Frau Schreck

Autor:in - Sigrid Mols
Themenbereiche: Recht, Kultur
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/99; Thema: Vom Wissen zum Verstehen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/1999)
Copyright: © Sigrid Mols 1999

Inhaltsverzeichnis

Frau Schreck

Ich schlafe ruhig - normalerweise. Seit einiger Zeit werde ich mit einem Schrei wach. Ich träumte von dem, was ich vor 5 bis 6 Jahren erlebte. Ich sah mich in die Werkstatt gehen, in meinen früheren Büroraum. Auf dem Flur lachte ich noch mit den Leuten. Dann saß ich in unserem Raum beim Tisch und wartete auf das Essen. Elly hatte mir von einem Freund erzählt. Wir beide unterhielten uns sehr intensiv über Freundschaft und Liebe. Es war eine ganz normale Unterhaltung. Da kam von hinten unsere Betreuerin, Frau Schreck: "Jetzt essen wir." Schweigen. Plötzlich legte sie los, voll zorniger Aufregung. "Ihr seid doch immer abhängig und könnt doch ohne fremde Hilfe gar nicht existieren. Wie könnt ihr da nur von Ehe reden. Ihr müßt doch mal akzeptieren, daß ihr immer Hilfe braucht, und das kann niemand sein Leben lang durchhalten. Ihr müßt die Realität sehen und nicht denken, daß es einen gibt, der immer alles für euch macht. Glaubt das nur ja nicht, daß einer für euch sein Leben hergibt. Ihr müßt sowieso später in ein Heim gehen."

Ich versuchte ihr zu entgegnen, aber sie brüllte mich an: "Du mußt doch einmal die Wirklichkeit sehen." Meine Argumente, denn Elly und ich kannten Leute, die zusammen leben, richteten nichts aus. Sie triumphierte als große Siegerin, und wir waren am Boden zerstört.

Ich wollte Elly doch nur meine neuesten Erlebnisse mitteilen. Ich kochte vor Wut, dabei schaufelte sie mir ständig Quark in den Mund. Ich spritzte mich so voll, daß meine Bluse weiß übersät war. Frau Schreck hielt es nicht für nötig, das zu säubern, obwohl sie wußte, daß ich nach der Werkstatt sofort zur Geburtstagsfeier von meinem Freund ging. Wie sollte ich nur den Tag überleben? Mein Freund sagte mir ins Gesicht: "Du hörst jetzt auf darüber nachzudenken, sonst werfe ich dich zum Fenster hinaus."

Ich selber hatte mich schon längst den zwei Möglichkeiten gestellt, entweder eine schöne Zeit mit einem Freund erleben und nachher eine sehr traurige Zeit, wenn es vorbei war - oder gar nichts, von vorneherein abblocken. Solch ein Erlebnis gab es doch schon mal bei mir.

Wenn ich von Frau Schreck träumte, fehlten mir die Worte und Argumente, um ihr Paroli bieten zu können. Ich war ihr ohne Chance ausgeliefert, und das genoß sie, das spürte ich. Sie ging so weit, uns zu erklären, daß eine sexuelle Vereinigung bei uns nicht möglich sei. Sie schilderte mit obszönen Worten, die ich nicht kannte und mich ekelten, die Situation und lachte gehässig darüber. Seitdem habe ich dieses Bild im Kopf, das sie von Sexualität gemalt hat. Das hat mich so abgeschreckt, daß ich Abscheu und Hemmungen empfinde, wenn ich nur daran denke. Das geht nicht weg. Ich hatte das Gefühl von ihr gefesselt zu sein. Dazu kam noch ihre Darstellung, daß der Betreffende fremdgehen würde, wenn er bei uns nicht zum Zuge käme.

Als ich in der Werkstatt anfing, war ich noch ein halbes Kind, sehr leichtgläubig und vertrauensselig, und erzählte arglos, was mich bewegte. Wohl deshalb meinte Frau Schreck geringschätzig, ich könne glücklich sein, allen Leuten alles erzählen zu können. Aber gerade durch sie, durch ihre Härte und Gemeinheit machte ich mir zum Grundsatz, niemals mehr alles zu erzählen, weder Gutes noch Schlimmes. Das unbedenkliche Vertrauen, mich anderen Leuten, selbst den nahestehenden zu öffnen, war zerstört. Die Kommentare dieser Frau haben meine Unbeschwertheit belastet. Durch diese Erfahrungen ist das Schöne an Freundschaft und Zuneigung mit meinem damaligen Freund zerbrochen. Alle meine Versuche in Bezug auf Freundschaft und Liebe trotzdem etwas frohen Herzens zu erleben, wenn es sich bot, waren vergeblich. Ich werde das nicht los, auch wenn ich mir sage, es ist lange her.

