Schönes schweres Miteinander

Geschwister von Menschen mit Behinderung

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/00. Thema: Den Dialog suchen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (2/2000)
Copyright: © Linda Kaszubski, Gottfried Wetzel 2000

Eine Geschwisterbeziehung mit potentiell "höherem Schwierigkeitsgrad" und ihre Verarbeitungsmöglichkeiten

Das Zusammenleben mit einem Kind mit Behinderung bringt für so manche Familie eine Reihe von Bewältigungsaufgaben mit sich. Als Teil dieser Familie ist auch das Geschwister von dieser oftmals schwierigen Situation mitbetroffen. Die in vielen Familien entstehenden zusätzlichen Belastungen werden von den Geschwistern sehr unterschiedlich verarbeitet. Wir können aber davon ausgehen, dass wir es bei dieser Geschwisterbeziehung mit einem potentiell "höherem Schwierigkeitsgrad" zu tun haben, deren Bewusstmachung ein erster Schritt für eine positive Verarbeitung sein kann. Wie dieser höhere Schwierigkeitsgrad von dem nicht behinderten Geschwister gemeistert wird, hängt von den jeweiligen Lebensbedingungen, den Kommunikations- und Interaktionsformen innerhalb der Familie und der jeweiligen Persönlichkeit ab. Bei der Verarbeitung der Folgen der Behinderung eines Geschwisters spielt mitunter die subjektive Einschätzung der Betroffenen eine zentrale Rolle. Von ihr hängt es auch ab, welche Auswirkungen es überhaupt gibt und wieviel Verarbeitung notwendig ist[1].

Im Laufe der Jahre wachsen die Geschwister zu "Fachleuten" im Umgang mit Menschen mit Behinderung heran. Sie besitzen z.B. die Fähigkeit, die Lautäußerungen ihrer Geschwister zu deuten, ihre "Sprache" zu verstehen. Sie wissen über die alltäglichen Verrichtungen genauso Bescheid, wie sie auch wissen, was in Notfällen (z.B.: bei einem epileptischen Anfall) zu tun ist. Weiters sind sie in sehr vielen Fällen bereit, über die übliche Geschwisterbetreuung hinaus Verantwortung für ihre Familien zu übernehmen[2]. Dieses oft außertourliche Maß an Verantwortungsgefühl und die daraus entstehende Belastung kann dazu führen, dass Geschwister mit verschiedenen Problemen zu kämpfen haben und sie dadurch in ihrer Entwicklung eingeschränkt sind. Dem kann entgegengewirkt werden, wenn den Geschwistern die Möglichkeit einer Unterstützung geboten wird[3].

Bevor nun auf mögliche Probleme und Bedürfnisse von Geschwistern von Menschen mit geistiger Behinderung eingegangen wird, soll noch beschrieben werden, was mit einer positiven Entwicklung gemeint ist. Um das ganze etwas greifbarer zu machen, werden im folgenden Indikatoren genannt, die auf ein gelungenes Zusammenleben von Geschwistern mit und ohne Behinderung hinweisen sollen:

  • eine überwiegend gute Beziehung zum Geschwister mit Behinderung

  • ein sicherer und kompetenter Umgang und ein gesundes Füreinander mit dem Geschwister mit Behinderung

  • (auch) die Fähigkeit der Abgrenzung gegenüber dem Geschwister mit Behinderung (z.B.: nicht glauben, ständig in Bereitschaft sein zu müssen)

  • (auch) das Empfinden und das Zugeben von negativen Gefühlen dem Geschwister mit Behinderung gegenüber (z.B.: Zorn, weil das Geschwister etwas ruiniert hat, das für einen wichtig war)

  • (meist) selbstbewusstes Auftreten mit dem Geschwister mit Behinderung in der Öffentlichkeit

  • ein überwiegend positives Selbstbild

  • Planung der Zukunft unabhängig vom Geschwister mit Behinderung[4]

Was passiert aber, wenn ein Geschwister die Tatsache, eine Schwester oder einen Bruder mit Behinderung zu haben, nicht optimal verarbeiten kann? Im Weiteren soll exemplarisch auf mögliche Auswirkungen eingegangen werden, die aus einer langjährigen, nicht verarbeiteten Belastung entstehen können[5]:

  • Mangel an guter Kommunikation innerhalb der Familie: Gibt es keinen offenen und ehrlichen Umgang innerhalb der Familie, so kann es vorkommen, dass Geschwister schon sehr bald merken, dass Themen einfach "tabu" sind und dass gewisse Gefühle (z.B.: Aggression) besser nicht ausgedrückt werden und somit auch nicht darüber geredet wird.

