, etc.) in dem in sonstigen Familien üblichen Ausmaß teilzunehmen. In einigen Phasen der Auseinandersetzung und Trauer (wegen der Behinderung meines Kindes) konnte ich aufgrund meiner emotionalen Befindlichkeit gar nicht unbefangen und unbekümmert an außerfamiliären Begegnungen teilnehmen.

Allein schon diese Ausführungen lassen deutlich werden, dass ich als Mutter eines besonderen Kindes zu einem Personenkreis gehöre, der mit Beeinträchtigungen und Behinderungen lebt, welche den gewohnten Verhältnissen und Lebensumständen unserer Gesellschaft nicht entsprechen. Ich bin zwar keine behinderte, oder schwerstbehinderte Mutter, ich werde aber doch in vielen Lebensbereichen behindert.

Dorothea Wolf-Stiegemeyer hat vier Kinder, die 14jährige Tochter ist behindert

Quelle:

Dorothea Wolf-Stiegemeyer: Behindertes Kind = behinderte Mutter?

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/2000; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.05.2006

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