Der stimmige Moment - Zur Dynamik von Entwicklungsprozessen

Autor:in - Hans von Lüpke
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/98. Thema: Begegnungs-Raum und Eigen-Zeit Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/1998)
Copyright: © Hans von Lüpke 1998

Nach unten, nach oben - langsam oder schnell?

Entwicklung wird hier nicht als geradlinig in vorgegebenem Tempo von "unten" nach "oben" verlaufender Prozeß verstanden, sondern als eine rhythmische Struktur mit Zuspitzungen, Pausen, Beschleunigungen. Beziehungsfaktoren haben dabei größte Bedeutung.

Es ist nicht unsere Unkenntnis als solche, die Schaden anrichtet, sondern eher so viel zu ‚wissen', was nicht wahr ist": Diese Bemerkung von Rutter (1971) trifft das Dilemma bei der Beurteilung von Entwicklungsprozessen und der daraus folgenden Handlungsstrategien. Stillschweigend vorausgesetzte Annahmen führen zu weitreichenden Konsequenzen. Die Diagnose "Entwicklungsverzögerung" genügt, um den Eingriff einer Therapie zu rechtfertigen. Je schneller, desto besser? Dieser Aspekt wurde bereits früher diskutiert (von Lüpke, 1996). Könnte "Verzögerung" auch den umgangssprachlichen Sinn haben: wir zögern, weil uns in einer verwirrenden Situation die Orientierung fehlt; wir denken nach, um zur Klarheit und damit zu einer der Situation angemessenen Handlungsfähigkeit zu kommen. Niemand würde bezweifeln, daß im unübersichtlichen Straßenverkehr ein solches Zögern angemessener ist als blindlings loszurennen.

Verzögerung scheint es bereits beim gesunden Neugeborenen zu geben: unmittelbar nach der Geburt ist das Kind grundsätzlich schon in der Lage, den Kopf aufrecht zu halten und gezielt zu greifen (Grenier, in Martino, 1985). Unter normalen Umständen scheint es jedoch mit der Orientierung in der veränderten Umwelt so beschäftigt zu sein, daß diese motorischen Fähigkeiten nicht zum Einsatz kommen. Die im Vergleich zu höheren Säugetieren auffallend lange Abhängigkeit des menschlichen Säuglings wird seit Portmann immer wieder unter dem Aspekt von "Frühgeburtlichkeit" diskutiert. Janus (1997) sieht die Bedeutung dieser Phase in der Tatsache, daß hierdurch die Voraussetzungen für spezifisch menschliche Lernprozesse geschaffen werden.

An anderer Stelle wurde ausgeführt, daß Phasen ohne sichtbare funktionelle Fortschritte besondere Bedeutung für das Erproben von "Eigenem" und damit für die Entwicklung von Identität beigemessen werden kann (von Lüpke, 1997a). Der Bedarf für eine längere Orientierungsphase dürfte bei frühgeborenen Kindern nach Intensivbehandlung von noch größerer Bedeutung sein, haben sie doch zusätzlich ein hohes Maß an verwirrenden Erfahrungen zu verarbeiten.

Ohne Diskussion als bekannt vorausgesetzt wird meist auch die Richtung von Entwicklung. Nach "oben" soll es gehen, nicht nach "unten"; nach "vorn", nicht "zurück". Wenn damit eine fortschreitende Differenzierung von "primitiven" Strukturen zu immer mehr Vollkommenheit gemeint ist, dann wäre zu fragen, wie die Kriterien für ein solches Ziel aussehen und wer sie festlegt. Auch wäre zu klären, wie die Wechselseitigkeit zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschafts- und Neugeborenenphase zu bewerten ist. Eine subtile Feinabstimmungen wie die Synchronizität zwischen Traumphasen der Mutter und Bewegungen des Feten (Sterman & Hoppenbrouwers, 1971) oder zwischen Traumphasen von Mutter und Säugling (Mancia, 1980) kommt im späteren Leben kaum noch vor.