Nach dem niederschmetternden Vortrag damals war der Tag noch lange nicht zu Ende. Ich wollte hinausrennen. Ich war geistig und körperlich ohnmächtig, aber Frau Schreck bot uns ein neues Schauspiel. Sie zeigte ihre neuen Kleider umher, sie spielte sich auf und setzte sich in Szene. Für mich handelte sie gemein und taktlos. Unsere Probleme waren für sie Bagatellen.

Einige Tage später hatte mich Frau Schreck wieder einmal so ungerecht angefahren, daß ich ihr wütend erklärte: "Es reicht mir, ich muß zu Herrn N. gehen." In Gedanken setzte ich hinzu, um mich da zu erholen. Frau Schreck fuhr mich wirklich hin. Dort aber wollte sie nicht gehen, angeblich wegen der Aufsichtspflicht. So energisch ich konnte, forderte ich sie auf, den Raum zu verlassen. Sie blieb. Ich mußte weinen. Dann bat Herr N. sie zu gehen. Schwer beleidigt verließ sie endlich hoheitsvoll das Büro. Ich weinte und war richtig am Ende meiner Kraft. Herr N. nahm mich in seine Arme und beruhigte mich.

Frau Schreck brachte oft eigene, persönliche Dinge zur Sprache. Ich glaubte, ihr mit meinen eigenen Erlebnissen antworten zu können, aber sie schlug alles in den Wind, verspottete es und zweifelte es an.

Sie sprach über ihren Freund und dessen Alkoholproblem, als ob es das normalste auf der Welt sei, mit uns darüber zu reden. "Hör auf davon," bat Elly mit einer harten Stimme, in der man auch das Weinen hörte. Frau Schreck kümmerte sich nicht darum, bis Elly anfing richtig zu weinen. Sie fuhr sie an: "Du mußt doch über den Dingen stehen." Schließlich kam Elly damit heraus, daß ihr eigener Vater ein Alkoholiker gewesen sei. Aber selbst das störte Frau Schreck nicht, weiterzureden. Als Ellys Weinen immer mehr zunahm, brüllte sie die Arme an, sie solle sich nicht so anstellen.

Als Elly nachmittags abgeholt, und ich mit Frau Schreck alleine war, bis mein Fahrer kam, sagte ich ihr meine Meinung, sie müsse doch Rücksicht auf Ellys Gefühle nehmen. Sie guckte weg und gab mir zu verstehen, daß ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern solle.

Oft warf sie mir vor, ich sei ein verwöhntes Mamakind und solle nicht so angeben, z.B. weil ich Elly erzählte, was ich alles mit der Jugendgruppe und anderen unternommen hatte. Ich fühlte mich Frau Schreck ausgeliefert. Wie sollte ich ihr beweisen, daß alles der Wahrheit entsprach?

Am Weltgebetstag sollte ich nach der Werkstatt sofort zur Kirche fahren. Meine Unterhose war tagsüber feucht geworden. Ich bat Frau Schreck, mir die Hose zu wechseln. Zeit war noch genug aber sie fand, es sei zu spät und ließ mich so fahren. Das war eine Sauerei, und mir war es so eklig. Ähnlich war es mit den Flecken auf meinem Pullover, die vom Essen stammen. Sie entstanden nur, weil ich mich so aufregte, denn ihre Standpauken liefen immer beim Essen ab.

Es widerte mich an, mit so einem dreckigen Gewand dazusitzen und nach Hause zu fahren. Ich wußte doch, daß es anders ging. Es stufte mich zum Kleinkind herunter.

Beim Essengeben ließ ihre Geduld mit der Zeit sowieso nach. Wenn es hektisch wird, schlägt mir der Kopf nach hinten. Statt ihn nun mit ihrer Hand nach vorne zu führen und vielleicht eine Weile zu stützen, fand sie es wohl recht praktisch, mich mit dem Kopf nach hinten, wie einen Trichter, einzufüllen. Die Löffel folgten so schnell aufeinander, daß ich kaum Zeit hatte zu schlucken, geschweige denn den Kopf selber nach vorne zu bringen. Ich habe alles ungekaut hinuntergeschluckt. Am Nachmittag schmerzte mein Magen und ich fühlte mich elend. Ich könnte die Frau heute noch in die Ecke knallen.

