Eine Schule für alle inmitten von Ausgrenzung

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/99. Thema: Schule ohne Grenzen Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/1999)
Copyright: © Josef Fragner 1999

Die Ausgrenzung ist alltäglich

In mancher Euphorie und kleinlicher Sichtweise reflektieren wir nicht die gravierenden ökonomischen und sozialen Prozesse in den 90iger Jahren. Wir wollen wahrscheinlich nicht sehen, wie tiefgreifend die kulturelle Deformation der Integration durch die neoliberale Rechtfertigung der Begabungseliten ist. Neue amerikanische Publikationen vertreten wieder die These vom vererbten Intelligenzquotienten und den darauf gegründeten gesellschaftlichen Eliten. Einseitige erbbiologische Sichtweisen bezüglich Intelligenz scheinen wieder zunehmend Akzeptanz zu finden.

Der biologische Reduktionismus streut seine Versprechungen aus. Den Geisteswissenschaften wird durch die Naturwissenschaften ein wahrhaft verführerischer Weg gewiesen zur Wurzel der Objektivität. Hinter dem Geist stehe schließlich das Gehirn, und was sei dies anderes als ein Knäuel verschalteter Neuronen? Der Schaltplan liege in den Genen vorprogrammiert und alles Menschliche könne in adaptive epigenetische Regeln aufgelöst werden. Für die Geisteswissenschaften ist dieser verführerische Traum ein alter Bekannter, denn auf ihm liegt der dogmatische Schimmer der Theologie. Doch dieser glänzende Zaubertrick macht die Würde des Menschen antastbar. Sobald der Mensch - etwa durch die Unterscheidung Person und Nicht-Person - quasi zu einem Ding gemacht wird.

Solche Weltbilder liefern die willkommene, ideologische Begründung für den Sozialabbau und für den überhöhten Selbstwert der Erfolgreichen in unserer Gesellschaft. Und die Politik kann immer lauter die als überholt angenommenen restriktiven und selektiven Maßnahmen der Vergangenheit als Lösung für die Zukunft anpreisen. Lohnnebenkosten erscheinen als unnötige Standortkosten. Diese Kosten für Gesundheit, Bildung, Alter, Soziales sollen von der Solidargemeinschaft ins Private transformiert werden, so der Zeitgeist neoliberaler Gesellschaftspolitik. Abbau des Sozialstaates und Massenarbeitslosigkeit sind alltäglich.

"Wo die Maximen des Handelns zu Maximen des Handels geworden sind, entfalten die Schubkräfte des Ellbogens ihre gesellschaftliche Wirkung. Wo der Eigennutz kommerziellen Gewinns regiert, bleibt Solidarität auf der Strecke. Wo politische Ranküne Mehrheiten sucht, fallen Minderheiten durch den Rost. Wo Erfolge in Zahlen gemessen werden, enthält der Erfolglose den Stempel der Unzahl" (E. Breisach)

Diese düsteren Zukunftsszenarien könnten wir noch weiter ausbauen, dennoch sind viele junge Menschen entschlossen, Berufe und Tätigkeiten anzustreben und auszuüben, um solche negativen Entwicklungen zu verhindern. Sie wollen sich nicht als ohnmächtige Zuschauer des Geschehens, sondern als verantwortliche Mitgestalter begreifen. Bilden diese Menschen eine Gegenkraft oder sind sie noch der letzte Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält?

Pierre Bourdieu zeigt in seinem Buch "Gegenfeuer" (1998), dass die neoliberale Invasion deshalb die einzelnen Gemeinschaften noch nicht in einsame, aber verlorene Individuen auseinandersprengt, weil sie auf eine praktische Gegenkraft trifft, auf einen bestimmten Habitus, der jenen Akteuren und deren Institutionen eigen ist, die in allen möglichen sozialen Berufen arbeiten und die verhindern, dass die ganzen gesellschaftlichen, familiären und anderen Solidaritäten zerbrechen und die Gesellschaft in Chaos versinkt. Wer sich auf diesen praktischen Widerstand gegen den ausartenden Kapitalismus einlässt, muss einerseits mit der symbolischen Abwertung seiner eigenen Arbeit rechnen und braucht auch einen Handlungsspielraum, den die Politik zurückgewinnen muss, um den zerstörerischen Wirkungen der Geldmächte entgegenzusteuern.