Eine Ahnung davon scheint im allgemeinen Bewußtsein lebendig zu sein, wenn die frühe Kindheit und vor allem die Zeit im Mutterleib mit Vorstellungen von einem unbeschwert glücklichen, "paradiesischen" Zustand einhergeht. In der Kulturgeschichte kennen wir Perioden, die sich durch ihren Bezug auf frühe, als "unverbildet", "natürlich", "vital" vorgestellte Epochen auszeichnen: Renaissance, Romantik oder die frühe Moderne mit ihrem Rückgriff auf die Kultur der "Primitiven". Die verbreitete Sehnsucht nach den "heilen" Ursprüngen in einer goldenen Vergangenheit läßt die Frage aufkommen, was Entwicklung überhaupt vorantreibt. Ist es nur die Verführung durch unsere technisierte Gesellschaft, die Kinder so versessen darauf macht, möglichst schnell "groß" zu werden? Warum bleiben wir nicht - zumindest geistig und emotional - auf der Stufe von Säuglingen (wenn wir es schon nicht verhindern können, geboren zu werden)? Etwas scheint nicht zu stimmen in diesem Paradies. Vielleicht ist das Paradies ein Konstrukt unserer Sehnsucht. Die Glücksmomente sind auch hier vergänglich und werden erkauft durch das Ausgeliefertsein an einen Zustand weitgehender Abhängigkeit. Störungen können kaum (zumindest nicht gezielt) korrigiert werden, lösen Panik und Todesangst aus. Die Überwindung dieser Abhängigkeit durch eigene immer weiter verbessere Fertigkeiten scheint eine der Triebfedern für Entwicklung und damit für die Ausbildung von Technik zu sein. Man könnte Technik verstehen als den Versuch, einen uralten Menschheitstraum zu verwirklichen: Erfahrungen aus frühen Lebensphasen verfügbar, kontrollierbar und reproduzierbar zu machen. Technik ist in seinen Ursprüngen nicht "kalt" und "seelenlos". Schon in der griechischen Mythologie kommt ihr bei dem Versuch, frühe (vermutlich pränatale) Erfahrungen zu reproduzieren, ein hoher Stellenwert zu. So bei Dädalus, der in seinem Bemühen, intrauterines Schweben technisch verfügbar zu machen, ebenso scheitert wie sein Nachfolger, der Schneider von Ulm. Heute scheint das Problem technisch gelöst zu sein - nur: wo ist das Glücksgefühl beim freien Schweben im Flugzeug?

Entwicklung als "Zoom"-Bewegung

Offensichtlich führt die fortschreitende Kontrolle zum Verlust gerade der Qualitäten, die es zu gewinnen gilt. Eine Polarisierung zwischen zwei Zuständen zeichnet sich ab: einem als "paradiesisch" vorgestellten mit größter Intensität des Erlebens bei Synchronizität der Interaktion, gleichzeitig jedoch Abhängigkeit und Ausgeliefertsein. Dem gegenüber steht die zunehmende Präzision der Handlungs- und Kontrollfähigkeit mit der Gefahr des Verlustes von Kreativität und Erleben. Dieser Aspekt des Verlustes durch Fortschritt ist nicht auf die technische Entwicklung beschränkt. Er findet sich auch in der Entwicklungspsychologie: etwa bei Anna Freud (1968, S. 67), wenn sie den Rückgang von Phantasiefreiheit als Preis für die Ich-Entwicklung beschreibt oder bei Stern (1992, S. 231-232), der die Sprachentwicklung als ein "zweischneidiges Schwert" bezeichnet. "Sie (d.h. die Sprachentwicklung, v. L.) treibt einen Keil zwischen zwei simultane Formen des interpersonalen Erlebens: die Form, wie Interpersonalität gelebt, und die Form, wie sie verbal dargestellt wird. ... Und in dem Maße, in dem das Geschehen im verbalen Bereich als wirkliches Geschehen betrachtet wird, unterliegt das Erleben in den anderen Bereichen einer Entfremdung. (Sie können zu ‚niederen' Erlebensbereichen herabsinken). Die Sprache bewirkt also eine Spaltung im Selbsterleben."