Die Sozialarbeiter in den Betrieben können bei Streitereien helfen. Unser Sozialarbeiter kam nur einen halben Tag in der Woche zu uns. Ich wollte mit ihm reden - allein. Prompt kam die Frage von hinten: "Hast du Geheimnisse vor mir?" Es kam zu einer Aussprache aber natürlich mit ihr, und alles, was ich vorbrachte, wurde sofort von ihr ins Gegenteil verkehrt. Es war sinnlos. Der Sozialarbeiter war auch nicht bereit, mit mir allein zu sprechen, mit der Begründung, daß er mich akustisch nicht verstehen würde.

Ich kam morgens immer laut lachend ins Büro, meistens hatten wir im Bus viel Spaß. Unser Fahrer war so lustig, aber dann kam die kalte Dusche. Die Reaktion von Frau Schreck lautete: "Wer am Morgen lacht, den frißt am Abend die Katz'. Lautes Lachen gehört sich nicht, du willst doch erwachsen werden." Das höre ich heute noch in mir, wenn ich lache, und das bringt mich ganz plötzlich dazu, aufzuhören.

Ich war an einem Nachmittag mit Frau Schreck allein im Büro. Sie redete hin und her, zunächst wollte sie mich überzeugen, die Feier der Werkstatt zu besuchen, aber dann muß sie es sich anders überlegt haben. Plötzlich sollte ich zu Hause bleiben. Aber nun war ich entschlossen, hinzugehen.

Am Tag der Feier holte sie mich vom Auto ab. Es strömten gerade viele Leute in die Werkstatt hinein. Wir quetschten uns durch, bis Frau Schreck angeredet wurde. Von weitem sah ich einen alten Bekannten. Ich hätte ihn gerne begrüßt, doch alleine konnte ich nicht hin, und sie reagierte nicht auf mich. Später sah ich ihn wieder, diesmal kam er auf mich zu. Frau Schreck merkte meine Freude und mein typisches Haggeln, machte kehrt und brachte mich zur Betreuungsgruppe, wo ich mich absolut nicht unterhalten konnte. Sie hielt aber selber in einer entfernten Ecke einen Klaff mit den dortigen Betreuern. Ich war voller Wut, denn ich war doch zur Feier gekommen, um alte Bekannte aus der Schulzeit und den Zwischenjahren zu treffen.

Nach endlos langer Zeit verließ sie mit mir den Raum. Wir begegneten Herrn H. in der Kantine. Über meinen Kopf hinweg ließ sie eine Anklagerede aus lauter Lügen über mich los. Weder Herr H. noch ich konnten zu Wort kommen. Mein Magen tat so weh. Sprach ich einfach dazwischen, wurde mir gedroht, nur ja den Mund zu halten. In mir war Chaos. Glaubte Herr H. ihr nun alles? Vor lauter Scham hätte ich weglaufen mögen. Ich hatte Angst, er würde jetzt anders über mich denken. Alles in mir zog sich zusammen und auseinander. Freude Herrn H. zu sehen, und Angst, seine Freundschaft und Anerkennung zu verlieren, wechselten.

Mit dem Bekannten, dem Frau Schreck anfangs zweimal ausgewichen war, kam es nun doch noch zu einer Begegnung und wieder zu ihrer Anklagerede, obwohl sie überhaupt nicht wußte, wer das war. Er sah nur mich an und versuchte mit mir zu reden. Später einmal erzählte er mir, er wüßte gar nicht, was die Frau Schreck von sich gegeben habe. Er hätte nur auf die Chance gewartet, mit mir persönlich zu reden.

Frau Schreck bot mir in der Cafeteria ein halbes Glas Wein an. Dann gingen wir zum Bierzelt, wo auf einer Bühne getanzt wurde. Wenn ich Tanzmusik höre, bewege ich mich im Stuhl mit, das heißt mit Armen und Beinen im Rhythmus, so gut ich kann. Aber sie hielt mich fest, so daß ich meinte, ich wäre gefangen. Sie wollte nicht zulassen, daß ich auf meine Art tanzte. Ich empfand es als Unterdrückung und Mißachtung meiner Person. Meine Behinderung stand wieder an erster Stelle. Oft werde ich gerade bei solchen Gelegenheiten, wie bei dem Fest, stark genug abgelenkt, um die Behinderung zu vergessen.