  • Mangel an Information: Hier handelt es sich um einen Teilaspekt von misslungener Kommunikation. Aufgrund der Tatsache, dass Eltern oft ungern über die Behinderung ihres Kindes sprechen, haben die Geschwister oft einen Mangel an Information. Beispiele für die Auswirkungen eines solchen Mangels sind z.B.: Glaube, Schuld zu sein, dass das Geschwister behindert ist; Glaube, dass "es" übertragbar ist; etc.

  • Erhöhte Verantwortung: Ein erhöhter Grad an Verantwortung z.B. durch exzessive Betreuungstätigkeit kann Gefühle von Zorn, Groll, Schuldgefühle zur Folge haben. Auch können psychische Störungen eintreten, speziell dann, wenn das Geschwister ohne Behinderung zusätzlich noch wenig Aufmerksamkeit von den Eltern bekommt[6].

  • Erschwerte Identitätsfindung: Die Identitätsentwicklung wird von den Erfahrungen mit der Behinderung des Geschwisters mitbeeinflusst. Im Idealfall sollen Phasen der Solidarität und Nähe mit jenen der Auseinandersetzung und Distanz im gesunden Gleichgewicht stehen. Ein zu starkes Hineinversetzen in die Welt des Geschwisters und teilweise Identifizierung mit ihm können die Abgrenzungsfähigkeit negativ beeinflussen. Dabei spielt gerade die Identifizierung losgelöst vom Kind mit Behinderung und die Rollendefinition innerhalb der Familie eine große Bedeutung.

Aus verschiedenen Untersuchungsergebnissen und den oben angeführten Problemen lassen sich Bedürfnisse ableiten. Es sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass jedes Geschwister von einem Menschen mit Behinderung selbstverständlich einzigartig ist und somit auch deren Bedürfnisse, die sich auch dann mit Alter und Umständen verändern. Es hat sich gezeigt, dass die Bedürfnisse weitgehend unabhängig von der Art der Behinderung, der Familiengröße, dem Geschlecht des Geschwisters und der Stellung in der Geschwisterreihe sind[7]. Im Folgenden werden nun die wichtigsten und am häufigsten auftretenden Bedürfnisse zusammengefasst:

  • Klare und umfassende Informationen über die Behinderung und den Zustand des Geschwisters (Entstehung, Prognose, etc.). Die Geschwister brauchen unterschiedliche Informationen in unterschiedlichen Lebensphasen, die sich ihren jeweiligen Bedürfnissen und Aufnahmefähigkeiten anpassen.

  • Offene Kommunikation innerhalb der Familie über die Behinderung und die positiven und negativen Erfahrungen der einzelnen Familienmitglieder damit. Wichtig ist, dass die Geschwister keine Schuldgefühle bzgl. der Behinderung und der daraus erwachsenen Familiensituation haben und ihr eigenes Leben aufbauen können.

  • Anerkennung von seiten der Eltern für die individuellen Stärken und Fähigkeiten.

  • "Qualitätszeit" mit den Eltern auf individueller Basis. Auch wenn sich die Geschwister z.B. in vielen Fällen sehr unabhängig und selbständig zeigen, ist es für sie wichtig, auch "individuelle Zeit" nur mit den Eltern bzw. einem Elternteil (ohne das Geschwister mit Behinderung) zu verbringen.

  • Kontakt mit und Unterstützung von anderen Geschwistern und Familien. Gerade das Wissen, dass man mit einer Situation nicht alleine auf der Welt ist und es Menschen gibt, die ähnliche Erfahrungen machen, ist vielfach schon eine Erleichterung an sich. Der Erfahrungsaustausch und die gegenseitige Hilfe sind ein weiteres.