Diese Polarisierung erinnert an die Beziehung zwischen "Signal" und "Rauschen" in der Akustik, ein Modell, das Spitzer (1996) in der Neurophysiologie für die Darstellung unterschiedlicher Funktionen von weitgespannten und engen Neuronen-Netzen verwendet (Abb. 1). Die zunehmende Fokussierung im semantischen Netz - bedingt duch den Neuromodulator Dopamin - bedeutet wachsende Klarheit und Eindeutigkeit. Geringere Fokussierung führt zu Lockerung der Assoziationen und zunehmende Unschärfe. Spitzer betont, daß je nach der Lebenssituation beides einen Sinn hat: bei drohender Gefahr sind "eingeschliffene Verhaltensweisen" hilfreicher als "kreatives Herumprobieren"; zum neu Lernen und Umdenken dagegen sind kreative Problemlösungen durch "Aktivierung ungewöhnlicher assoziativer Verbindungen" unverzichtbar (Spitzer, 1996,

S. 297).

Abb:1 Fokusverschiebung (nach Spitzer, 1996)

Analog zu diesem neurophysiologischen Modell könnte Entwicklung verstanden werden als eine Folge immer neuer Varianten im Gleichgewicht zwischen "Technik", Klarheit, Kontrolle und freiem Assoziieren, Erproben, Erleben. Die Fokusverschiebung zwischen diesen Polen wäre eine Art "Zoom"-Bewegung.

Dynamik der Wechselseitigkeit

Damit stellt sich die Frage nach der Dynamik dieser Bewegungen. Welche Kräfte bestimmen den "Zoom"? Die Chaos-Theorie hat gezeigt, daß Systeme, die unter bestimmten Voraussetzungen ein Gleichgewicht gefunden haben, durch kontinuierliche Verschiebung eines Parameters diskontinuierliche nicht vorhersehbare Veränderungen erfahren: nach zunehmender Polarisierung kommt es schließlich zur Auflösung aller Strukturen, zum "Chaos" (Briggs & Peat, 1990). Mitten aus dem "Chaos" heraus bilden sich erneut geordnete Strukturen, die den anfänglichen entsprechen (Abb.2). Es entwickelt sich eine Spannung, die zu qualitativer Veränderung führt und an Bilder wie "reif werden" und "platzen" denken läßt. Auf Entwicklungsprozesse beim Menschen angewendet, erscheint als veränderliches Parameter zunächst die zeitliche Dimension. Es gibt keine lebende Struktur ohne Veränderung in der Zeit: Altern, Abbau, Tod auf der einen Seite, Regeneration und Neubeginn auf der anderen Seite wären hier die Pole, auf der individuellen wie auf der transgenerationalen Ebene. In der Entwicklungspsychologie ist die Vorstellung von Zuspitzungen und Krisen als Voraussetzung für den Sprung auf eine neue ("höhere") Ebene seit Spitz und Erikson geläufig.

Dieses an biologischen Prozessen orientierte Modell unterschlägt die spezifisch menschlichen Aspekte von Entwicklung. Die geschilderten Fokusbewegungen geschehen nicht "irgendwie", sondern im Rahmen einer Auseinandersetzung in der Dialektik von "eigen" und "fremd". Diese Auseinandersetzung beginnt schon im Mutterleib mit der Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung des eigenen Körpers und der von Nabelschnur, Plazenta, Uteruswand. Eigene aktiv herbeigeführte Bewegungen können unterschieden werden von passiv erlebten Geräuschen, Tönen, Stimmen (von Lüpke, 1997b). Erst durch die Wahrnehmung des Fremden wird das Eigene definiert, erst durch Ruhe die Bewegung. Das Fremde ist aber nicht nur eine materielle Umwelt, sondern gleichzeitig die Person der Mutter, einbezogen in jene anfangs erwähnte Kommunikation. Das Kind kommt mit einer reichen Kommunikationserfahrung zur Welt. Diese Erfahrung ist eingefärbt durch die kontinuierliche Beziehung zur Mutter.

Abb:2 Ordnung - Chaos - Ordnung.....(nach Briggs u. Peat, 1996)