Die Vision einer Schule für alle ist sichtbarer

Auf die Kräfte der Ausgrenzung trifft die integrationspädagogische Bewegung. Als pädagogische Idee zielt Integration nicht nur auf organisatorische Maßnahmen ab, sondern es geht um die Vision einer humanen Schule, die für alle Kinder integrationsfähig ist und die Gleichwertigkeit und Würde jedes Kindes bei unterschiedlichster Leistungsfähigkeit Realität werden lässt. Wir fragen ausschließlich nach der Integrationsfähigkeit der Schule (nicht der Schüler!). Es gibt nur eine integrationsfähige Schule und Gesellschaft, nicht aber integrationsfähige Schüler. Ob sich unsere (Grund-)Schule in integrative Richtung oder selektive Richtung weiterentwickeln soll, ist nicht nur eine pädagogische, sondern vorwiegend eine bildungspolitisch begründete Entscheidung.

Drei wesentliche Aufgaben heutiger (Grund-) Schularbeit stehen außer Zweifel (vgl. Faust-Siehl u. a. 1996, 14ff):

Der Grundschule kommt heute die Funktion einer gesellschaftlichen Basisinstitution zu: Für die Zeit des Schulbesuches ist sie die zentrale Lebens- und Lernstätte der Kinder. Die Verpflichtung zum Schulbesuch auf Seiten der SchülerInnen entspricht daher auf der anderen Seite einer Verpflichtung der Schule zur umfassenden Sorge für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Diese Sorge umfasst Bildung und Erziehung der Kinder und schließt psychische und physische Gesundheit ein. Die Schule ist insofern nicht nur eine Unterrichts-, sondern ganz unvermeidlich eine sozialpädagogische Institution.

Lernen in der Gemeinschaft mit anderen ermöglichen

Die Schule soll die Individualität der Kinder achten und ihren Gemeinsinn entwickeln, sie soll Geborgenheit und Herausforderungen bieten, das Heimischwerden in der eigenen Kultur unterstützen und Offenheit für fremde Menschen, Erfahrungen und Kulturen fördern und ausbilden. Dies ist der erzieherische Auftrag der Grundschule. Keine andere Institution kann diesen Auftrag übernehmen.

Aneignung der Welt ermöglichen

Die Schule hat ferner den Auftrag, die vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen der Kinder aufzugreifen, zu differenzieren und zu erweitern. Sie soll den SchülerInnen die für unsere Kultur grundlegenden Formen des Dialoges, der Interpretation und Gestaltung der Welt erschließen und die dazu erforderlichen Kompetenzen ausbilden. Dies ist der Unterrichtsauftrag der Schule.

Demokratie erfahrbar machen

Als pädagogische Einrichtung in einer demokratischen Gesellschaft hat die Schule schließlich den Auftrag, ihre SchülerInnen zur Mitgestaltung der gemeinsamen Angelegenheiten zu befähigen und zu ermutigen. Dies ist der staatsbürgerliche Auftrag der Schule. In der Schule zu unterrichten heisst in diesem Sinne, die Kinder zu ermutigen, Fragen an die Welt zu richten - insbesondere auch solche Fragen, die sie ohne die Anregung der Schule vermutlich kaum stellen würden - und diese Fragen in der Auseinandersetzung mit den Sachen zu klären.

Die Schule kann die Kinder nicht länger an vorgegebene Wahrheiten heranführen und vorgegebenen Weltinterpretationen unterwerfen, sondern muss verstärkt die Selbstaneignungskräfte der Kinder fördern, ihnen helfen, sich im Dialog mit den MitschülerInnen die Welt selber anzueignen, um den Erwartungen der Zukunft auf der Basis umfassender Könnenserfahrung mit Selbstbewusstsein und Souveränität entgegensehen zu können.

Auf Grund vieler Erfahrungen kennen wir auch schon wesentliche Bestandteile einer integrationsfähigen Schule (vgl. P. Heyer 1998, 209 ff):

Gemeinsamkeit - Individualisierung - Differenzierung

Das Schulleben und der Unterricht müssen dem Gemeinschaftsleben genügend Raum geben. Gelegenheit zum gemeinsamen Tun, die Übernahme von Verantwortung für sich und die Gruppe fördern die Sozialkompetenz. Bei allen Beteiligten - auch bei den Eltern - sollte die Einsicht gefördert werden, dass die schulische Förderung der sozialen Entwicklung für die Zukunft der Kinder ebenso wichtig ist wie die Erweiterung ihres Wissens und Könnens.

