Dialogische Entwicklungsplanung

Ein Modell zur Betreuungsplanung bei maximaler Einbeziehung der Menschen mit geistiger Behinderung

Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/2003 ; Thema: Ver-rücktes Ideal, S.42-51 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/2003)
Copyright: © Camilla Bensch, Christian Klicpera 2003

Ein Modell zur Betreuungsplanung bei maximaler Einbeziehung der Menschen mit geistiger Behinderung

In den letzten Jahren haben sich durch eine Reihe paralleler Entwicklungen, einerseits durch die Gruppe behinderter Menschen, die mehr Selbstbestimmung fordert, andererseits durch das Bemühen um Normalisierung und Integration, weiters durch eine veränderte Einstellung der BetreuerInnen, die immer öfter über fachliche Ausbildungen verfügen, und schließlich durch ein verändertes Bild der Wissenschaft von den Bedürfnissen und Kompetenzen von Menschen mit Behinderungen (auch bei Menschen mit einer geistigen Behinderung) die Anforderungen an Förderdiagnostik und -planung verändert. Viele der bisher verwendeten klassischen Ansätze der Förderdiagnostik und -planung (wie z.B. der PAC-Bogen) werden als zu defizitorientiert sowie als zu normativ und fremdbestimmt und somit nicht mehr passend empfunden. Eine Alternative zu diesen nicht mehr zeitgemäßen pädagogischen Konzepten stellen jene Ansätze dar, die wir als Elemente einer Dialogischen Entwicklungsplanung bezeichnen.

Diese Elemente einer Dialogischen Entwicklungsplanung werden im angloamerikanischen Bereich schon seit vielen Jahren zur Erstellung von individuellen Förderplänen ("individual habilitation plan") angewandt, wurden im deutschsprachigem Raum bisher allerdings noch nicht detaillierter ausgearbeitet und erläutert. Auch wegen des Mangels an Fachpublikationen haben sie nur einen begrenzten Bekanntheitsgrad. Die Elemente dürften jedoch, miteinander zu einem Modell verbunden, eine zeitgemäße Orientierung für die pädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen vorgeben (Bensch & Klicpera, 2003). Dialogische Entwicklungsplanung geht nämlich vom grundsätzlichen Respekt vor dem jeweiligen Lebensstil der Person, ihren Vorlieben und Stärken aus und sieht eine maximale Einbeziehung der Menschen mit Behinderung bzw. auch der Personen aus dem Umkreis in den gesamten Planungsprozess vor.

Grundlagen einer Dialogischen Entwicklungsplanung

Dialogische Entwicklungsplanung basiert auf vier Grundelementen: die Priorität der Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung, der Lebensstil der Personen als Grundlage der Planung, die Orientierung an gewünschten Aktivitäten und die Arbeitsweise der betreuenden Personen nach dem Prinzip des Case Managements.

Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung

Wesentliche Anregungen für eine Neuorientierung der Entwicklungsplanung stammen aus der "Selbstbestimmt Leben" - Bewegung. Seit den 80-er Jahren engagieren sich Menschen mit Behinderung in dieser Bewegung für eine Beseitigung von gesellschaftlichen Benachteiligungen und für die Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensführung in einer frei gewählten Umgebung. Aus dieser Bewegung, die auch als "Empowerment" bekannt wurde, leitet sich unweigerlich eine veränderte Rolle der unterstützenden Personen ab: die Expertenposition liegt nicht mehr bei den MitarbeiterInnen, sondern wird den Betroffenen zugesprochen. Die BetreuerInnen handeln daher nicht mehr für die Menschen mit Behinderung, vielmehr liegt ihre Aufgabe darin, sie bei der Beschaffung von Ressourcen zu unterstützen, die ein Maximum an Selbstorganisation ermöglichen. Die Rolle der MitarbeiterInnen hat einen beratenden, empfehlenden und anregenden Charakter.