Damit kommt dem Aspekt der Beziehung ein zentraler Stellenwert zu. Milani Comparetti (1997, 1998) sieht in der Entwicklung von Beziehungsfähigkeit das vorrangige Ziel. Gidoni (1997) hat sein Dialog-Modell eines spiralenförmigen Wechselspiels von Vorschlag und Gegenvorschlag in der Weise modifiziert, daß - solange der Dialog erhalten bleibt - jede beliebige Entwicklungsrichtung eingeschlagen werden kann, auch die nach "rückwärts" ("Erratische Spirale" Abb.3). Es fällt auf, daß bei dem Versuch, die Dynamik im Beziehungsaustausch zu beschreiben, immer wieder Begriffe aus dem Umfeld der Musik erscheinen: Zusammenspiel, Orchester, Melodie, Rhythmus, Tanz etc.. Parncutt (1993, S. 256) hat festgestellt, daß "bisher noch keine menschliche Gesellschaft entdeckt wurde, bei der Musik nicht eine gewisse Rolle spielt". Vielleicht ist Musik das Medium, in dem Beziehungserfahrungen sich in ihrer allgemeinsten Form darstellen: lebendig und unmittelbar zugänglich. Über den Aspekt des Rhythmus wurde an anderer Stelle bereits gesprochen (von Lüpke, 1996). In der Regel verbinden sich rhythmische Elemente mit linearen, ebenfalls zeitlich definierten ("Melodie") sowie Simultaneität (Akkord) und "Farbe" ("Klangfarben"). Hinzu kommen dynamische Elemente wie Verzögerung ("Ritardando"), Beschleunigung ("Presto"), An- und Abschwellen der Lautstärke ("Crescendo, Decrescendo"). Stern benutzt solche Kriterien für die Beschreibung der Dynamik von emotionalen Prozessen unter dem Begriff "Vitalitätsaffekte".

Abb.3: Die "Errastische Spirale" nach Gidoni (in: Milani Comparetti, 1997)

Stimmigkeit

Die beschriebenen Elemente ergeben aber noch keine Musik. Ob eine Struktur zum Rhythmus, zur Melodie oder zum Akkord wird, entscheidet erst der Zuhörer im weitesten Sinn (also auch der Ausführende, der Tänzer etc.). In welchem Ausmaß er die Musik erst "macht", wird besonders bei gleichförmig sich wiederholenden Strukturen deutlich: anhaltend monotoner Rhythmus kann zu Trance führen - domästiziert in Ravels "Bolero". Die aus Beziehungserfahrungen gebildete Erwartung trifft sich mit dem Wahrgenommenen. Die Spannung aus Übereinstimmung und Diskrepanz ähnelt der im Kinderspiel: der Partner muß die Regel einhalten, aber auch Überraschungen bieten. In der Musik gilt dies auf allen Ebenen: für die Komposition, die in einem erweiterten Sinn immer als "Thema mit Variationen" angelegt ist, wie für die Ausführung. Vielleicht macht dies die Qualität von Interpretationen aus, die sich geradezu körperlich auf den Zuhörer auswirkt: das Gefühl der Spannung von einem Ton zum nächsten (kein bloßes Nacheinander), das ständig "Neue", das in einer dialektischen Weise gleichzeitig überrascht und die Erwartung bestätigt. Auf der Beziehungsebene ausgedrückt wäre dies die Erfahrung des Zusammentreffens von eigenem und fremdem. Das dabei entstehende Gefühl ist (wieder musikalisch ausgedrückt) das der "Stimmigkeit", der "Resonanz". Man könnte auch von "Passung" sprechen. Stern (1997) nennt es in Psychotherapien den "Now Moment", in der Interaktionsbeobachtung "fit" oder "match", Selbst- und Fremdsynchronizität. Das griechische "Kairos" trifft das Phänomen genau.

Wieder bietet die Chaos-Theorie ein Modell: Die Metapher vom Schmetterling in Brasilien, der einen Taifun in Arizona auslöst. Es ist die Macht der peripheren, seltenen, weit hinter dem Komma erscheinenden Einflußfaktoren, die unter wiederum nicht vorhersehbaren Bedingungen zusammentreffen und über Rückkopplung zur "Resonanz", zur Verstärkung mit dramatischen Wirkungen führen können.