  • Das Aufzeigen von Wegen und Möglichkeiten und daraus folgend der Erwerb von effektiven Verhaltensweisen, um mit stressigen Situationen umgehen zu lernen. Die Geschwister brauchen Lösungsmodelle, sowohl für den Umgang mit ihrem Geschwister mit Behinderung, als auch z.B. für Konfliktsituationen mit dem sozialen Umfeld. Das kann durch fachliche Unterstützung oder durch den Erfahrungsaustausch mit anderen Geschwistern von Menschen mit Behinderung gefördert werden.

  • Auseinandersetzung mit ambivalenten und belastenden Gefühlen. Auch hier eignen sich Gruppengespräche mit anderen Geschwistern, um eine offene Wahrnehmung und Akzeptanz von auch negativen Gefühlen dem Geschwister mit Behinderung oder den Eltern gegenüber (z.B. Schuldgefühle aufgrund von Neid, Eifersucht, ablehnender Haltung, etc.) zu ermöglichen.

  • Beratung: Manche Geschwister brauchen eine(n) BeraterIn außerhalb der Familie, der/dem sie ihre Gefühle mitteilen können. Auch kann es die Rolle einer außenstehenden Person sein, die aus der neutralen Position heraus Lösungsmöglichkeiten aufzeigt und dem Geschwister hilft, mit ihrem/seinem Verhalten umgehen zu lernen bzw. es zu verändern.

  • Respekt: Wie alle Menschen haben auch Geschwister von Menschen mit Behinderung das Bedürfnis, als Individuum geachtet und respektiert zu werden. Sie sollten explizit für ihre eigenen Leistungen, ihren Charakter, ihre Gefühle und Erfolge anerkannt werden.

  • Verständnis: Die Geschwister müssen wissen, dass ihre Bedürfnisse und Interessen bemerkt und respektiert werden. Sie brauchen die Sicherheit, dass andere (speziell Erwachsene) ihre Probleme verstehen und bereit sind zu helfen[8].

Das Wahrnehmen, Bewerten und die daraus folgenden Reaktionen auf die Situation der Behinderung des Geschwisters sind (wie am Beginn dieses Artikels erwähnt) von den Gegebenheiten des Individuums und der Umwelt abhängig. Wenn also die Bedürfnisse und Interessen eines Geschwisters von einem Menschen mit Behinderung gestillt werden, so erhöht das die Chance, dass dadurch aktive Bewältigungsstrategien entwickelt werden. Es können im Weiteren positive Folgen auf die Gesamtentwicklung der Geschwister von Menschen mit geistiger Behinderung entstehen und der "Geschwisterbeziehung mit höherem Schwierigkeitsgrad" kann als Herausforderung begegnet werden.

Viele Geschwister von Menschen mit Behinderung berichten rückwirkend, dass sie sich von den Eltern vernachlässigt gefühlt haben und dem Geschwister mit Behinderung im Vergleich viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dazu kommt, dass sehr oft überdurchschnittliche Anforderungen und Erwartungen an die Geschwister gestellt wurden (oft auch mit dem Wunsch der Eltern begleitet, ein Leben lang für die Schwester oder den Bruder mit Behinderung zu sorgen).

Die Vernachlässigung der Geschwister spiegelt sich auch anhand des relativ geringen Literaturbestandes dazu wider (im Vergleich zu der Anzahl an Büchern über Eltern, insbesondere Mütter), aber auch an der vielen Elternarbeit (z.B.: Beratung, Eltern beraten Eltern; Seminare) im Vergleich zur Geschwisterarbeit. Letztere entwickelt sich in Österreich seit einiger Zeit vereinzelt[9], jedoch wird dieses Thema hier zu Lande noch relativ stiefmütterlich behandelt und ist noch lange nicht selbstverständlich in die gesamte Familienbegleitung miteinbezogen. In den USA hingegen gibt es ganze Organisationen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen; auch in Deutschland gibt es seit Jahren regelmäßig Geschwisterseminare bzw. ist die Geschwisterarbeit in die Familienseminare miteingebunden. Aus diesem Grunde ein Blick über unsere Grenzen.



