Eine persönliche Rückschau

auf mehr als 30 Jahre erlebte und gelebte Sonderpädagogik

Autor:in - Dieter Fischer
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/00 Thema: Den Dialog suchen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/2000)
Copyright: © Dieter Fischer 2000

Dreimal Leben - ein "richtiges Leben im falschen"?

Es kann kein richtiges Leben

im falschen sein...

Theodor Adorno

Denken, Fühlen und Handeln für den anderen waren in unserer Familie eine Selbstverständlichkeit. Immer gab es Platz wie auch Nahrung für Vorbeikommende. Auch alte und kranke Menschen vom Dorf konnten stets mit einem guten Wort wie auch mit konkreter Hilfe rechnen. Solidarität war ein Fremdwort, Dasein für den anderen dafür gelebte Wirklichkeit. Professionalität erschien auf der damaligen Werteskala nicht.

Musik brachte mich als jungen Lehrer (1965) in Kontakt mit den Bewohnern der damaligen "Pflegeanstalt" Bruckberg - Heimat (damals noch ganz ohne Fragezeichen) für über 600 geistigbehinderte Menschen aller Altersstufen und Schweregrade. Die viel zu großen und ärmlich ausgestatteten Stationen wurden gerade von Ofenheizung auf Dampfheizung umgestellt und die riesigen Wach- bzw. Schlafsäle verkleinert.

Einer meiner Kommilitonen, inzwischen schizophren geworden, besuchte mich häufig. Er wollte immer wieder nur Antwort auf die einzige Frage, warum er sich "mit einem Nachtkasterl zufrieden geben" muss, während ich eine kleine Wohnung habe. Meine Antwort war Dasein und Dranbleiben. Mehr hatte ich damals nicht zu sagen.

Der genehmigte Tagessatz reichte zur Ernährung der vielen nicht aus. Wie alle Mitarbeiter beteiligte auch ich mich im Herbst an sog. Bettelfahrten auf die Dörfer in der Region. Sechshundert Menschen sollten ohne Schaden über den Winter kommen. Der Diakon hielt eine flammende Rede. "Unsere" Männer gestalteten ein kleines Spiel. Anschließend war man bei den Bauern Gast - zur Vesper am Tisch der anderen. Die "Gaben" waren vorm Haus bereits aufgehäuft und warteten auf unsere Bedankung. Ich aber schämte mich.

Ein richtiges Leben im falschen?

Da das Bewusstsein für die Notwendigkeit fehlte, fehlte auch das Geld für Erziehung und Bildung. Nur die "besseren" Kinder besuchten sog. Förderklassen, während die anderen vielen in ihren Klostühlen saßen - zum Teil angebunden - oder in ihren Betten auf menschliche Zuwendung warteten und ihren Sinn sich selbst gaben. Stereotypien waren meist das Mittel der Wahl. Doch Lernen war wie aufgehende Saat überall zu entdecken, nur hatten die wenigsten einen Blick dafür. Unermüdliche Fürsorge und Liebe von viel zu wenigen Schwestern und Brüdern für viel zu viele Pflegebefohlene überzogen die schlimmsten Wunden und konnten trotzdem das Schreien nach "richtigem Leben" nicht verhindern. Unmenschliches wurde geleistet und Menschenunwürdiges erduldet. Ich hatte als junger Lehrer alle Hände voll zu tun. Menschsein war völlig neu kennen zu lernen - erstaunt fragend, missverstehend, kopfschüttelnd. Alles roch beängstigend nach Fremdsein und nach Änderung gleichermaßen.

Und unversehens wurden viele dieser schwerbehinderten Menschen meine Lehrer - ungewollt und unvergessen. Mein tiefster Dank gilt ihnen noch heute.

Erst das Studium der Sonderpädagogik weckte mir den Blick für Lernen als möglichen Weg zur Entwicklung, während sich im Studium voraus das "Werden der Person" (H. Thomae) und das Bildungs- und Erziehungsverständnis von I. Kant u.a. sich tief ins Herz eingruben.