Das Ausmaß der Stimmigkeit könnte die organisierende Kraft hinter Entwicklungsprozessen sein, den "Zoom" zwischen "Erleben" und "Technik" sowie zwischen "eigen" und "fremd" regulieren. In jedem Augenblick treffen internalisierte Vorerfahrungen mit Beziehungen und Entwicklungsbewegungen aus dem "Episodengedächtnis" (Stern, 1992) zusammen mit einer aktuellen biologischen, psychischen und sozialen Situation sowie den jeweils antizipierten Zukunftsprojekten. Theoretisch gesprochen verbinden sich konstruktivistische und systemische Aspekte mit der Frage nach dem Subjekt. Nimmt man die Stimmigkeit als Kriterium, dann verlieren Begriffe wie "niedrig", "hoch", "primitiv" oder "differenziert", "emotional" oder "rational", "Nähe" oder "Distanz" als Bewertungskriterien an Bedeutung. Damit verschiebt sich auch die Zuschreibung von "pathologisch". Der Dialog mit einem Menschen im Koma (Zieger, 1992), das Spiel mit einem Kind, ein Gespräch zwischen Erwachsenen, der Austausch mit einem Menschen im Zustand "geistiger Verwirrrung" können unter diesen Aspekten auf einer Stufe stehen. Die Stimmigkeit innerhalb der Gesamtsituation ist entscheidend, wie Spitzer es für die Fokusverschiebung beschreibt. Die Bewertung scheint dabei eine größere Rolle zu spielen als das aktive Handeln. Ein Beispiel wäre die Fahrt in der Achterbahn: Während der Fahrt hat der im Wagen Sitzende keinen Einfluß auf das Geschehen. Trotzdem wird er die Situation völlig anders empfinden, je nachdem, ob er sich innerlich gegen die plötzliche Fahrt in den "Abgrund" sträubt, im Gefühl des Ausgeliefertseins sich an den Wagen klammert, um im nächsten Moment in die Tiefe gerissen zu werden oder ob er sich mit Lust gewissermaßen hinunterstürzt, den Wagen als Hilfsmittel für die von ihm gewollte Bewegung nutzend. Dieser Hinweis erscheint mir besonders wichtig, um dem möglichen Einwand zu begegnen, es würde hier eine "heile Welt" vorausgesetzt, die von vorn herein als entwicklungsfördernd zur Verfügung steht. Die beschriebene Stimmigkeit entwickelt sich nicht "von selbst", sondern als Ergebnis einer Integrationsfähigkeit für Situationen, die nicht immer von Anfang an zuträglich und willkommen sind.

Ver-Stimmung

Erfahrungen mit wechselnder Stimmigkeit gehören zum Alltag. Jeder kennt die Tage, an denen alles gelingt, eins sich ins andere fügt, der richtige Augenblick den richtigen Anruf bringt. Dann kommen andere Tage: man ist "mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden", der Wecker war stehen geblieben, die Milch kocht über, die Wohnungstür fällt zu und der Schlüssel steckt innen. Die "Chemie" in einer Beziehung, das Betriebs-"Klima" im Team stimmen nicht.

Stimmigkeit kann sich verdichten zum "stimmigen Moment", wenn eine unvorhersehbare und nicht bestimmbare Vielzahl an Faktoren sich wie in einem Fadenkreuz trifft. Jeder kennt solche Augenblicke: es können alltägliche Situationen sein. Die Bewegung eines Menschen auf der Straße, ein Geruch, eine Melodie, das Licht und die Temperatur: plötzlich verdichtet sich alles zum besonderen Eindruck, alle Einzelheiten gehören zusammen, kommen bekannt vor, werden zum "Déjà vu". Solche Augenblicke prägen sich ein, besimmen Urlaubserinnerungen oft in höherem Maße als die organisierte Abenteuer-Reise, das Kulturdenkmal.

Diese Verdichtung muß nicht Glück bedeuten. Die Bewegungen des Schmetterlings führen zum Taifun. Die unter dem Brennglas oder im Laser-Strahl gebündelte Energie kann sich einbrennen und lebenslang blockierende Narben oder unintegrierbare Abkapselungen zurücklassen. Konsequenzen, die sich daraus für die Theorie der Traumatisierung ergeben, können hier nur angedeutet werden. Im dargestellten Kontext wird verständlich, daß dramatische Ereignisse - auf der organischen wie auf der psychischen Ebene - nicht immer die erwarteten dramatischen Folgen haben und daß tiefgreifende Beeinträchtigungen oft ohne nachvollziehbare Erklärung bleiben.

Hier sind vom Chaos-Konzept weitere Klärungen zu erwarten. Feuser (1995) und Rödler (1993) haben dazu wichtige Konzepte entwickelt. Schon jetzt wird deutlich, daß die Überwindung linear kausaler Ursachen- (Schuld-) Zuschreibungen Blockierungen lösen und dem Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht entgegenwirken kann: "Ich bin nie allein verantwortlich, habe jedoch immer die Möglichkeit, irgendwo am Geschehen mitzuwirken".