[1] Vgl. u.a. DYSON/FEWELL 1989; HACKENBERG 1992; LÜSCHER 1997

[2] Vgl. AMANN 1987

[3] Vgl. KASZUBSKI 1998

[4] Vgl. ACHILLES 1995

[5] Vgl. KASZUBSKI 1998

[6] Vgl. u.a. SELIGMAN/DARLING 1989

[7] Vgl. POWELL 1993

[8] Vgl. u.a. HACKENBERG 1992; LOBATO 1993; MEDICUS 1984; POWELL 1993; SELIGMAN/DARLING 1989)

[9] Die Lebenshilfe Salzburg bietet als positives Beispiel einer solchen Entwicklung Geschwisterunterstützung im Rahmen der Familienberatung an. Nähere Informationen bei Frau Mag. Andrea Rothbucher unter 0662/45 82 96.

Die Geschwistertagungen von Winkelheide[10]

Durch diese Tagungen soll für Geschwister ein Platz geschaffen werden, an dem sie mit ihren Wünschen und Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen (frei von Verpflichtungen, die sie sonst haben) und sie sollen die Möglichkeit eines kompetenten Erfahrungsaustausches haben. Es wird ein Raum geschaffen, an dem sie ihre Gefühle erkennen und ausdrücken lernen. In einer Gruppe mit anderen Geschwistern von Menschen mit geistiger Behinderung zu sein (also mit Kindern, die sich in einer ähnlichen Lebenssituation befinden), heißt, dass die Behinderung des Familienmitgliedes nicht begründet oder verteidigt werden muss, alle wissen aus erster Hand Bescheid und man kann gleich zum Wesentlichen vordringen. Das Geschwister muss sich nicht mehr allein und alleingelassen fühlen.

"Verstanden im Bemühen, die Lebenssituation zu Hause mitzutragen, aber auch unumgänglich einen Ort haben zu wollen, wo das eigene Ich ohne zu große Einschränkungen gilt, sind Auseinandersetzungen, Gespräche, Ausdrucksformen möglich, die sonst verdrängt, überdeckt oder in Krankheiten und Auffälligkeiten ihren Ausdruck finden, finden müssen." (Winkelheide 1992, S. 28)

Das Konzept der Geschwistertagungen bietet die Möglichkeit, den betroffenen Kindern einen Bezugsrahmen zu geben, der die Entwicklung von schwerwiegenden Störungen verhindert (was wiederum einer späteren therapeutischen Intervention vorbeugen kann)[11].



[10] vgl. WINKELHEIDE (1992)

[11] vgl. KNEES (1992)

Die Umsetzung

a) Zielgruppe

Das Modell ist auf Geschwister von Menschen mit Behinderung ausgerichtet und für zwei Altersgruppen konzipiert:

1. 6-16 Jahre

2. 16-20 Jahre

Die Teilnehmerzahl beträgt zwischen 25 und 30 Geschwister.

b) Personal

Das Mitarbeiterteam besteht aus bis zu 10 Personen. Mitarbeiten kann jede(r) ab 18 Jahren, die meisten bisherigen MitarbeiterInnen sind StudentInnen sozialpädagogischer und lehrender Berufe. Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich auf diese Seminare ungefähr drei Jahre einzulassen, damit die Kinder immer wieder einem festen Stamm an MitarbeiterInnen begegnen.

Methode und Form der Seminare

Je nach Thema entscheiden die MitarbeiterInnen über die Wahl der Methode:

  • Rollenspiel (Standbild, längerfristig geplantes Theaterstück, etc.)

  • Schreiben einer Geschichte

  • Schreiben von Briefen

  • Gespräch (Antwort auf Fragen)

Die Geschwisterseminare finden für einen Zeitraum zwischen zwei und acht Tagen statt. Um die jeweiligen Bedürfnisse verstehen zu können, muss der strukturelle Aufbau einer jeden einzelnen Gruppe analysiert werden. Um dies zu können, sind die Teilnahme am Zusammenleben der Gruppe und das genaue Beobachten der Gruppenprozesse von großer Wichtigkeit. Nur so kann ein individuelles Eingehen auf die jeweilige Geschwistergruppe und die einzelnen TeilnehmerInnen gewährleistet werden.