Für die Betreuungsplanung bedeutet dieser Paradigmenwechsel, dass die KlientInnen in alle Phasen des Planungsprozesses in maximaler Weise einbezogen werden und Ziele nicht mehr von den ProfessionistInnen vorgegeben werden. Von den BetreuerInnen wird dabei ein grundlegender Umdenkprozess verlangt, der vielen noch schwer fällt.

Lebensstil

Im Gegensatz zu einer defizitorientierten Förderplanung, wo es in erster Linie um die Förderung fehlender Fertigkeiten geht, ist die Dialogische Entwicklungsplanung dadurch gekennzeichnet, dass sie unter besonderer Berücksichtigung des Lebensstils von Menschen mit Behinderungen, deren Bedürfnissen, Interessen und Vorlieben geschieht. Menschen mit Behinderung sollen die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen Menschen haben, Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie ihr Leben gestalten, ob sie beispielsweise lieber alleine oder mit anderen Personen, am Land oder in der Stadt wohnen wollen. Es sollte daher genau überprüft werden, welche Möglichkeiten sich ihnen bieten und welche Barrieren in ihrem alltäglichen Leben vorhanden sind.

Die Menschen mit Behinderung sollen durch eine lebensstilorientierte Entwicklungsplanung die Möglichkeit erhalten, für ihr Leben bestimmende Träume zu entwickeln und deren Verwirklichung mit Hilfe der unterstützenden Personen aus dem Umkreis anzustreben. Bei einer lebensstilorientierten Planung besteht die Rolle des/der Verantwortlichen für den Entwicklungsplan darin, möglichst viel über die Person mit Behinderung zu erfahren, mit ihr einen "Traum für die Zukunft" zu entwickeln und mit dem/der Betreffenden gemeinsam daran zu arbeiten, diesen Traum real werden zu lassen. DieseR Verantwortliche soll an der Seite des Menschen mit Behinderung stehen und dessen Interessen vertreten, als wären sie seine/ihre eigenen (Shoultz, 1991).

Orientierung an Tätigkeiten

Im Gegensatz zu früheren Förderkonzepten, denen eine Vorstellung von den für einen Jugendlichen und Erwachsenen erforderlichen Fertigkeiten zugrunde lag, das als normativ bezeichnet werden kann, betont das Modell der Dialogischen Entwicklungsplanung die von dem Menschen mit Behinderung gewünschten Tätigkeiten und versucht diese durch Förderung zu ermöglichen. Diese Förderung soll aber möglichst ohne viele vorbereitende Zwischenschritte, sondern direkt anhand der geplanten Tätigkeit vor Ort und wenn notwendig unter Einsatz von Hilfsmitteln und Hilfestellungen stattfinden. Dieser Förderansatz ist damit gleichzeitig konkreter und gegenwartsorientierter. Es steht weniger die Vorbereitung auf eine ferne Zukunft, sondern die Gestaltung des gegenwärtigen Lebensraums und die Erweiterung der Erfahrungs- bzw. Erlebnismöglichkeiten im Vordergrund.

Case Management

Das Modell einer Dialogischen Entwicklungsplanung geht davon aus, dass KlientInnen nicht in bestehende Standardangebote gepresst werden, sondern dass es viel mehr darum geht, für die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung aus dem Angebot unterschiedlicher Möglichkeiten die passenden bereitzustellen. Diese Angebote können verschiedenste Formen annehmen, mehrere ausführende Personen einbinden und von mehreren Organisationen kommen. Zudem sollen nicht nur professionelle Hilfen berücksichtigt werden, sondern auch das natürliche soziale Netzwerk des Menschen mit Behinderung in die Planung eingebunden werden. Die Anteilnahme von Angehörigen, Freunden und anderen Personen aus dem Umkreis am Leben des Menschen mit Behinderung soll dadurch gefördert und deren Möglichkeiten zur Hilfestellung - soweit vom Betroffenen gewünscht - genutzt werden.