Neben der Frage nach den Folgen von Stimmigkeit stellt sich die nach der Nicht-Stimmigkeit und ihren Konsequenzen. Eine der Voraussetzungen für Stimmigkeit war nach dem bisher Dargestellten das Vertrauen in den kontinuierlichen Ablauf der Zeit und das Gefühl der Teilnahme an dieser Bewegung, unabhängig davon, ob deren Struktur objektiv meßbar ist. Pausen (in der Musik als Teil der Komposition), unverändert anhaltende Töne oder Rhythmen gehörten dazu, wenn sie vom Teilnehmenden entsprechend bewertet wurden. Selbst von außen vorgegebene "natürliche" Bewegungen in der Zeit wie Herzschlag, Tag, Nacht und die Jahreszeiten werden erst durch die Zuschreibung dessen, der sie wahrnimmt, zum Rhythmus. Fehlt dieser Bezug, so kann die Zeit "vorbeirasen" oder "still stehen". Wieder gehört auch diese Polarität zur Alltagserfahrung. Die Fixierung auf einen der Pole (und damit der Verlust an wechselnder, situationsbezogener Fokusierung) löst Angst aus. Dies gilt besonders für die "bleierne Zeit" (Hölderlin), das qualvolle Gefühl von Schwere, Lähmung und Ausweglosigkeit. Die fehlende zeitliche Strukturierung entspricht einem Verlust des Zugehörigkeitsgefühls zu anderen Kontexten und damit einer Isolierung, einem Zustand von Eingeschlos-sen- , von Gefangen-Sein. Der Verlust des Vertrauens zur Kontinuität dagegen läßt in jedem Augenblick das Schrecklichste erwarten: Herzstillstand, tot umfallen etc. Auch die "rasende Zeit" löst aus dem Kontext heraus: die Zeit ist nicht die eigene, "das Leben geht an einem vorbei", "die Zeit verrinnt", bald ist es "zu spät": "soll das alles gewesen sein?" Hier verbirgt sich die Angst hinter einem Gefühl von Entfremdung. Das Leben ist nicht mehr das eigene.

Stimmigkeit ist ein musikalisches Phänomen. So stoßen alle Versuche der sprachlichen Beschreibung an die selbe Grenze wie das Bemühen, Musik sprachlich zugänglich zu machen. Dem, um was es hier geht, nähert sich am ehesten noch Dichtung. Der wiedergebene Text von Kleist aus dem "Marionettentheater" könnte ein Beispiel dafür sein. Hier wird deutlich, daß die Stimmigkeit nicht nur ein individuelles Phänomen ist, sondern auch das Zusammenspiel zwischen Personen betrifft: den "stimmigen Moment" in der Erzählung schafft nicht allein die eigene Beobachtung des Jünglings, sondern die Gleichzeitigkeit der Entdeckung durch ihn und den Erzähler.

"Ich badete mich", erzählte ich, ,,vor etwa drei Jahren mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechzehnten fahre stehen, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken.

Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe.

In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte - er sähe wohl Geister! Er errötete und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sieh leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl nach zehnmal: umsonst! Er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen - was sag ich? Die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten.

Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu fegen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte. Noch jetzt lebt jemand; der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte."

Aus: Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater

Konsequenzen für Entwicklungsbeurteilung und Förderung.