Das Modell dieser Geschwisterseminare wurde in der Praxis entwickelt; grundlegend ist hier nicht ein theoretischer Ansatz, sondern das Bedürfnis von Geschwistern von Menschen mit Behinderung, sich mit ihrer Lebensform auseinanderzusetzen. Prämisse dafür ist der organisatorische Rahmen und die "eindeutige Zusage" der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der speziellen Thematik der Kinder.

Das inhaltliche Konzept wurde und wird noch immer im direkten Verlauf entwickelt - erprobt - erweitert. Form und Inhalt wachsen zu einem eigenständigen Modell.

  • Beispiele von Themenschwerpunkten der Seminare sind z.B.: Du behinderst mich, Ich bin doch auch noch da, Zeit schafft Räume, Halt - Halte mich - Halte mich aus, Stell dir vor: Ich mag ihn, Mit Olaf ist alles ganz anders, Guck mich doch mal anders an.

Auch dieses Modell erscheint uns als eine sehr sinnvolle Möglichkeit der Unterstützung von Geschwistern von Menschen mit geistiger Behinderung. Als einzigen Kritikpunkt möchten wir hier anbringen, dass bei der Auswahl der BetreuerInnen nicht darauf Wert gelegt wird, dass auch Peers (= selbst betroffene Geschwister) mit zum Team gehören, was unserer Meinung nach einen Qualitätsverlust darstellt.

Ganz anders ist diesbezüglich die Situation in den USA, dort wird dem Miteinbeziehen von Peers ein besonderer Stellenwert zugeordnet. Bei einem Studienaufenthalt in New York habe ich zwei Organisationen besucht, die sich mit der Unterstützung von Geschwistern beschäftigen. Auch dort ist man auf die Geschwisterunterstützung erst über die Arbeit mit Menschen mit Behinderung gekommen, indem die Notwendigkeit erkannt wurde, alle Familienmitglieder in den Prozess rund um den Menschen mit Behinderung einzubeziehen. Daraus folgend wurde die oftmalige Vernachlässigung gerade der Geschwister aufgedeckt und somit ist die Sache ins Laufen gekommen.

Direkte Ziele sind:

  • Die Unterstützung von Geschwistern (Treffen der Peers, Erfahrungsausstausch, etc.)

  • Die Elternaufklärung (wie Geschwister unterstützt werden können, deren Probleme, Bedürfnisse, etc.)

  • Das Setzen von Aktivitäten (z.B.: Zur Zeit des Studienaufenthaltes war gerade ein Buch in Arbeit, an dem verschiedene Mitglieder arbeiteten).

Mit folgenden spezifischen Methoden werden die Ziele zur Umsetzung gebracht:

  • Gruppentreffen der Mitglieder (vier mal pro Jahr); es wird über emotionale und familiäre Fragen gesprochen.

  • Regelmäßige Informationsverbreitung an die Mitglieder.

  • "Direkter" Service wie Beratung und Krisenintervention; "peer support (= Unterstützung durch Geschwister, die in einer ähnlichen Situation sind)".

  • Konferenzen und Workshops zu verschiedenen Themen.

  • Auflegen einer Liste mit Psychologen, Krankenhäusern, Geschwistern (peers) zum Weitervermitteln (wenn der "peer support" nicht ausreicht).

  • Gebührenfreie Telefonnummer, die vom ganzen Bundesstaat aus erreichbar ist.

  • computer network (Vernetzung und Informationsaustausch übers Internet)

  • Produktion von Videos, Filmen, Multi-Media Präsentationen und Theaterprogrammen in Dokumentarform, um die Gesellschaft auf die Bedürfnisse der Familien mit einem Kind mit Behinderung aufmerksam zu machen.

  • Organisieren von sozialen Aktivitäten, bei denen Geschwister, Verwandte mit Behinderung, Eltern, Professionelle und andere Interessierte eine Möglichkeit haben, sich unbefangen zu treffen, voneinander zu lernen und den entstehenden Prozess genießen zu können (z.B.: Geschwistertag in einem Park).