Die Rolle des Case Managers, die schon länger in der Sozialarbeit bekannt ist, gewinnt auch in der Betreuungsarbeit für Menschen mit Behinderung immer mehr Bedeutung. Bei einer Dialogischen Entwicklungsplanung ist die Rolle des Bezugsbetreuers/der Bezugsbetreuerin ähnlich der eines Case Managers. Er oder sie übernimmt die Verantwortung für die Planung und die Ausführung der beschlossenen Maßnahmen, ohne alles selbst ausführen zu müssen, er/sie stellt vielmehr das kontinuierliche Bindeglied zwischen dem Menschen mit Behinderung und allen involvierten Personen dar. Seine/ihre Aufgabe kann darin liegen, Therapiemaßnahmen, Freizeitangebote und Kontakte zu Angehörigen zu koordinieren und die Angebote kontinuierlich an die aktuelle Situation anzupassen. Treten Fragen oder Probleme bei den beteiligten Personen auf, so können sie sich an den/die BezugsbetreuerIn, der die Verantwortung für die Entwicklungsplanung übernommen hat, wenden, um Informationen oder Unterstützung zu erhalten.

Der Prozess der Dialogischen Entwicklungsplanung

Die Dialogische Entwicklungsplanung kann als mehrteiliger Prozess angesehen werden:

Abbildung 1: Der Prozess der Dialogischen Entwicklungsplanung (Bensch & Klicpera, 2003). (Aus technischen Gründen Tabelle nur als Bild vorhanden. Originaltabelle kann bei bidok angefordert werden.)

Erhebung der aktuellen Lebenssituation - Kennenlernen der Bedürfnisse der Betreffenden

Der erste Schritt der Dialogischen Entwicklungsplanung soll dazu dienen, einen Gesamtüberblick über die aktuelle Lebenssituation der Klientin/des Klienten zu bekommen und ihre/seine Bedürfnisse kennen zu lernen. Die Erhebung der aktuellen Lebenssituation soll, soweit es möglich ist, mit dem Menschen mit Behinderung gemeinsam geschehen und ihm dabei den Rahmen bieten, gemeinsam mit einer Bezugsperson über sein Leben zu reflektieren, Bereiche der Zufriedenheit und Unzufriedenheit zu erkennen, Wünsche zu äußern und erste Ziele zu formulieren. Schon diese Erhebung der aktuellen Lebenssituation wird mit dem Hauptaugenmerk auf Veränderungswünsche und Entwicklungsziele der Klientin/des Klienten gemacht. Die Erhebung der aktuellen Lebenssituation geschieht, wenn das mit der betreffenden Person möglich ist, in Form eines Interviews, darüber hinaus können auch Informationen durch gezielte Beobachtung und durch Gespräche mit Personen aus dem Umkreis des Menschen mit Behinderung eingeholt werden.

Das Sammeln von Informationen, als Grundlage für eine Dialogische Entwicklungsplanung sollte unter Berücksichtigung der ganzen Persönlichkeit des betreffenden Menschen geschehen. Oft werden Menschen mit Behinderung nur aus dem Blickwinkel ihrer Defizite betrachtet bzw. nur in ihrer Klientenrolle. Gegenstand dieser Erhebung sollte nicht sein, was der Mensch mit geistiger Behinderung kann bzw. nicht kann, vielmehr sollten Bereiche wie Interessen, Bedürfnisse, Werthaltungen, soziale Kontakte usw. angesprochen werden. Die Erhebung der aktuellen Lebenssituation kann anhand eines Gesprächsleitfadens geschehen, der folgende Bereiche umfasst:

  • Wohnen

  • Freizeit

  • Bildung

  • Tagesstruktur/Arbeit

  • Soziales Umfeld/soziale Kontakte/

  • Beziehungen

  • rechtliche und finanzielle Angelegenheiten

  • Gesundheit/körperliches Wohlbefinden

  • Persönlichkeitsentwicklung.

Der Aufbau dieses Leitfadens soll anhand des Bereiches "Freizeit" (Abb. 2) gezeigt werden.[1]

Freizeit

Einschätzung der Person selbst

  • Was bedeutet für Sie Freizeit und was unternehmen Sie in Ihrer freien Zeit?

  • Wie verbringen Sie Ihre Wochenenden und Urlaube?