Das hier dargestellte Konzept thematisiert das Zusammenspiel vielfältiger innerer und äußerer Faktoren, das für die Stimmigkeit von Bedeutung ist. Auch der Diagnostiker, Therapeut, Erzieher, Lehrer etc. steht nicht außerhalb - als Beobachter und professioneller "Techniker" -, sondern sitzt mit dem Kind und seiner Familie "im selben Orchester". "Stimmigkeit" als Kriterium für Entwicklung kann man nicht neutral beobachten, geschweige denn testen, man muß "mitspielen". Das verunsichert zunächst. Der Verlust an "objektiven Kriterien" wird jedoch aufgewogen durch die größere Genauigkeit der Orientierung. Dies gilt vor allem für die Frage: wie lange kann man warten? Wann muß etwas "getan" werden? Wo braucht ein Kind einfach mehr Zeit und wo könnten Blockierungen sein, die einer Hilfe bedürfen? Kein noch so genauer Test kann diese Fragen klären, auch nicht die Orientierung an Entwicklungskalendern, die angeben, was ein Kind wann "können" muß. Wer versucht, sich auf das Phänomen der Stimmigkeit einzulassen (körperlich wie psychisch, die bisherige Entwicklung und das Umfeld beim Kind und bei sich selbst einbeziehend), thematisiert etwas, das sowieso stattfindet: es gibt kein Zusammensein von Menschen ohne Beziehung. Sie kann nur mehr oder weniger wahrgenommen und bewertet werden (vgl. die Bemerkungen von Stern über die Sprache!). Der umgangssprachliche Begriff vom "sechsten Sinn" zeigt, daß diese Ebene der Wahrnehmung dem Alltagserleben nicht so fern ist. Ein Konzept von in diesem Sinne erweiterter Wahrnehmung ist das der Haptonomie (Veldman, 1989), das allerdings einer intensiven Schulung bedarf.

Der Beziehungsaspekt als Kriterium für Diagnostik und Therapie wird auch in anderen Konzepten thematisiert: Milani Comparetti (1997, 1998) nutzte die Kommunikation als wichtigsten Maßstab für Entwicklung; unter systemischer Perspektive ist der Beobachter Teil des Systems; in der Psychoanalyse wird die eigene Wahrnehmung im Sinne der "Gegenübertragung" als diagnostisches Kriterium eingesetzt.

Hier könnte eingewendet werden, daß die Professionellen (als Therapeuten, Erzieher, Lehrer) nicht "kreativ herumprobieren" können, sondern unter dem Druck stehen, Kinder "funktionsfähig" zu machen, damit sie den Erwartungen der Eltern (der Gesellschaft) entsprechen. Würde man darauf verzichten, so hätten die Kinder später keine Chance für einen Platz in dieser Gesellschaft. Aber zeigt nicht die Erfahrung, daß die auf Funktionieren ausgerichtete Diagnostik und Therapie immer wieder scheitert? Gäbe es denn die ständig fortschreitende Vermarktung von Alltagserfahrungen zu Therapie (bis hin zum Skifahren als "Schnee-Therapie"), wenn jenes "Üben-Üben-Üben" wirklich so erfolgreich wäre wie verheißen? "Man merkt die Absicht und man ist verstimmt" scheint nicht nur für Witze zu gelten. Es fragt sich, ob geduldige Begleitung ohne therapeutische Gewalt, die einer Stimmigkeit im wechselseitigen Zusammenspiel zentrale Bedeutung zuschreibt, letzten Endes mehr in Bewegung setzen kann. Stern (1997) betont, daß in der Psychotherapie jene "Now Moments" die Voraussetzung dafür sind, daß der Zugang zu frühen Erfahrungen möglich wird. Vielleicht ist es weniger das therapeutische oder pädagogische Konzept, das Veränderungen und damit Entwicklung einleitet, sondern die Fähigkeit, mit dem Kind sich im Zusammenspiel zu treffen. Ziel von Entwicklung ist dabei nicht die größtmögliche Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen, sondern die Basis dafür zu legen, daß jeder den für ihn "stimmigen" Platz findet, gegebenenfalls auch im Widerstand.

Jeder Professionelle hat ein Gefühl für Stimmigkeit, oft ist es nur verschüttet, entmutigt - nicht zuletzt durch die Professionalisierung. Mehr Vertrauen zu solchen Fähigkeiten könnte auch den Kindern dieses Vertrauen zurückgeben. Verzögerungen wären nicht nur erlaubt, sondern notwendig, um in verwirrenden Situationen Orientierung zu schaffen. Das Nicht-Wissen hätte seinen Stellenwert als Raum für das Neue, das neu-gierig macht und Entwicklung einen Sinn gibt.