Gleichzeitig muss die Verschiedenheit der Kinder akzeptiert und zur Grundlage des gemeinsamen Lernens gemacht werden. Die Normalität dabei ist, dass Kinder einer Lerngruppe unterschiedlich weit kommen. Sozial wichtig ist, dass das Kind in der Grundschulzeit Teil einer verlässlichen Bezugsgruppe ist, in der die Gruppen-mitglieder aneinander interessiert sind, ihre Erfahrungen austauschen und sich füreinander verantwortlich fühlen.

Die wichtigste Hilfe für das Kind mit besonderem Förderbedarf ist die Normalität der Situation, das miteinander und voneinander Lernen, die daraus entstehenden vielfältigen Anregungen für die eigene Entwicklung. Dabei muss ein kindorientierter, binnendifferenzierender Unterricht durch spezifische Hilfen ergänzt werden. Die Hilfen werden dabei dort angeboten, wo sie gebraucht werden.

Eigenverantwortung - Fehler - Bewertung

Einengende Lenkung durch Belehrungsunterricht behindert handelndes Lernen - dies gilt für lernstarke Kinder wie für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Beide Gruppierungen brauchen einen Unterricht, der sie von Anfang an in die Verantwortung nimmt. Die Kinder müssen Subjekt ihrer Lernentwicklung und nicht Objekt der Belehrung werden.

Lehrerinnen und Lehrer werden dabei zu einem

  • Begleiter der kindlichen Gesamtentwicklung;

  • Berater des Kindes bei der Entscheidung für seine eigenen vorrangigen Lernziele;

  • Erwachsenen, der das Lernen jedes einzelnen Kindes als seine Aktivität ernst nimmt und die Anstrengungen des Kindes und seine Lernfortschritte würdigt;

  • Lotsen, der dafür sorgt, dass das Kind beim Lernen nicht in Untiefen gerät und Kurs behält.

Die Diffamierung des Fehlers ist eine pädagogische Erbsünde. Fehler gehören zum Lernen. Sie sind Voraussetzung jeglichen Lernfortschritts. Die Fehlervermeidung drängt den Lernenden in eine lernhemmende Passivität. In einer Schule, in der das Lernen der Kinder als ihre Aktivität verstanden wird, brauchen die Kinder einen Unterricht, in dem sie ohne Angst vor Sanktionen und negativen Bewertungen Fehler machen und sich mit ihren Fehlern auseinander setzen können. Jeder Fehler ist eine Lernchance, wenn der Lernende ihn wahrnimmt, zu ihm steht und als Lernanlass nutzt. Fehler können helfen zu erkennen was richtig bzw. richtiger ist.

Das Verfahren, die Lernentwicklung der Kinder und ihre Leistungen in den verschiedenen Lernbereichen durch Ziffern zu bewerten, ist allein deshalb schon ungeeignet, weil eine Ziffer nicht die individuelle Lernentwicklung und den normativen Vergleich ausdrücken kann - abgesehen von pädagogischen Argumenten. Es gibt längst bessere und lernfördernde Formen der gegenseitigen Verständigung über die individuelle Lernentwicklung der Kinder.

Schule - Lebenswelt - Kooperation

Die Schule muss auch räumlich zu einer Lebens- und Lernstätte werden, in der sich alle - Kinder wie Erwachsene - wohl fühlen und aktives, forschendes Lernen stattfinden kann. Schulen brauchen mehr Platz

  • für differenzierendes Arbeiten in grossen oder kleinen Gruppen;

  • für das Sich-zurückziehen-können des Einzelnen;

  • für spezifische Erfordernisse;

  • für das über den Unterricht hinausgehende Schulleben;

  • für die vielfältigen Kommunikations- und Kooperationsaufgaben der Lehrerinnen und Lehrer.

Gemeinsamer Unterricht muss sich der außerschulischen Lebenswelt aller Kinder öffnen und ihre Alltagserfahrungen und -erlebnisse, ihre Ängste und Wünsche in das Unterrichtsgeschehen einbeziehen. Eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Eltern ist dabei unerlässlich.