  • Verbringen Sie ihre Freizeit zuhause oder außerhalb der Wohnung/der Wohngemeinschaft/des Wohnheims? Sind Sie dabei alleine oder mit anderen Personen zusammen?

  • Nehmen Sie an von BetreuerInnen organisierten Aktivitäten teil, wie z.B. Ausflüge, Kino- oder Kaffeehausbesuche?

Zufriedenheit - angestrebte Veränderungen

  • Welche Erfahrungen haben Sie mit ihrer Freizeitgestaltung gemacht? Mit welchen der Freizeitaktivitäten sind Sie zufrieden, mit welchen unzufrieden?

  • Sind Sie mit Ihrer Wochenend- und Urlaubsgestaltung zufrieden? Was möchten Sie daran verändern?

  • Möchten Sie andere Freizeitaktivitäten ausprobieren, die Sie bisher noch nicht gemacht haben und welche Unterstützung, Entscheidungshilfen brauchen Sie dafür?

  • Was möchten Sie in den nächsten Monaten unternehmen? (z.B. Kino, Konzerte, Ausflüge, Museum, Wandern, Spazieren, Kurse, Schwimmen ...)

Kompetenzen/Veränderung des Betreuungsangebotes - mehr/weniger Unterstützung

  • Haben Sie einen Überblick über Freizeitaktivitäten, die von erwachsenen Menschen ausgeführt werden können? Wie können Sie sich diesen Überblick verschaffen und welche Unterstützung brauchen Sie dabei (Fotos, Bilder in Illustrierten, Beobachtung anderer Personen, ausprobieren ...)?

  • Möchte Sie Freizeitaktivitäten gerne selbständiger wahrnehmen und was wäre dafür notwendig oder brauchen Sie dabei vielleicht mehr als die bisher angebotene Unterstützung und in welcher Form (Begleitung, Organisation, Beratung, Motivation)?

Bei dieser Erhebung soll die Person immer direkt angesprochen werden. Man kann sich dabei inhaltlich an dem Leitfaden orientieren, muss aber die Fragen an das jeweilige Sprachniveau anpassen bzw. auch die für Betreuung relevanten Themenbereiche auswählen. Ist aufgrund der Behinderung oder der psychischen oder sozialen Verfassung eine Einbindung des behinderten Menschen nicht möglich, bzw. äußert er sich zu seiner Situation und seinen Wünschen nicht oder schwer verständlich, so muss um so mehr Gewicht auf Beobachtungen, Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten und Einfühlen durch die BezugsbetreuerInnen gelegt werden.

Die Erhebung der aktuellen Lebenssituation kann nicht als einmalige Angelegenheit in einer Entwicklungsplanung angesehen werden, vielmehr ist sie ein kontinuierlicher Prozess einer Prüfung von Hypothesen mit verschiedenen Rückkoppelungen, die mit der ständigen Veränderung Schritt halten muss.

Vorbereitung auf die Zielplanung und Zielplanungsbesprechung

Nachdem der Prozess der Erhebung der aktuellen Lebenssituation abgeschlossen ist, d.h. alle notwendigen Informationen über die Person, deren Lebensstil, Vorlieben und Bedürfnisse eingeholt wurden, beginnt die Phase der Planung, wobei dieser Schritt darin besteht, Ziele zu definieren.

Die Zielplanung findet bei einer Planungsbesprechung statt, bei der außer dem/der BezugsbetreuerIn wichtige Personen aus dem sozialen Umfeld, wie Angehörige, der/die rechtliche VertreterIn, WerkstättenbetreuerInnen, FreundInnen und PartnerInnen teilnehmen sollen. Der/die KlientIn bestimmt selbst, welche Personen bei der Besprechung dabei sind. Wichtig ist, dass während der Besprechung der/die KlientIn als "Hauptperson" in Erscheinung tritt, die selbständig über ihre Anliegen bestimmt. Eine große Planungsbesprechung unter Einbeziehung zahlreicher Personen aus dem Umfeld wird nicht jedes Jahr notwendig sein, in bestimmten kritischen Lebensphasen kann aber so eine Besprechung sich als durchaus sinnvoll herausstellen. Solche kritischen Lebensphasen stellen vor allem Wendepunkte im Leben dar, wie beispielsweise der Übergang von der Schulzeit in die Arbeitswelt oder der Wechsel der Wohnform (siehe auch Boban & Hinz, 1999).