Literatur

Briggs, J. & Peat, F.D.: Die Entdeckung des Chaos. Hanser München 1990

Freud, A.: Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. Huber/Klett Bern/Stuttgart 1968

Gidoni,A.: Die Kontinuität zwischen fetalen und postnatalen Verhaltensmustern. In: Janssen, E. & von Lüpke, H.(Hrsg.): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Entwicklungsförderung im Dialog. Tagungsdokumentation. Paritätisches Bildungswerk 60528 Frankfurt/M., Heinrich Hoffmannstr. 3, 1997, S. 57-64

Grenier, A.: in: Martino, B.: Le bébé est une personne. Edition Balland, 1985, S. 128-137

Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995

Janus, L.: Psychosoziale Wurzeln der Geschichte der Kindheit. In: Nyssen, F. & Janus, J. (Hrsg.): Psychogenetische Geschichte der Kindheit. Psychosozial-Verlag, Gießen 1997, S. 17-37

Lüpke, von , H.: Entwicklung im Rhythmus. BEHINDERTE in Familie, Schule und Gesellschaft 19 (2), 25-32, 1996

Lüpke, von, H.: Das Spiel mit der Identität als lebenslanger Entwicklungsprozeß. In: von Lüpke, H. & Voß, R. (Hrsg.): Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung, Centaurus, Pfaffenweiler, 2. Aufl.1997a, S. 82-92

Lüpke, von, H: Das Leben beginnt mit Kommunikation. Wege zum Menschen 49 (5), 272-282, 1997b

Mancia, M.: Neurofisiologia e vita mentale. Zanichelli, Bologna 1980

Milani Comparetti, A.: In: Janssen, E. & von Lüpke, H.(Hrsg.): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Entwicklungsförderung im Dialog. Tagungsdokumentation. Paritätisches Bildungswerk 60528 Frankfurt/M., Heinrich Hoffmannstr. 3, 1997

Milani Comparetti, A.: Fetale und neonatale Ursprünge des Seins und der Zugehörigkeit zur Welt. BEHINDERTE in Familie, Schule und Gesellschaft 21 (1), 1-12 (Heftmitte), 1998

Parncutt, R.: Prenatal experience and the origins of music. In: Blum, T. (ed.): Prenatal perception, learning and bonding. Leonardo Publishers, Berlin, Honkong, Seattle 1993, S. 253-277

Rödler, P: Menschen, lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen. Grundlagen einer allgemeinen basalen Pädagogik. Afra-Verlag, Frankfurt/M., 1993

Rutter, M.: Parent-child separation, psychological effects on the children. Journal of Child Psychology and Psychiatry 12, 233-260, 1971

Spitzer, M.: Geist im Netz. Spektrum Heidelberg, Berlin, Oxford 1996

Sterman, M.B. & Hoppenbrouwers, T.: The development of sleep-waking and rest-activity from fetus to adult in man. In: Sterman, M.B., McGuinty, D.J. & Adinolfi, A.M. (eds.): Brain development and behaviour. Academic Press, New York 1971

Stern, D.N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart 1992. Original: The interpersonal world of the infant. Basic Books, Inc., New York 1985

Stern, D.N.: mündliche Mitteilung im Rahmen eines Seminars bei den 47. Lindauer Psychotherapie-Wochen 1997

Veldman, F.: Haptonomie. Science de l'affectivit‚. Presses Universitaires de France, Paris, 1989

Zieger, A.: Dialogaufbau in der Frührehabilitation. Erfahrungen mit komatösen Schädel-Hirn-Verletzten. Beschäftigungstherapie und Rehabilitation 31 (4), 326-334, 1992

Der Autor

Dr. Hans von Lüpke, Kinderarzt

Psychotherapeut. Mitbegründer des "Gesundheitszentrums Frankfurt/M. Böttgerstraße" mit einer interdisziplinären Kooperation von medizinischen, psychologischen, therapeutischen und pädagogischen Fachkräften. Hier 12 Jahre als Kinderarzt tätig, seitdem niedergelassener Psychotherapeut. Lehrbeauftragter an der Universität Frankfurt/M., FB Sonder- und Heilpädagogik. Zahlreiche Veröffentlichungen.

Glauburgstraße 66

D-60318 Frankfurt

Ich danke Herrn Dr. Volker Schönwiese für wichtige Anregungen während eines gemeinsamen Seminares zum Thema des Beitrages.

Quelle:

Hans von Lüpke: Der stimmige Moment - Zur Dynamik von Entwicklungsprozessen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/98; Reha Druck Graz, Thema: Begegnungs-Raum und Eigen-Zeit

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Stand: 20.02.2006

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