Damit Menschen mit Behinderung leben können wie andere und gleiche Rechte haben

Integration von Menschen mit Behinderung oder sonstigen besonderen Ausbildungsanforderungen in die Berufsschule bzw. in berufsbildende Strukturen

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1-98. Thema: Integration in Italien Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/1998)
Copyright: © Verena Wellenzohn, Werner Schwienbacher 1998

Damit Menschen mit Behinderung leben können wie andere und gleiche Rechte haben

Die Integration von Menschen mit Behinderung in die Pflichtschule hat in Südtirol wie in allen anderen italienischen Regionen und Provinzen eine nunmehr zwanzigjährige Tradition. Ein Staatsgesetz von 1977 hat dies für alle Schulen verpflichtend festgelegt und damit eine (zumindest anfänglich) unzumutbar scheinende, aber auch faszinierende Entscheidung gefällt.

Im Unterschied zur Pflichtschule, welche der staatlichen Gesetzgebung obliegt, werden die Belange der Berufsschulen durch autonome Gesetze des Landes Südtirol geregelt. Das bedeutete, daß sich die Berufsschulen vor zwanzig Jahren dem "Integrationstrend" nicht unbedingt anschließen mußten und es zunächst auch nicht taten. Die Aufnahme von Behinderten in die Berufsschule folgte aber dennoch bald: es ging nämlich nicht an, für Jugendliche mit Behinderung, die acht Jahre lang in der Pflichtschule integriert waren, als einzige weiterführende Möglichkeit einen Platz in der Behindertenwerkstätte vorzusehen. So entstanden dann angeregt durch eine überzeugte Elternbewegung zwischen 1983 und 1988 die Berufsfindungs- und Sonderkurse an den Berufsschulen. Anfänglich noch isoliert von den anderen beruflichen Ausbildungslehrgängen und ohne Möglichkeit einer betrieblichen Ausbildung, haben sich diese Kurse zum bewährten Berufsbildungsinstrument nicht nur für viele Jugendliche mit Behinderung, sondern auch für solche mit großen Lernschwierigkeiten, Entwicklungsrückständen entwickelt.

Wie sehen nun diese Berufsfindungs- und Sonderkurse aus? Sie gliedern sich in zwei Teile, in den Berufsfindungskurs (ein Jahr) und in den Sonderkurs (zwei Jahre) und richten sich hauptsächlich an jene Jugendlichen mit Behinderung (es kann sich hierbei um eine geistige, körperliche, psychische, Lern- oder Mehrfachbehinderung handeln), die trotz ihrer psychophysischen oder sozialen Behinderung durch eine gezielte Unterstützung Chancen haben, einfache Arbeitstätigkeiten und -abläufe zu erlernen und durchzuführen. Voraussetzung für die Einschreibung in den Berufsfindungskurs ist die Erfüllung der Schulpflicht (auch ohne Abschluß) und ein psychologisches Gutachten bzw. eine Funktionsdiagnose. Die Hauptaufgabe des Berufsfindungskurses ist die berufliche Abklärung der SchülerInnen. Dieser Aufgabe kann aber nur nachgekommen werden, wenn auch gleichzeitig die Schülerpersönlichkeit gestärkt und die Selbständigkeit gefördert wird. So wird in diesem ersten Jahr zunächst einmal festgestellt, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten die Jugendlichen aufweisen, wie es um ihre psychische und physische Belastbarkeit steht, welche Schwächen vorhanden sind und welche Berufswünsche und -interessen geäußert werden. Am Ende dieser dreimonatigen Erfassungsphase wird dann für jede/n einzelne/n ein Programm erstellt, welches schulische und berufspraktische Inhalte umfaßt.