Kooperation ist mit Ängsten, aber auch mit Entlastung und stärkerer Berufszufriedenheit verbunden. Für die Kinder ist diese Zusammenarbeit von Erwachsenen oft ein selten wahrnehmbares Modellverhalten.

Gemeinsame Grundhaltung

Die gemeinsame Klammer ist eine integrative Grundhaltung möglichst aller Beteiligten.

Es sollte ein möglichst breiter Konsens darüber bestehen, warum es für alle Kinder wichtig ist, trotz aller Unterschiede in ein und derselben Schule gemeinsam leben und lernen zu können, und es pädagogisch keinen Sinn macht, Kinder nur deshalb voneinander zu trennen, weil sie unterschiedlich gut lernen oder differenziert in ihrem Lernen zu unterstützen sind.

Um diese gemeinsame Grundhaltung aufzubauen, ist vorwiegend an drei grundlegenden Bereichen verstärkt anzusetzen. Einige Punkte zu einem neuen pädagogischen, didaktischen und ethischen Paradigma seien skizzenhaft angeführt:

Vom Ideal zur Vielfalt

Zentrale Vorstellungen moderner Pädagogikkonstruktionen sind geprägt von Idealvorstellungen vom Menschen. Der Mensch sei grundsätzlich unbestimmt und nur durch Erziehung könne er zur Selbstbestimmung, Autonomie, Ichstärke und Vernunft geführt werden.

Diese Idealvorstellungen sind durch eine Pädagogik der Vielfalt zu ersetzen (vgl. Fragner 1999).

Die Pädagogik soll den Menschen als eine wissende, verletzliche, abhängige, sterbliche Person ansehen, die sich wiederfindet in der Differenz dieser Existenzweisen. Menschen sind nicht zu reduzieren auf nur einen elitären Aspekt. Die Vielfältigkeit unserer Person anzuerkennen, auch dem Anderen zuzugestehen, verändert in der Folge Vorstellungen von Erziehung und Bildung und könnte erlauben, ein Miteinander aller Kinder im gemeinsamen Bezug auf eine Sache pädagogisch zu legitimieren.

In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Landschaft ist eine faszinierende Parallelität im Hinblick auf ein neues Subjektverständnis zu beobachten. In den Horizont des Denkens rückt die Konstruktion der Welt durch die Autopoiesis des Subjekts. Wahrnehmungen und mentale Prozesse geschehen im Zeichen der Kognition, einer Kognition, die kennzeichnend für alle lebenden Systeme ist. Das Subjekt hat seinen Ort, hat seine Relevanz, aber es ist keine Instanz, die die Welt nach ihrem Belieben gestalten könnte. Es konstruiert unablässig Wirklichkeiten, und insofern dies auch bei allen anderen Subjekten der Fall ist, ist die Universalität des Prozesses gegeben, dessen Materialien und Inhalte sind jedoch nicht universalisierbar, sondern sie machen es notwendig, dass zwischen den Subjekten konsensuell Aktivitäts- und Handlungsmuster konstruiert werden. Diese neuen Perspektiven der Subjekttheorie zeichnen sich durch ein Verständnis aus, das die Pluralitäten selbstreferentieller Welterzeugungen einem monologisierenden Einheitssubjekt entgegenhält

Die dualistischen Trennungen sind Strategien der Übereilung, der Willkür und der Zwanghaftigkeit. Sie sollten abgelöst werden durch die Klärung der unterschiedlichen Aufgaben und Zugänge im inneren wie im äußeren Miteinander.

In der Pädagogik der Vielfalt geht es nicht um das Umsetzen abstrakter Normen für abstrakte Menschen, die im Menschenmöglichen gemessen werden. "Es geht vielmehr um das Erfahren des Menschen in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit, um das individuelle und soziale Erfahren von Können und Nichtkönnen, von Stärke und Schwäche, von Freude und Leid, von Gleichheit und Verschiedenheit, von Gemeinsamkeit und Trennung, von Sich-Annähern und Sich-Abgrenzen. Es geht um die Bildung der Individualität in intersubjektiven Situationen, um die Entwicklung "der autonomen Lebenskraft des Subjektes." (F. Klein, 1997, 211)

Vom Besonderen zum Allgemeinen

Georg Feuser (vgl. u.a. 1998, 1999) wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass wir uns durch die enorme didaktische Abstinenz auf unterrichtsorganisatorische und methodische Strategien der Integration beschränken. Dabei darf keineswegs die Gefahr übersehen werden, dass individuelle Curricula oft zu Maßnahmen der äußeren Differenzierung führen. Integration erfordert aber eine Allgemeine Pädagogik und eine entwicklungslogische Didaktik.