Durch diese und andere, ähnliche Situationen hat sie mir das Fest gründlich verdorben. Ich bekam mehrmals einen Krampf und war froh, als ich endlich im Bus saß, dem Weinen nahe. Sie hat mich deutlich in mein Behindertendasein zurückgestoßen. Es war wohl auch die Warnung, sie nur ja nicht mehr zu benutzen, ein solches Fest zu besuchen, obwohl das ihre Pflicht war. Hätte ich nicht gehen wollen, wäre der Tag für sie frei gewesen.

Ich war noch so unbefangen, daß ich nicht gleich merkte, wenn Frau Schreck mich anschwärzte. Sie konnte so etwas sehr gut in schöne Worte verpacken oder verschleiern. Erst hinterher, wenn ich darüber nachdachte, ging mir ein Licht auf, aber wie dann noch reagieren. Mein Sprachvermögen reichte einfach nicht aus, um ihr bei anderer Gelegenheit Kontra zu geben. Außerdem hätte sie alles abgestritten und mir die Worte im Munde verdreht. Ich habe mich oft entmutigt, klein und niedergetreten gefühlt. Ellys Beispiel, ihr nichts Persönliches zu erzählen, war die Lösung, aber ich war noch zu vertrauensselig.

Unser wundester Punkt war meine Schreibmaschine. Meine erste Maschine in der Werkstatt war ein Computer. Endlich konnte ich meinen Text auf dem Bildschirm sehen. Das war das erste Mal in meinem Leben, daß ich einen von mir geschriebenen Text vor mir hatte. In der Zeit machte ich gute Fortschritte in meiner sehr fehlerhaften Rechtschreibung. Der Computer ging sehr bald kaputt. Es dauerte und dauerte, nichts tat sich in Bezug auf Reparatur oder neuer Maschine. Schließlich brachte ich meine alte Schreibmaschine von zu Hause mit. Bei dieser konnte ich nicht sehen, was ich schrieb. Ich saß zu tief und zu weit entfernt in meinem damaligen großen Rollstuhl, um die eben geschriebene Zeile in der Kugelkopfmaschine sehen zu können. Ich bediene diese Maschine, aber auch den Computer mit einem zweiseitigen Kinnschalter und benötige drei Wege um einen Buchstaben schreiben zu können.

Meine Fortschritte verwandelten sich in Rückschritte, in den Augen der Frau Schreck sah das nach Faulheit aus. Kein Ehrgeiz und keine Konzentration mehr. Ihr Geschimpfe und Gezeter machten mich so fertig, daß ich mein Vertrauen in meine Fähigkeiten verlor und mich zu meiner Bestätigung abends zu Hause an meine Maschine setzte und etwas schrieb, um schwarz auf weiß zu sehen, daß ich es konnte.

Inzwischen sollte endlich ein neuer Computer kommen, und Frau Schreck stellte mir das Ultimatum, ich dürfe die neue Maschine nur benutzen, wenn ich bis dahin handschriftliche Texte fehlerfrei abschreiben könne. Ich hatte nie geübt, handschriftliche Texte zu lesen, immer nur maschinengeschriebene - und das nun auf meiner alten Maschine. Vor lauter Angst konnte ich gar nichts mehr.

Abends im Bus kam meine ganze Angst und Wut heraus, und ich mußte weinen. Die Businsassen haben teilweise bei mir zu Hause angerufen, was denn los wäre, ob man mir helfen könne. Mir war das sehr unangenehm. Ich hätte mir lieber nichts anmerken lassen, damit kein Gerede entstünde.

In der Zeit, als mein Computer kaputt war und meine alte Schreibmaschine noch nicht in der Werkstatt stand, führte Frau Schreck eine Neuerung ein. Sie ließ das Radio laufen, angeblich weil H., der kurzfristig in unserem Raum war, sich dann besser konzentrieren könne. Mir war die Musik unerträglich, die Frau Schreck einstellte, aber gegen ihr Argument: "du machst ja keine Produktion," konnte ich nichts einwenden. Sie schlug vor, jeder solle seine Lieblingsmusik mitbringen, damit man allen gerecht würde. Ich brachte ausgerechnet die Harmonists mit, damit trat ich kräftig ins Fettnäpfchen. Frau Schreck lachte mich nur aus und meinte, das könne man sich wirklich nicht anhören.

Als meine eigene, alte Maschine schließlich im Büro stand, stellte sie immer wieder das verdammte Radio an, auch wenn ich einen schwierigen Text schrieb und sie bat, es abzustellen. Ich betonte immer wieder, ich müßte meine Ruhe haben zum Schreiben und könne dabei keine Musik hören. Ihre lapidare Antwort war: "Du mußt auch immer das letzte Wort haben." Sie dachte nicht daran nachzugeben, denn in Wirklichkeit war ihr langweilig, ohne das Radio.