  • Vermitteln von Geschwistern, die an verschiedenen Orten Vorträge halten und dadurch Aufklärungsarbeit leisten (zum Beispiel in Schulen, Krankenhäusern, aber auch Einzelgespräche).

  • Angebot von "adult sibling support groups", d.h. eine Gesprächsgruppe für erwachsene Geschwister. Diese Zusammenkünfte finden seit 1982 einmal im Monat statt. Laut den Organisatoren dieser Gruppen wurde zu Beginn ein Konzept eines geschlossenen Gruppenmodells verwendet, doch dieses hat sich nicht bewährt (Gründe dafür sind leider nicht eruierbar). Daraus folgend wird nun die Geschwisterrunde als "siblings-run" durchgeführt. In dieser Form ist keine professionelle Leitung beteiligt, sehr wohl aber nimmt ein(e) MitarbeiterIn teil, um bei gröberen Problemen und "Sackgassen" eingreifen zu können. Den erwachsenen Geschwistern steht es frei, wie oft und regelmäßig sie zu den Treffen kommen wollen. Es wird gemeinsam über Probleme und Erfahrungen gesprochen.

  • Einladen von GastreferentInnen (ExpertInnen), um die Geschwister zu informieren bzw. neuen Diskussionsstoff zu liefern.

  • Die Mitglieder bleiben anhand einer gemailten Zusammenfassung jedes Meetings in Kontakt, außerdem enthält das Mail Informationen über zukünftige Veranstaltungen, Treffen und Programme.

  • Weiters werden unregelmäßige Konferenzen in allen Teilen von New York City organisiert, welche jeweils unterschiedliche Themen fokussieren. Die Konferenzen bilden eine Mischung aus Vorträgen und Arbeitsgruppen, an welchen alle Mitglieder teilnehmen können. Beispiele für bisher behandelte Themenbereiche sind: - Teamwork .- in der Familie - Zukunftsplanung - Erfahrungen von Geschwistern als Babysitter - Familie und professionelle Partnerschaften

Auch Mayer/Vadasy[12] haben ein Konzept entwickelt ("Adult Sibling Programs"), in dem sie erwachsene Geschwister von Menschen mit Behinderung zu einem Gespräch zusammenführen und so für alle Beteiligten Lernprozesse in Gang gesetzt werden können. Es sollen hier einige Beispiele für die Umsetzung dieses Konzeptes gebracht werden:

  • Andere erwachsene Geschwister von Menschen mit Behinderung treffen sich sowohl formal als Diskussionsgruppen als auch informal wie z.B. zu sozialen Ereignissen. Ziel ist es, gemeinsame Freuden und Bedürfnisse mit der Peergruppe zu teilen.

  • Besprechen der Auswirkungen der Tatsache, ein Kind mit Behinderung als Familienmitglied zu haben.

  • Die TeilnehmerInnen können über die Dynamik in der Familie, in der sie aufgewachsen sind, und über die daraus resultierende Anpassung an die Behinderung diskutieren.

  • Diskutieren über die Beziehungen Kind mit Behinderung und Geschwister.

  • Anbieten eines "offenen Ohres" für Geschwister, die gerade eine Krise mit ihrem Geschwister durchmachen und diskutieren darüber in der Gruppe.

  • Aufklärung über diverse Programme und Servicestellen für die Geschwister mit Behinderung.

  • Lernen, wie andere Geschwister mit Problemen umgegangen sind und das Anbieten von Lösungsstrategien.

  • Informationen über die Möglichkeiten der Zukunftsplanung für Geschwister.

  • Besprechen der Situation, wenn die Eltern einmal nicht mehr für das Geschwister mit Behinderung sorgen können und die Verantwortung bei dem Geschwister liegt.

  • Diskutieren der Sachwalterschaft.