Viele Ansätze sind im Bereich der "Behindertenpädagogik", aber auch in der "Regelpädagogik" - speziell im Allgemeinbildungskonzept Klafkis - schon angedacht. Didaktik sieht Feuser als einen erziehungswissenschaftlichen Operator, der Bildungs- und Gesellschaftsfragen in konkrete Erziehungs- und Unterrichtspraxis transformiert und diese Erfahrungen wieder in die erziehungswissenschaftliche Reflexion und Theorienbildung einbringt. Klafki bietet dazu die Momente der "doppelseitigen Erschließung", die Kategorien des "Elementaren" und "Fundamentalen" und die Konzentration auf "epochaltypische Schlüsselprobleme" an.

Der Mensch erschließt sich die Welt in aktiver Auseinandersetzung mit ihr. In gemeinsamer Kooperation erschließt sich der Mensch die Dinge durch den Menschen und sich den Menschen über die Dinge. (Subjektiver) "Sinn" und "Bedeutung" sind dabei die führenden motivbildenden Ebenen, hinter denen seine Bedürfnisse und Emotionen stehen. "Was wir an einem Menschen wahrnehmen und als Behinderung klassifizieren, ist also von ihm selbst hervorgebracht worden, aber nicht aus ihm heraus entstanden" (G. Feuser).

Das didaktische Zentrum pädagogischer Praxis ist die "kooperative Tätigkeit am gemeinsamen Gegenstand" der Lehrenden und Lernenden, aufbereitet in "innerer Differenzierung durch Individualisierung".

So notwendig die Entwicklung einer "Allgemeinen Pädagogik" für die Integration erscheint, so sehr haben wir uns - gerade durch ein neues Subjektverständnis - in den methodischen Absichten von einem bruchlosen Zusammenhang zwischen pädagogischer Absicht und Wirkung beim Kind zu verabschieden. Das Scheitern der Kinder an gestellten Absichten soll zu einem Überdenken von methodischen Vorstellungen anregen, die in folgende Richtung gehen könnten:

  • Die Auswahl des Unterrichtsmaterials wird verbindlicher, insofern sie auf die konkrete Situation unserer Kommunikation bezogen bleibt.

  • Der Erzieher hört eher zu, als dass er selbst spricht.

  • Das Sprechen über die gemeinsame Kommunikation mit Dritten als Reflexion, Fallbesprechung, Bericht benennt eher mein Nichtverstehen.

  • Der Erzieher spricht nicht voraus, sondern antwortet eher.

Ein solches Vorgehen muss sich gerade in den Irritationen, in der Sprachlosigkeit und im Unverstandenen bewähren.

Vom Mitsein zum Fürsein

Zygmunt Baumann (1992, 1995, 1997) weist in eindrücklicher Weise nach, dass der Übergang von persönlicher Verantwortung in technisch-formale Verantwortung die Greuel der Moderne ermöglichte. Der traditionelle Zivilisationsbegriff wird getragen von einer großen Koalition wissenschaftlich-intellektueller Lehrmeinungen, zu der die liberal-konservative Vorstellung vom glorreichen Ringen zwischen Vernunft und Aberglauben zählt; Max Webers Konzept von der Zweckrationalität, die immer mehr mit immer weniger Aufwand erreicht, das psychoanalytische Versprechen, das Animalische im Menschen zu entlarven, zu packen und zu bändigen; die Marx'sche Prophezeiung, Leben und Geschichte würden schließlich, seien die Beschränkungen der Produktivkräfte nur erst abgeworfen, vom Menschen beherrscht; die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, die eine Verdrängung der Gewalt aus dem Alltagsleben annimmt; und nicht zuletzt die zahllosen Fachleute, die versichern, soziale Probleme könnten durch vernünftige Politik behoben werden. Im Kern stützt sich diese Allianz auf eine Vorstellung vom "Gartenstaat", die die regierte Gesellschaft als Feld der Planung, Veredelung und Unkrautvernichtung begreift.