Schlimm empfand ich, daß Frau Schreck Elly und mich gegenseitig ausspielte. Sie erzählte mir heimlich, Elly könne mehr tun, als sie wolle, sie sei außerdem kontaktarm. Mir wurde im Laufe der Zeit klar, warum. Sogar meiner Mutter sagte sie das. Elly bekam zu hören, ich sei schlechter geworden, absichtlich so, daß ich es hörte. Das ganze war nervend, doch Elly und ich hatten uns inzwischen sehr befreundet. In unserer Meinung über Frau Schreck waren wir uns einig. Es war ein wohltuendes Vergnügen, wenn Elly hinter ihrem Rücken ihr den Vogel zeigte. Dabei grinste sie mich an.

Frau Schrecks Erziehungsversuche bei der Episode mit den Trinkhalmen liefen total verkehrt. Ich sollte ein neues Paket mitbringen. Das wurde laufend vergessen, hauptsächlich weil meine Mutter vergaß, es zu kaufen. Verständlicherweise ging sie dafür nicht extra zur Stadt. Eines Tages war es endlich da, doch sie ließ es zu Hause auf meinem Tisch liegen, anstatt es in meine Tasche zu tun. Genau diesen Tag hatte Frau Schreck sich für eine Lektion ausersehen, falls die Halme wieder nicht da waren, und sie waren nicht da!

Als ich ins Zimmer kam, hörte ich einzelne Worte mit. Sie äußerte Elly gegenüber: "Heute mache ich Krach. Wenn Sigrid wieder keine Halme dabei hat, kann sie was erleben." Worauf Elly meinte: "Ich habe welche da, die hatten wir noch zu Hause." Frau Schreck verbot ihr, die Halme herauszuholen. Ich kam wieder ohne, und ihre Brüllerei ging los. Als sie mal Luft holen mußte, schaltete sich Elly ein: "Ich habe Halme dabei Sigrid, du kannst sie mir ja bezahlen, bei Barzahlung kriegst du 2% Skonto." - Nun ging die Wüterei erst recht los, gegen uns beide. Schließlich verließ Frau Schreck den Raum mit der Bemerkung zu Elly: "Nun ist meine Autorität völlig zerstört." Bei mir löste ein Weinkrampf den anderen ab. Besonders schlimm fand ich, daß nun auch Elly darunter leiden mußte. Selbst abends zu Hause habe ich noch eine Stunde gebraucht, bis das Weinen aufhörte.

Übrigens: die ganze Zeit, Tag für Tag, waren Trinkhalme in einer kleinen Mappe im Rollstuhlnetz, gedacht für den Fall, die Halme wären alle, oder ich ginge von der Werkstatt aus irgendwohin zu Besuch. Das war Frau Schreck bekannt.

Ich war so fertig, daß ich trotz aller Bedenken mit meiner Jugendgruppe in den Oktoberferien nach Holland fuhr, zum Abschalten. Kurz zuvor hatte Frau Schreck einen von mir geschriebenen Text so mit roten Strichen verunziert, daß von den schwarzen Buchstaben kaum noch etwas zu sehen war.

Als ich aus Holland zurückkam, war meine Angst, wieder zur Werkstatt zu gehen, noch größer geworden. Ich bestand nur aus Widerwillen. Brunhilde und meine Mutter impften mir abends zuvor Mut ein, hinzugehen, um einen neuen Versuch zu wagen, mit Frau Schreck klar zu kommen. Der endete im Horror.

Morgens kam ich ins Büro und sah zu meinem Entsetzen, daß Elly einen Tag Urlaub hatte. - Allein der Frau ausgeliefert! Ihre Frage: "Wie war denn der Urlaub?" hatte einen hämischen Unterton und gleich ging sie über zu Schilderungen der eigenen Erlebnisse. Als Arbeit bekam ich den rotgestrichenen Zettel zur Verbesserung. Um eine Vorstellung zu vermitteln, was ohne Hilfe zu tun war mit meiner alten Maschine, um nur einen einzigen Buchstaben zu verbessern, mache ich eine kleine Rechnung:

Nach vier Buchstaben wurde erst der falsch gedruckte Buchstabe sichtbar.