Für die Planungsbesprechung müssen einige Vorbereitungen getroffen werden, wie die Verteilung der Aufgaben, Organisieren des Zeitpunktes und des Ortes des Zusammentreffens, Schreiben und Versenden der Einladungen, Vorabklären der Möglichkeiten zur Realisierung der Wünsche der Klientin/des Klienten (vgl. Wilcox & Bellamy, 1987).

Die Besprechung soll an einem Ort stattfinden, wo sich der/die KlientIn sicher und wohl fühlt. Die Dauer sollte ein für alle Beteiligten zumutbares Maß nicht überschreiten. Um die KlientInnen nicht zu sehr zu belasten und die Konzentration aufrecht zu erhalten, wird es in vielen Fällen angebracht sein, die Besprechung auf mehrere Teile z.B. nach Themen zu trennen.

Beim Ablauf der Besprechung kann wie folgt vorgegangen werden:

  • Kurze Erklärung der Dialogischen Entwicklungsplanung und Eingehen auf Ziel und Zweck der Besprechung

  • Darstellung der aktuellen Lebenssituation der Klientin/des Klienten

  • Darstellung der Entwicklungsziele: Alle Ziele, die im Prozess der Erhebung der aktuellen Lebenssituation als Ziele der Klientin/des Klienten heraus gearbeitet wurden, werden vorgestellt (wenn möglich von der Klientin/dem Klienten) und schriftlich so festgehalten, dass sie von allen TeilnehmerInnen der Besprechung gesehen werden können. In diesem Stadium sollten nicht Möglichkeiten von vornherein wegen eventuell auftretender Hindernisse oder bisheriger Erfahrungen ausgeklammert werden bzw. das Denken und die Planung blockiert werden.

  • Auswahl der Ziele: Der/Die KlientIn gibt an, welche der genannten Ziele ihm/ihr am wichtigsten sind. Die anwesenden Personen können Vorschläge, Kommentare oder auch Kritik äußern. Die ausgewählten Ziele werden in Bezug auf ihre Realisierbarkeit diskutiert bzw. ihre Umsetzung geplant. Es wird besprochen, welchen Teil der/die KlientIn selbständig übernimmt und wo Unterstützung durch welche Personen erfolgt. Bei der Auswahl der Ziele ist vor allem die Frage wichtig: was wird die Lebensqualität der Person verbessern? Es ist nicht in jedem Fall wichtig, dass durch das Ziel neue Fertigkeiten erlernt werden, genauso gut kann auch ein Ziel sein, eine Aktivität zu erhalten oder ihre Ausführung zu verbessern.

  • Ergebnis der Planungsbesprechung ist ein schriftlicher Entwicklungsplan.

Der schriftliche Entwicklungsplan

Ein im Rahmen einer Dialogischen Entwicklungsplanung ausgearbeiteter Plan sollte aufgrund der größeren Verbindlichkeit immer in schriftlicher Form vorliegen. Einen wichtigen Teil des Entwicklungsplanes stellen die Ziele und deren Formulierung dar. Ein Zielplan soll sowohl langfristige als auch kurzfristige Ziele enthalten, wobei diese Ziele positiv formuliert, möglichst einfach ohne Fachausdrücke, kurz, klar und anhand konkreter Tätigkeiten definiert sein sollen. "Schwammige", zu langfristige oder globale Zielformulierungen sind in der Praxis wenig hilfreich. Werden mehrere Ziele bestimmt, so sollen sie in ihrer Reihenfolge festgelegt sein und durch messbare Merkmale oder ein Verhalten definiert werden, an denen ersehen werden kann, ob das Ziel erreicht wurde.