In seinem Buch "Postmoderne Ethik" (1995) versucht Zygmunt Baumann aufzuzeigen, dass der Zusammenbruch bestimmter moderner Hoffnungen und Ambitionen es uns erlaubt, die wahre Natur moralischer Gegebenheiten deutlicher zu sehen als je zuvor. Der "ursprüngliche" Status der Moral sieht uns in einer Situation der moralischen Wahl. Wir sind sozusagen unentrinnbar-existenziell-moralische Wesen: Wir sehen uns der Herausforderung des Anderen gegenüber, im speziellen die Herausforderung der Verantwortung für den Anderen oder die Situation des Fürseins. Noch bevor uns autoritativ gesagt wird, was "gut" und was "böse" sei, stehen wir vor der Wahl zwischen Gut und Böse; und zwar schon im allerersten unentrinnbaren Augenblick der Begegnung mit dem Anderen. Dies bedeutet, dass wir, ob wir wollen oder nicht, unserer Situation als einem moralischen Problem gegenüberstehen. Die Einsamkeit ist dabei ein ebenso permanenter und unkündbarer Bewohner des Hauses der Verantwortlichkeit wie die Ambivalenz.

In den sogenannten postmodernen Zeiten wird das ethische Monopol des Staates nicht mehr ausgeübt (noch nicht mal mehr von ihm gewünscht) und das Angebot an ethischen Regeln im Großen und Ganzen privatisiert und den Kräften des Marktes überlassen.

Die neue Ethik sorgt sich um " den Anderen", weil sie jedoch jede Beziehung zu einem Gesetz verweigert, kann sie gnädig sein und gleichermaßen gnadenlos.

Die Postmoderne ist zugleich Fluch und Chance der moralischen Person. Und es ist ihrerseits eine moralische Frage, welches der beiden Gesichter der postmodernen Situation sich als ihr bleibendes Bildnis herausstellen wird.

Die Zeitgenossen der Postmodernen Ära sind sozusagen gezwungen, ihrer moralischen Autonomie und genauso ihrer moralischen Verantwortung Auge in Auge gegenüberzustehen. Das ist der Grund für die moralische Agonie. Das ist aber auch die Chance, die das moralische Selbst niemals zuvor hatte.

Welche Bedingungen müsste ein Zusammensein erfüllen, das nicht darauf aus ist, Distanz zu halten und die Zeit zu verkürzen; eines, das ganz und andauernd ist oder wird und dazu neigt, es zu sein? Für eine derart andere Art und Weise des Bezugs steht das Fürsein. Fürsein ist ein Sprung aus der Isolation zur Einheit; gleichwohl nicht zu einer Verschmelzung, sondern zu einer Legierung, deren Kostbarkeit allein auf der Erhaltung der Andersheit und Identität ihrer Ingredienzen beruht. In das Fürsein tritt man um des Schutzes und der Verteidigung der Einzigartigkeit des Anderen willen ein; und diese Vormundschaft, die vom Selbst als eine Aufgabe und Verantwortung übernommen wird, macht das Selbst wahrhaft einzig, im Sinne von unersetzlich; ganz gleich, wie zahlreich die Verteidiger der einzigartigen Andersheit des Anderen sein mögen, das Selbst wird von der Verantwortung nicht freigesprochen. Fürsein ist ein Akt der Transzendenz des Mitseins.