Wichtig erscheint uns, an dieser Stelle explizit anzumerken, dass nicht unterschiedliche Behinderungen und Erkrankungen "über einen Kamm geschert" werden, denn sonst geht der eigentliche Sinn von Peer-Unterstützung verloren. In den USA gibt es z.B. eine Organisation, die sich mit unterschiedlichen "Geschwistern" beschäftigt, d.h. Zielgruppe sind Geschwister von Menschen mit Behinderung, Aids, Krebs, usw.. Unserer Meinung nach gilt es darauf zu achten, dass sich die Geschwister gegenseitig weiterhelfen können und das ist nur möglich, wenn sie möglichst ähnliche Erfahrungen haben (z.B. deren Geschwister eine geistige Behinderung haben). Die oben beschriebenen Zusammenkünfte basieren auf der Form der Selbsthilfegruppe; sie finden in ungezwungener Atmosphäre statt und haben zum Ziel, Erfahrungen auszutauschen und Probleme in der Gruppe zu diskutieren.

Die Umsetzung der Modelle aus den USA finden wir beispielgebend und als Ansatz für eine flächendeckende und umfassende Unterstützung der Geschwister von Menschen mit Behinderung in Österreich sinnvoll. Ein weiteres Konzept, dass unseren Blick auf sich gezogen hat, soll im nächsten Abschnitt dieses Artikels beschrieben werden.



[12] MAYER/VADASY (1994)

Familienseminare nach Winkelheide

Das Konzept von Marlies Winkelheide, Seminare für Familien mit einem Kind mit Behinderung für die gesamte Familie anzubieten, erscheint uns als geeignete Form dafür, die nicht behinderten Geschwister in einen Prozess der Begleitung und Unterstützung miteinzubeziehen. Diese Seminare werden jeweils zu einem Themenschwerpunkt angeboten und haben die im Folgenden genannten Ziele:

  • Jedem Familienmitglied sollen persönliche Auseinandersetzungsmöglichkeiten geboten werden.

  • Gesellschaftspolitisch wird die Aussage gemacht, dass Familien mit einem Kind mit Behinderung von öffentlichen Bildungsangeboten nicht ausgeschlossen sind.

  • Es wird nach einem Weg gesucht, der den besonderen Bedürfnissen entspricht; je länger ein Kind mit Behinderung im Familienverband leben kann, desto eher ist ein "normales" Leben gewährleistet.

  • Durch die früh einsetzende Begleitung der Familie soll eventuellen pathologischen Phänomenen (wie Nicht-Loslassen-Können des "erwachsenen Kindes", eine zu lange andauernde Symbiose zwischen Eltern und Kind, usw.) entgegengewirkt werden[13].



[13] vgl. Lebenshilfe Österreich 1994, S.1ff

Beispiel für eine Umsetzung

2-tägiges Seminar mit dem Titel "Ich bin doch auch noch da"

Das Seminar richtete sich an die gesamte Familie: Kinder mit Behinderung, deren Eltern und Geschwister. Raum war für 10 Familien, die ReferentInnen für die Elterngruppe und 4 MitarbeiterInnen, die mit der "Kindergruppe" arbeiteten. Es gab Angebote für die gesamte Familie, aber auch solche, wo die Kinder mit ihren BetreuerInnen unter sich Themen behandelten.

Unserer Meinung nach handelt es sich hier um eine optimale Form der Begleitung und Unterstützung der gesamten Familie und somit auch der Geschwister. Ein gemeinsames positives Erleben eines solchen Wochenendes kann das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Familienmitgliedern fördern. Es werden aufkommende Probleme unter professioneller Mithilfe besprochen und nach Lösungsmöglichkeiten gesucht, was unter anderem auch eine positive Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern fördert.

Der gemachte Überblick über mögliche Geschwisterangebote zeigt die verschiedenen Facetten einer solchen; generell sind alle genannten Möglichkeiten ein Weg zu einer positiven Unterstützung von Schwestern und Brüdern von Menschen mit geistiger Behinderung. Auch sind die genannten Beispiele mit relativ wenigen finanziellen Mitteln in die in Österreich übliche Elternberatung und -unterstützung zu integrieren. Begonnen werden soll damit unserer Meinung nach so früh als möglich, d.h. schon vom Kleinkindalter an und auf allen Ebenen: Elternaufklärung (Aufmerksammachen der Geschwisterproblematik), Peergruppe (Anbieten von Gesprächsgruppen für jedes Alter) und die individuelle Beratung der Geschwister von Menschen mit geistiger Behinderung, damit der Herausforderung "Geschwisterbeziehung" mit potentiell höherem Schwierigkeitsgrad mit größtmöglicher Offenheit begegnet werden kann.