Die notwendigen Schritte zur Realisierung der Ziele bzw. die Methoden, die dafür angewandt werden, sollen möglichst genau festgehalten werden (wann, wie oft, wo, mit wem, auf welche Weise, mit welcher Unterstützung etc.). Eine zeitliche Planung der Durchführung sollte erfolgen, d.h. im Plan soll ein Zeitpunkt bestimmt werden, ab wann er in Kraft tritt, bis wann das Ziel erreicht sein soll und wann eine neuerliche Erhebung der aktuellen Lebenssituation und Erstellung eines Zielplanes stattfinden (z.B. halbjährlich, jährlich, max. eineinhalb jährlich).

Eine verantwortliche Person für die Organisation und Koordinierung der notwendigen Schritte für jedes Ziel sollte festgemacht werden. Meist wird das der/die BezugsbetreuerIn sein, es kann aber genau so gut einE AngehörigereR oder eine andere Person aus dem Umkreis dafür Verantwortung übernehmen. Im Plan sollen die Rollen und Aufgaben aller an der Planung und Durchführung beteiligten Personen, Dienste, Stellen etc. festgelegt werden. Für den festgelegten Zeitraum hat der Plan für alle beteiligten Personen Verbindlichkeit - außer der/die KlientIn ändert selbst die Ziele. Es ist günstig, wenn diese Verbindlichkeit durch eine Unterschrift der verantwortlichen Person bestätigt wird.

Der Zielplan kann anhand eines Rasters ausgearbeitet werden, das die einzelnen Lebensbereiche (Wohnen, Freizeit, Bildung, Tagesstruktur/Arbeit etc.) als auch die unten genannten Elemente anführt. Solange ein Plan inhaltlich aussagekräftig ist, kann er genauso gut frei formuliert und nicht in Form eines Schemas erstellt werden. Mit der Klientin/dem Klienten sollte geklärt werden, welche Form für sie/ihn geeignet ist, der Zielplan kann z.B. auch auf einem Plakat festgehalten werden. Auf jeden Fall müssen aber die wesentlichen Grundelemente eines Zielplanes enthalten sein:

  • Ziel: Was ist das Ziel und woran kann man erkennen, dass das Ziel erreicht wurde?

  • Zeitpunkt: Wurde festgesetzt am ...?

  • Durchführung/Methoden: Wie soll das Ziel erreicht werden?

  • Zeitrahmen: Bis wann soll dieses Ziel erreicht werden?

  • Verantwortliche Person: Signatur

  • Nächste Erhebung der aktuellen Lebenssituation und Zielplanung

Evaluierung der Fördermaßnahmen

Die Durchführung der in der Zielbesprechung und im schriftlichen Plan festgelegten Schritte zur Realisierung der Ziele soll laufend dokumentiert werden. Leider wird diese laufende Dokumentation der Fördermaßnahmen in der Praxis häufig vernachlässigt oder es werden Entwicklungsschritte oft in einer Form festgehalten, in der eine Übersicht und damit ein Vergleich schwer fällt (Bensch, 1998).

Bei der Dokumentation der Fördermaßnahmen soll festgehalten werden, welche Ziele erreicht wurden und wie sie erreicht wurden, welche Hindernisse dabei auftraten bzw. wie damit umgegangen wurde. Es soll auch dokumentiert werden, wenn Ziele nicht erreicht wurden, warum sie nicht erreicht wurden, welche Ziele revidiert wurden und was dafür ausschlaggebend war. Durch Dokumentation der einzelnen Schritte werden Zusammenhänge oft leichter erkennbar und Entwicklungen der KlientInnen unter dem Einfluss bestimmter Rahmenbedingungen und Betreuungsangebote werden besser sichtbar. Diese begleitende Dokumentation macht die Durchführung der beschlossenen Maßnahmen auch für Dritte nachvollziehbar, so können auch andere oder neu einsteigende BetreuerInnen informiert werden und, wenn nötig, Aufgaben übernehmen.