Drei Buchstaben zurück, pro Buchstabe drei Schaltungen sind gleich neun Schaltungen; eine Tippexschaltung mit automatischem Rücksprung sind gleich drei Schaltungen;

einen falschen Buchstaben drucken zum Löschen sind gleich drei Schaltungen; einmal zurückschalten sind drei Schaltungen; einen richtigen Buchstaben drucken sind gleich drei Schaltungen; drei Buchstaben vorgehen, um weiter zu schreiben sind gleich neun Schaltungen, Summe ist gleich 30 Schaltungen.

Also 30 Schaltungen um einen Buchstaben zu korrigieren!

Ich berichtete schon, daß die zu schreibende Zeile für mich nicht sichtbar war. Ich mußte mitzählen, alle Positionen vor und zurück im Kopf haben, wollte ich erfolgreich verbessern. Alle Störungen wie Ansprechen, Türe schlagen, Radio usw. brachten mich hoffnungslos heraus. Jede Hilfeleistung hierbei lehnte Frau Schreck ab mit der Begründung, ich müßte selbständig schreiben.

Ich versuchte, die Verbesserung zu beginnen mit dem Wissen: "Es ist alles für die Katz'." Man muß sich vorstellen, ich hätte wie eine perfekte Sekretärin blind schreiben und dabei verbessern müssen. Um blind zu schreiben, reichte meine Konzentrationsfähigkeit nicht aus und meine Rechtschreibkenntnisse waren zu gering, um auf dem rotverstrichenen Papier etwas zu erkennen. Ich sah rot, denn sie wollte mir mal wieder meine Unfähigkeit beweisen. Ich bekam einen Krampf, Frau Schreck meinte sagen zu müssen, ich mache nur Show. Sie öffnete ein Fenster und redete von ihren eigenen Problemen.

Der Morgen verging, ich saß immer wütender und ohnmächtiger vor meiner ersten Zeile und sah kein Ende. Frau Schreck las die Zeitung, und ich saß in ihrem Blickfeld. Bei mir löste ein Krampf den anderen ab. Ihre Bemerkung: "Du kannst mir ruhig sagen, was du hast," klang so falsch und aufreizend und machte alles noch schlimmer. Logischerweise bekomme ich bei einem Krampf kein Wort hervor. Eine kleine Verschnaufpause hatte ich, als Frau Schreck selbst zur Toilette ging. Als sie zurückkam, sah ich, wie sie ihre Handtasche packte. Sie fuhr mich an: "Jetzt habe ich genug von deiner Show," machte die Zimmertüre zum Flur auf, fuhr mich dorthin und ließ mich im Türrahmen stehen. Mit erhobenem Zeigefinger ging es weiter in ihrer impertinenten Nadelstichtechnik: "Nun kannst du die anderen ärgern und für dumm verkaufen." Frau Schreck verschwand. Mein Körper verzog sich in solch einem schlimmen Krampf, daß meine Mutter später zu Hause zwei tiefe Einschnitte in der Zunge feststellte. Ich weiß noch wie meine Augen versagten. Ich konnte sie nicht mehr bewegen. Ich hörte Leute sprechen, aber ich war unfähig zu reagieren, obwohl ich alles verstand . Jemand tröstete mich und langsam wurde ich ruhiger. Frau Schreck kam nochmal zurück, um etwas zu holen. Sie sah den Arbeitskollegen neben mir, und schnauzte ihn an: "Was tust du hier, das ist nicht deine Aufgabe, geh lieber in dein Zimmer zurück." Sie holte ihr Teil, verschwand wieder, diesmal endgültig. Wer mich zum Bus brachte, weiß ich nicht mehr. Das war ihre letzte Vorstellung.

Nach diesem Vorfall ließen meine Eltern mich nicht mehr zur Werkstatt gehen. Wir stellten die Forderung, mich von jemand anderem betreuen zu lassen. Da niemand dafür da war, wurde eine Beurlaubung ausgesprochen bis zu einem Gespräch mit allen Beteiligten.

Die Verhandlung war für mich ein einziger Horror. Meine Gedanken bewegten sich wie im Kreis. "Nur weg von dieser Frau." Sie saß mir genau gegenüber mit schadenfroher Miene. Es wurde fast keine schmutzige Wäsche gewaschen. Mich wurmte es, daß sie ohne Anklage davon kam und man mir nicht gerecht wurde. Man akzeptierte, daß wir nicht mehr miteinander auskamen, stellte berufliche Trennung, aber wahrscheinlich eine weitere körperliche Betreuung von ihr in Aussicht. Bis zur Regelung all dieser Dinge gab es eine weitere Beurlaubung. Zum Schluß des Gespräches fragte mich der Leiter persönlich, ob alles stimme, was gesagt worden sei, ich bejahte und fügte in Gedanken hinzu: "Nur war alles viel schlimmer." In mir kochte es. Schon wieder sollte ich nachgeben, wenn Frau Schreck mir immer noch das Essen geben würde. Ich war erleichtert, weiter in der Werkstatt bleiben zu können. Wir hatten fast mit einer Kündigung gerechnet, entweder von Seiten der Werkstatt, weil man mir vielleicht nicht geglaubt hätte, oder unsererseits, wenn keine Trennung von Frau Schreck möglich gewesen wäre.