Autoren

Mag. Linda Kaszubski[14], Studium der Pädagogik und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsstipendium für N.Y. im Rahmen der Diplomarbeit zum Thema "Geschwister von Menschen mit Behinderung". Heute tätig im Bereich der Personal- und Organisationsentwicklung in Wien.

Dr. Gottfried Wetzel, derzeit Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Salzburg mit den Schwerpunkten Integrative Behindertenpädagogik und Vorschulerziehung; davor beim Mobilen Hilfsdienst Salzburg und Verein Miteinander Linz.



[14] Die Autorin ist Mitglied einer Selbsthilfegruppe von Geschwistern von Menschen mit geistiger Behinderung in Wien. InteressentInnen bitte unter Lkaszubski@aol.com bzw. 0664/24 12 007 weitere Informationen anfordern.

Literatur

Achilles, Ilse (1995). "...und um mich kümmert sich keiner". Die Situation der Geschwister behinderter Kinder. München, Zürich: Piper Verlag.

Amann Wiebke et.al. (1987). Geschwistergeschichten. Mein Bruder ist behindert - Meine Schwester ist behindert. Oldenburg: Universitätsbibliothek.

Dyson Lily; Fewell, Rebecca R. (1989). The Self-Concept of Siblings of Handicapped Children: A Comparison. In: Journal of Early Intervention, 13/1989, 3, S. 230-238.

Hackenberg, Waltraud (1992). Geschwister behinderter Kinder im Jugendalter: Probleme und Verarbeitungsformen; Längsschnittstudie zur psychosozialen Situation und zum Entwicklungsverlauf bei Geschwistern behinderter Kinder. Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess.

Kaszubski, Linda (1998). Geschwister von Menschen mit geistiger Behinderung. Die Auswirkungen und mögliche Unterstützungsmaßnahmen. Universität Salzburg: Diplomarbeit.

Knees, Charlotte (1992). Blickwinkel oder Standpunkt. In: Winkelheide, Marlies. Ich bin doch auch noch da. Aus der Arbeit mit Geschwistern behinderter Kinder. Bremen: Trialog Verlagsgesellschaft, S. 97-114).

Lebenshilfe Österreich, Dachverband für Menschen mit geistiger Behinderung (Hrsg.) (1994). FBI Nachrichten. Mitteilungen des Fortbildungsinstitutes der Lebenshilfe Österreich. Schwerpunktthema "Familienseminare". Wien: Lebenshilfe Österreich.

Lobato, Debra J. (1993). Brothers, Sisters and Special Needs. Information and Activities for Helping Young Siblings of Children with Chronic Ilness and Developmental Disabilities. Baltimore, Maryland: Paul H. Brookes Publishing Coopteration.

Meyer Donald J.; Vadasy, Patricia F. (1994). Sibshops: Workshops for Siblings of Children with Special Needs. Baltimore, Maryland: Paul H. Brookes Publishing Cooperation.

Medicus, Rose D. (1984). Adult Siblings - The Forgotten Ones. In: Meyer, S. (1984). Siblings, Parents and Professionals. Working together to Advance Knowledge and Service. New York: Hunter College of the City University of New York, S. 7-14.

Powell, Thomas H. (1993). Brothers and Sisters. A Special Part of Exceptional Families. Baltimore, Maryland: Paul H. Brookes Publishing Co..

Seligman, Milton; Darling, Rosalyn B. (1989). Ordinary Families, Special Children: A System Approach to Childhood Disability. New York: The Guildord Press.

Winkelheide, Marlies (1992). Ich bin doch auch noch da. Aus der Arbeit mit Geschwistern behinderter Kinder. Bremen: Trialog Verlagsgesellschaft.

Quelle:

Linda Kaszubski, Gottfried Wetzel: Schönes schweres Miteinander. Geschwister von Menschen mit Behinderung

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 2/00; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.01.2007

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