Der Erfolg der Maßnahmen soll oft genug überprüft werden (Wehman & McLaughlin, 1981), damit man

  • eine Rückmeldung über den Fortschritt erhält. Je öfter man evaluiert, desto leichter kann man Problembereiche erkennen.

  • notwendige Änderungen bei den Methoden oder Materialien durchführen kann und man sicherstellen kann, ob die Phase der Förderung effektiv ist oder nicht.

  • nachprüfen kann, dass das Ziel erreicht wurde. Wurde die jeweilige Fertigkeit erlernt, so kann die Fertigkeit der nächsten Phase des Förderprozesses geübt werden; die neu erlernte Fertigkeit wird dabei regelmäßig überprüft.



[1] Der gesamte Gesprächsleitfaden kann in Bensch & Klicpera, 2002, Dialogische Entwicklungsplanung, nachgelesen werden

Ausblick

Nachdem normative bzw. defizitorientierte Förderkonzepte wie z.B. der PAC-Bogen von MitarbeiterInnen in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung zu Recht verworfen wurden, bekommt man den Eindruck, dass sich im deutschsprachigen Raum bisher keine neuen Modelle tatsächlich durchgesetzt haben. Das Konzept der Dialogischen Entwicklungsplanung (Bensch & Klicpera, 2002) berücksichtigt den Wunsch nach Selbstbestimmung behinderter Menschen und gibt eine Struktur vor, die BehindertenpädagogInnen eine Orientierung ermöglicht, wie bei der Erstellung eines Entwicklungsplans vorgegangen werden kann. Eine Systematisierung wird dadurch bewirkt, die aber gleichzeitig auf die Individualität und den persönlichen Lebensstil der KlientInnen Rücksicht nimmt und Freiräume zur Anpassung an verschiedene Ausgangssituationen zulässt.

Ein flächendeckenderer Einsatz eines vereinheitlichteren Konzepts individueller Entwicklungsplanung im deutschsprachigem Raum wäre ähnlich wie in den USA, wo in einigen Staaten die halbjährliche Erstellung eines "individual habilitation plan" verpflichtend ist, wünschenswert. Diese Vorgabe macht aber natürlich nur dann Sinn, wenn es auch im Zuge eines Qualitätssicherungsprozesses zu einer regelmäßigen Überprüfung oder Befragung durch außenstehende Personen kommt, ob die angegebenen Ziele der Planung in der Praxis verfolgt werden.

Literatur

Bensch, C. & Klicpera, C. (2002): Dialogische Entwicklungsplanung - Ein Modell für die Arbeit von BehindertenpädagogInnen mir erwachsenen Menschen mit Behinderung. 2. überarbeitete Auflage. Heidelberg: Winter.

Bensch, C. (1998): Entwicklungsplanung, Förderung und Dokumentation als Teil der Betreuungsarbeit bei Menschen mit geistiger Behinderung in Form von verschiedenen Wohneinrichtungen in Wien und Umgebung. Unveröffentlichte Dissertation. Universität Wien.

Boban, I. & Hinz, A. (1999): Persönliche Zukunftskonferenzen. Behinderte 4/5/99, 13-23

Shoultz, B. (1991): Regenerating a Community. In S. Taylor, R. Bogdan & J. A. Racino (Eds.), Life in the Community. Case Studies of Organisations Supporting People with Disabilities (pp. 195-213). Baltimore: P.H. Brookes.

Wehman, P. & McLaughlin, Ph. J. (1981): Program Development In Special Education. New York: McGraw-Hill Book Company. Wilcox, B. & Bellamy, Th. (Eds.) (1987). A Comprehensive Guide to The Activities Catalog. Baltimore: P.H. Brookes.

Der Autor

Prof.DDr.Christian Klicpera

Institut für Psychologie der Universität Wien

Universitätsstraße 7

A-1010 Wien

Quelle

Camilla Bensch, Christian Klicpera: Dialogische Entwicklungsplanung. Ein Modell zur Betreuungsplanung bei maximaler Einbeziehung der Menschen mit geistiger Behinderung

Aus: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/2003 ; Thema: Ver-rücktes Ideal, S.42-51

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.09.2005

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