Nach einem dreiviertel Jahr begann ich in einer anderen Abteilung. Etwa ein Jahr lang mußte ich Frau Schreck noch beim Essen und Toilettengang ertragen. Wir mußten auch mein ehemaliges Büro passieren, und jedesmal wurde ich an die alten Situationen erinnert.

Wenn meine Kollegen mich nicht so freundlich aufgenommen und mir Anschluß angeboten hätten, wäre ich ein Nervenbündel geworden. Auf dem Wege dahin war ich ja schon. Ich setzte alles daran, meine neue Maschine kennen zu lernen, um selbständig arbeiten zu können. Mein Bestreben war, so wenig Hilfe wie möglich zu beanspruchen. Aber meine neuen Leiter geizten gar nicht mit Hilfe und Anerkennung. Gegenseitiges Vertrauen stellte sich sofort ein, und nach kurzer Zeit erklärte man mir, ich sei gar nicht so schwierig wie angenommen.

All diese Dinge, die ich seit Jahren im Kopf habe, und die nun hier stehen, waren Gegenwart im Traum. Sie peinigten mich und versetzten mich in Angst und Schrecken. Ablenken, an etwas anderes denken, half nicht mehr. - Dann kam etwas ganz Verrücktes, ein abschreckender Krimi im Fernsehen gab mir den Anstoß, die ungeheuerlichen Erlebnisse aufzuschreiben, um mich davon zu lösen.

Im Krimi wurde ein Mann von einem Schrei verfolgt. Er nahm die ganze Problematik, die damit zusammenhing, mit in seinen Tod, er hatte sich nicht davon befreien können. Das hat mich so abgeschreckt, das sollte mir nicht passieren, war mein spontaner Gedanke. Nachdem mehrere Versuche, es wie sonst allein mit der Maschine aufzuschreiben, gescheitert waren, - ich war viel zu aufgeregt, - ging der Weg nur über meine Mutter. Ich erzählte ihr alles unter Tränen. Sie schrieb mit, und wir hatten die Möglichkeit, ausführlich darüber zu reden. Manches hatte sie vorher gar nicht gewußt. Dann schrieb ich es allein in die Maschine und nannte jedesmal Frau Schreck voller Wut, das gemeine Scheusal. Ich hoffte, so meinen Kopf buchstäblich von diesen grausamen Erlebnissen zu befreien.

Jemand gab mir den Rat, darüber nachzudenken, was ich aus diesen Erfahrungen gewinnen könnte. Zu meiner großen Enttäuschung funktionierte das nicht. Ich fühlte mich allein gegen die Mafia in meinem Kopf. Mein Selbstwertgefühl war weg, weil das Können, das ich mir erworben hatte, so von ihr infrage gestellt wurde. Die Sicherheit, mich wirklich auf Freunde unter Nichtbehinderten verlassen zu können, zerstörte Frau Schreck mit ihrem Ausspruch: "Ihr macht auf Musterkrüppelchen, um bei euren Freunden etwas zu erreichen. Wirkliche Freunde unter Nichtbehinderten gibt es für euch nicht." Als Folge hatte ich immer Angst, den anderen zu verletzen, wenn ich etwas wollte und traute mich nicht mehr, unbefangen um etwas zu fragen. Das bricht immer wieder durch bis heute, selbst bei meinen Geschwistern bin ich gehemmt.

Gelernt habe ich daraus, nicht allen und jedem alles zu erzählen. Ich bin viel mißtrauischer geworden. Teilweise stört mich das selbst, und behindert mich oft genug. Wenn in der Werkstatt zufällig jemand etwas sagt, was Frau Schreck auch früher aussprach, bin ich geschockt und gelähmt und habe das Gefühl, als ob mir einer den Hals zuhält. Um mich von den absurden Gedanken überhaupt lösen zu können, entstand früher oft der Wunsch, hinaus und spazieren gehen zu wollen. Das gestattete man mir sehr oft und half mir sehr damit.