Nach meiner Rückkehr von der Universität sah die Welt in Bruckberg für mich völlig anders aus: Nicht (nur) pflegen, sondern lernen, nicht (nur) lieben, sondern fordern, nicht (nur) versorgen, sondern zutrauen und beanspruchen hieß die Devise. Doch auf diesem Weg hatte ich anfangs nur sehr wenige Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Während ich in jedem Winkel und bei jedem Handgriff Ansatzpunkte für Lernen durch Förderung zu entdecken glaubte, ja förmlich roch und lauthals demonstrierte, verletzte ich die vielen anderen Bemühten, Engagierten und Langbewährten. Meine Botschaft war: Es muss nichts so bleiben, wie es ist, man kann den Menschen ändern, wenn man die Situation ändert. Man muss es nur wollen!

Ob dies allerdings der Weg aus dem falschen Leben ins richtige war, stellte sich mir damals als Frage nicht. Begeisterung, Aufbruch, Wendezeit waren angesagt.

Die Verletzungen und der Unmut wurden größer. Ich veranstaltete einen wahren Feldzug für das Lernen bei selbst schwerst behinderten Menschen, doch der Erfolg war geteilt. Ich setzte mich durch, sammelte positive Erfahrungen, ließ gelegentliche Rückschritte kaum gelten, suchte und fand "Gesinnungsgenossen", wagte mich an immer schwierigere Menschen heran und erlebte begeistert die Geburtsstunde von Professionalität. Sie schien zu wachsen, die Fachleute schienen zu siegen. Die Beziehung jedoch begann in dem Maße zu schwinden, wie sich statt Schwestern und Brüdern professionelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tummelten; das Fremde wurde fremder, und die Frage nach dem "richtigen Leben" stellte sich - trotz sog. Fortschritte - immer deutlicher, drängender und fragwürdiger denn je zuvor.

Die großen Einrichtungen verschrieben sich der Dezentralisierung und Differenzierung. Die Wohnformen glich man zunehmend den Standards an, und das Schulrecht wurde allmählich zur Schulpflicht für alle auch noch so schwer behinderten Kinder. Sonderschulen wurden gebaut, neue Methoden-Konzepte entwickelt, sonderpädagogischer Förderbedarf erhoben, Ausbildungs- und Studiengänge eingerichtet. Im Spezialistentum suchte man Hilfe und vermutete man das Heil! Der Mensch als Person trat zurück. Menschenfreundlichkeit erschien als Service in einem modernistischen Gewand - heute durch Qualitätsstandards abgesichert, einklagbar und zu bezahlen.

Doch ist dies alles Inbegriff jenes "richtigen Lebens", das im "falschen" nicht sein kann? Normalisierung, Individualisierung und Selbstbestimmung erschienen als neue Sterne am Wertehimmel und wurden bald von Kooperation, Integration und autonomem Leben abgelöst - als Ausdruck einer neu in Gang gekommenen neuen Praxis. Sind wir damit dem Heil ein Stück näher gekommen?

Heil kennt Adressaten wie auch Ziele. Alles hat miteinander zu tun, und trotzdem bleibt seltsamerweise alles voneinander getrennt. Man möchte den Menschen, dem wir Behinderung zuschreiben, heilen d.h. verändern - doch nicht selten ihn dadurch von uns befreien. Wir selbst wünschen uns ein heiles, unbeschädigtes und unverletztes Leben, wo weder Angst noch Geschrei, weder Wehklagen noch der Tod mehr Wirklichkeit sei.

Das "richtige Leben" ist nicht eine Frage des Glücks oder auch nur des Zufriedenseins und des guten Lebens. Es ist letztlich eine ethische Frage (und nicht nur qualitative), nämlich "Hüter meines Bruders" zu sein. Deshalb gilt: Uns ist auf Erden nicht das Heil verheißen, sondern uns sind Aufgaben gestellt, die jeder auf seine Weise einzulösen und zu verantworten hat.