Dieser Übergang vom Mitsein zum Fürsein, von der Konvention zu Engagement und Bindung; dieses Herunterreißen der Masken, bis das nackte, wehrlose Gesicht sich zeigt und gesehen wird, wird in der Regel als das Werk der Liebe beschrieben. Ist das Reich der Moral erst einmal mit dem Reich des Fürseins identifiziert, dann ist es eingeschlossen in den Rahmen der Sympathie, der Bereitschaft zu dienen, Gutes zu tun, sich selbst um des Anderen willen zu opfern. Wachwerden für das Antlitz kommt, wie Lévinas nie müde wird zu wiederholen, einem Erschrecken gleich: den unhörbaren Hilferuf zu vernehmen, den die Verletzlichkeit und Schwäche des Anderen, offenbart in der Nacktheit des Antlitzes, ausstößt, ohne zu sprechen; diesem Erschrecken, das so überwältigend ist, dass es alle jene rationalen Erwägungen, die sich im Eigendünkel der Welt der Konventionen und Vertragsverpflichtungen baden, lächerlich unbedeutend erscheinen lässt. Die Geburt der moralischen Person ist das Gebot, das man sich selbst gibt: Er/sie ist meine Verantwortung und meine Verantwortung allein. Dies bedeutet, ich und ich allein bin für ihre/seine Integrität und für ihr/sein Wohlbefinden verantwortlich. "In dem Moment, wo ich für den Anderen verantwortlich bin, bin ich einzigartig. Ich bin einzigartig, insofern ich unersetzlich bin, insofern ich erwählt bin, zu antworten. Verantwortung wird als Wahl gelebt" (Lévinas). Moralische Verantwortung zu übernehmen bedeutet, den Anderen nicht mehr als Exemplar seiner Spezies oder Kategorie zu begreifen, sondern als einzigartig, und sich dadurch selbst zur Würde der Einzigartigkeit zu erheben.

Ein Geheimnis, notierte Max Frisch - und der Andere ist ein Geheimnis - , ist etwas Erregendes, aber man neigt dazu, dieser Erregung müde zu werden. Und so "macht (man) sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat". Ein solches Bild vom Anderen führt zur Ersetzung des Anderen durch sein Bild; der Andere ist nun ausgemacht - wie beruhigend und tröstlich. Es gibt nichts mehr, worüber man sich erregen müsste. Ich weiß, was der Andere braucht, weiß, wo meine Verantwortung beginnt und wo sie endet. Was immer der Andere nun tun mag, wird festgehalten und gegen ihn verwendet werden.

Wenn sich die moralische Beziehung auf das Zusammensein von der Art des Fürseins gründet, dann kann sie als ein Projekt existieren und dabei das Verhalten des Selbst nur solange leiten, wie ihre Natur (die eines noch nicht vollendeten Projekts) nicht verneint wird. Moral ist, wie die Zukunft selbst, ewig noch-nicht. Wir erstreben das Zusammensein unserer Einsamkeit wegen. Unserer Einsamkeit wegen öffnen wir uns dem Anderen und gestatten es ihm, sich seinerseits uns zu öffnen. Unserer Einsamkeit wegen (die im Tumult des Mitseins nur Lügen gestraft, nicht aber überwunden wird) verwandeln wir uns in ein moralisches Selbst. Und nur weil wir dem Zusammensein seine Möglichkeiten zugestehen, die allein die Zukunft enthüllen kann, haben wir in der Gegenwart eine Chance, moralisch zu handeln und manchmal sogar, gut zu sein.

Literatur

Baumann, Z.: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992

Baumann, Z.: Postmoderne Ethik. Hamburg 1995

Baumann, Z.: Flaneure, Spieler und Touristen. Hamburg 1997

Bourdieu, P.: Gegenfeuer. Konstanz 1998

Faust-Siehl, G. u. a.: Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarstufe. Frankfurt/M. 1996

Feuser, G.: Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Didaktisches Fundamentum einer Allgemeinen (integrativen) Pädagogik. in: Hildeschmidt/ Schnell (Hrsg.) 1998, 19-35

Feuser, G.: Integration - eine Frage der Didaktik einer Allgemeinen Pädagogik. in Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 22. Jg. (1999), Heft 1, im Druck

Fragner, J.: Pädagogik der Vielfalt. 1999 im Druck

Heyer, P.: Die integrationsfähige Grundschule in: Hildeschmidt A./I. Schnelle (Hrsg.) 1998, 207-222

Hildeschmidt, A.; I. Schnelle (Hrsg.): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim/München 1998

Klein, F.: Die integrative Grundschule in: A. Heinrich (Hrsg.) Wo ist mein Zuhause? Integration von Menschen mit geistiger Behinderung. Stuttgart 1997, 210-228

Lévinas, E.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg/ München 1983

Lévinas, E.: Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht. Freiburg/München 1992

Der Autor

Dr. Josef Fragner

Direktor der Pädagogische Akademie des Bundes

Kaplanhofstraße 40

A-4020 Linz

Quelle:

Josef Fragner: Eine Schule für alle inmitten von Ausgrenzung

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.07.2006

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