Als Gewinn könnte man bezeichnen, daß ich kritischer als früher bin und Leute besser einschätzen kann. Den Wert guter Menschen zu sehen, lehrte mich ein kleines Gespräch mit Frau M. in der Kantine. Es war für mich so umwerfend, wie es der Leser gar nicht erkennen kann. Sie wollte wissen, ob ich meinen Zivildienstleistenden sehr gerne möge. Ich schaute verlegen nach hinten, meine Gedanken gingen zurück, ich hoffte, sie würde das heiße Thema fallen lassen, aber da war kein Entrinnen. Ich mußte in den sauren Apfel beißen und antwortete: "Er ist ein guter Freund." Da ging mir auf, daß es eine ganz normale Sache für sie war, ohne Hohn und Spott, eine ganz andere Welt öffnete sich wieder.

Ein anderes Mal saß ich allein am hintersten Tisch in der Kantine und Frau M. mir diagonal weit entfernt im Raum gegenüber. Zwei Fahrer traten ein, um mich abzuholen. Sie setzten sich zu mir an den Tisch. Frau M. rief mir zu: "Ja, ja Sigi, du hast viele Freunde hier!" Auch diese Bemerkung empfand ich sofort als völlig arglos. Der gute Glauben an die Menschen wurde für mich wieder möglich.

"Ob man mir glauben kann?" geht mir manchmal durch den Kopf. Während das alles passierte, habe ich mir oft einen Zeugen gewünscht, eine kleine Maus in der Zimmerecke oder einen Rekorder zum Aufnehmen. Meine Kollegin war selber auf die Gunst von Frau Schreck angewiesen und konnte mir deshalb wenig beistehen.

Frau Schreck war eine gute Schauspielerin, nach außen höflich, freundlich und überzeugend. Nur wenn man ganz genau hinhörte, konnte man ihre Ironie, ihre Nadelstiche auch im ganz normalen Gespräch mit anderen empfinden. Sie konnte, wenn es erforderlich war, eine Sache um 180 Grad wenden. Oft erzählte ich etwas, was Frau Schreck gesagt hatte, zuhause, und es klang gar nicht so schlimm. Da kam ich erst dahinter, daß bei ihr "der Ton die Musik machte."

Ihr süßfreundlicher Ton konnte mich zum Kochen bringen.

Ein Spaziergang hat mir immer geholfen, von den Angstgedanken loszukommen. Eigentlich war das ein Weglaufen. Aber wer hätte in solchen Momenten mit mir gesprochen und es geglaubt? Viele haben mir gesagt: "Ich kann die Leier nicht mehr hören, du mußt es doch einmal vergessen!" Niemand konnte sich in mich hineinversetzen. Meine Mutter hat mir oft zugehört. Sie gab mir den Rat, man kann so etwas nicht vergessen, höchstens verzeihen. Wenn es dich überfällt , versuche dich abzulenken. Aber das war keine Lösung. Meine Gedanken drehten sich immer im Kreis, und daher kamen oft genug meine Krämpfe. Jahrelang habe ich das wie einen Klotz in mir herumgetragen, ohne zu sagen, was richtig los war. Mir hat jemand erklärt, was ich durch Frau Schreck erfahren habe, sind seelische Verletzungen, die nicht auszulöschen sind.

Die Autorin

Sigrid Mols

Ich bin am 31. Juli 1960 in Aachen geboren und lebte meine ersten sechs Lebensjahre mit meinen Eltern und zwei Schwestern in Südamerika.

Durch eine unglückliche Geburt bin ich Spastikerin und lebe im Rollstuhl. Ich kann weder Beine noch Hände für irgend etwas benutzen. Meine Sprache kann heute jeder verstehen, der sich Zeit und Ruhe dafür nimmt, und meine Freunde sagen, ich sei ein lustiger Mensch.

Ich habe eine Schule für Körperbehinderte besucht. Ich kann einen Computer mit einem Kinnschalter bedienen und bin in einer Behindertenwerkstatt tätig. Da es heute keine entsprechende Arbeit mehr für mich gibt, darf ich eigene Geschichten schreiben. Ich will den Leser in eine ganz andere, in meine Welt hineinschauen lassen, damit er spürt wie "so ein Leben" schön und weniger schön sein kann.

Flehbachmühlenweg 10

D-51427 Bergisch Gladbach

Tel. : 02204 24121

Quelle:

Sigrid Mols: Frau Schreck

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.03.2006

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