Diese Aufgaben binden uns zusammen, ob wir dem anderen nun eine Behinderung zusprechen oder nicht, ob wir uns durch eine dokumentierte Professionalität auszeichnen oder "nur" Helfer oder Begleiter sind, ob wir nun Lernen oder Bilden in den Mittelpunkt unserer pädagogischen Arbeit rücken oder Pflege zunehmend heilpädagogisch sehen, ob wir der Integration mehr Glauben schenken als ihrer kleineren Schwester der Kooperation. Wir gehören zusammen, in welch einer Situation sich ein anderer auch befindet. Ich bin nicht für ihn, wohl aber vor ihm verantwortlich, und diese Verantwortlichkeit kann ich nicht abschütteln - im Gegenteil, sie beauftragt, sie beschwingt und sie befördert mich.

Dabei gibt es nicht den Weg des Guten, sondern es sind Fantasie und Vermögen des jeweils Einzelnen gefragt, mit seiner Beauftragung individuell umzugehen und diese verantwortlich zu gestalten und zu leben. Bei allem Ernst ist das Leichte nicht zu vergessen, und das Soziale muss sich mit Kultur mischen, damit beides vom jeweils anderen neu begabt, beflügelt und neu gewertet wird. Das Eigene des jeweils anderen - für mich in Form "paralleler Wirklichkeiten" - ist Ansatzpunkt und Ort der Begegnung und der Bildung gleichermaßen. Die zwischen dem Eigenen wie dem Fremden bestehenden Entfernungen sind weder mit Worten noch mit Konzeptionen allein zu überbrücken, wohl aber für jene, die "in Liebe" auf dem Wege hin zum anderen und mit diesem zum "richtigen Leben" sind.

Entfernung

Die Entfernung

eines Kranken

Von dem der bei ihm sitzt

ist nicht weiter

Als die Kontinente

voneinander.

Unendlich weit.

Nur dieses

Hand in Hand.

Und doch es gilt nur

unter Gehenden.

Hilde Domin

Biographie

Dieter Fischer, Dr. phil., 1939, Lehrer an Grund- und Hauptschulen, Studium der Sonderpädagogik, Aufbau und Leiter einer Schule für Geistigbehinderte, Assistent am Lehrstuhl Sonderpädagogik (Prof. Dr. O. Speck) der Universität München; Leiter der Heilpädagogischen Zusatzausbildung für Erzieher in Bayern; Seminarrektor; Promotionsstudium in Sonderpädagogik, evang. Theologie und Psychologie/Psychiatrie. Seit 1980 am Lehrstuhl Sonderpädagogik II, Universität Würzburg.

Bibliographie

Neues Lernen mit Geistigbehinderten (Hrsg.), Buchreihe vergriffen, Dürr und Kessler, Würzburg.

Ich setzte meinen Fuß in die Luft - und sie trug. Band 1 (vergriffen), edition bentheim Würzburg 1991.

Ich setzte meinen Fuß in die Luft - und sie trug. Band II, edition bentheim Würzburg 1991.

Ich setzte meinen Fuß in die Luft - und sie trug. Band III, edition bentheim Würzburg 1991.

Intensivbehinderte lernen leben (zusammen mit Dr. M. Breitinger), edition bentheim Würzburg 1993.

Am Ort der Mühe wohnen. In Förderstätte, Schule, Familie und Heim; edition bentheim Würzburg 1997.

... den Dialog suchen. Behinderte Menschen fördern, begleiten und betreuen; edition bentheim Würzburg 1998.

Ein Hund, das wär' mein größtes Glück. Lieder und Geschichten für und um Kinder; edition bentheim Würzburg 1998.

... und trotzdem lernen. Eine heilpädagogische Aufgabe; edition bentheim Würzburg 2000.

Neues Lernen mit Geistigbehinderten. Eine methodische Grundlegung. Neuauflage, edition bentheim Würzburg 2000.

Quelle:

Dieter Fischer: Eine persönliche Rückschau auf mehr als 30 Jahre erlebte und gelebte Sonderpädagogik

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/00; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.03.2005

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