Siegfried erzählt über sich im Berufsfindungskurs

"Ich heiße Siegfried (und) bin 18 Jahre alt. Meine rechte Körperseite stellt eine spastische Tetraparese dar und ich kann somit nicht alleine gehen. Ich besuche heuer den Berufsfindungskurs in der Berufsschule von Bruneck, der mir viel Spaß macht. Die Fächer im Berufsfindungskurs sind Fachkunde Holz, Fachkunde Metall und Ton, Religion, Italienisch und EDV. Ich bin im Grundlehrgang B Handwerk im 2. Stock in folgenden Fächern: Deutsch, Fachrechnen Geometrie, Italienisch, Religion und Gemeinschaftskunde integriert. Ich habe auch eine Stützlehrerin und bin zehn Stunden in der Woche im Grundlehrgang. Die übrige Zeit bin ich bei meinen Mitschülern im Berufsfindungskurs. Die Integration im Grundlehrgang B Handwerk gefällt mir, weil ich immer wieder etwas Neues lernen kann. In meinem späteren Leben möchte ich gerne eine Arbeit eines angestellten Sekretärs in einem Büro verrichten." (aus: "Die Berufsfindungskurse in Südtirol" Eine Projektarbeit des Berufsfindungskurses Brixen, 1997, S. 51)

Im theoretischen Unterricht werden Deutsch, Allgemeinbildung, Italienisch, Mathematik, Leibeserziehung, Psychomotorik, Freizeiterziehung und Religion angeboten (die Fächer können bei Bedarf auch abgeändert werden; auch Integrationsprojekte in andere berufsbildende Lehrgänge sind möglich); die restliche Zeit verbringen die Jugendlichen in der Werkstatt, wo sie den Umgang mit verschiedensten Materialien (Holz, Metall, Stoff...) und Werkzeugen erlernen und sich am Computer üben oder Kurzpratika in für sie ausgewählten Betrieben machen (etwa 2-4 Wochen).

Martin berichtet von seinem Kurzpraktikum

"Ich praktizierte zum ersten Mal bei der Firma Barth. Die Firma Barth ist in Brixen in der Industriezone und ist eine Möbeltischlerei. Ich hatte zwei Chefs: der Senior Barth und der Junior Barth. Die Firma ist sehr groß, sie beschäftigt 24 Mitarbeiter. Ich mochte den Mitterrutzner Hans am liebsten. Ich mußte mit einem Arbeiter jeden Tag viele große und kleine Bretter mit Schleifpapier und Stahlwolle abschleifen. Ich hatte mit einem Arbeiter bei der großen dreibändigen Schleifmaschine lackierte Bretter abgeschliffen. An einem Tag habe ich mit einem Arbeiter bei der Kantenaufleim-Maschine gearbeitet. Ich mußte Bretter für ein Bett öfters abschleifen und zum Schluß mußte ich die gebeizten und lackierten Betten mit dem Schleifpapier und der Stahlwolle abschleifen. Im Spritzraum mußte ich die gebeizten, feuchten Bretter vorsichtig angreifen und in den Trockenraum tragen, dort aufstellen und trocknen lassen. Mir gefiel es dort sehr gut und ich hoffe deshalb später einmal den Beruf eines Tischlers zu erlernen. Die Arbeitsweise in der Firma Barth hat mir gut gefallen, weil ich viele Sachen lernen durfte. Martin." (aus: "Die Berufsfindungskurse in Südtirol" Eine Projektarbeit des Berufsfindungskurses Brixen, 1997, S. 30-31)

Vor Abschluß des Berufsfindungskurses besprechen dann Eltern, Jugendliche und Lehrpersonen gemeinsam den weiteren Werdegang jedes/r einzelnen. Auf Grund der festgestellten Eignung erfolgt eine berufliche Empfehlung und daraufhin die Suche nach einer Arbeitsstelle oder einem Praktikumsplatz für den Sonderkurs oder die Vorbereitung auf die Eingliederung in die Lehrlingsausbildung. Wer nach dem Berufsfindungskurs genügend Selbständigkeit und Reife aufweist, kann den Sonderkurs in einem Betrieb absolvieren; wer das noch nicht schafft, macht ihn zunächst an der Berufsschule, wo er auf die Eingliederung in die Arbeitswelt weiter vorbereitet wird. Die praktische Ausbildung bzw. Anlernung besteht in einer spezifischen Arbeitstätigkeit in einem Betrieb; die tägliche Arbeitszeit steigt mit der Belastbarkeit der Jugendlichen auf max. 32 Stunden pro Woche. Anfänglich werden die Jugendlichen durch eine Lehrkraft begleitet, mit zunehmender Sicherheit und Selbständigkeit wird die Begleitung reduziert und im Gegenzug ein Betreuungsverhältnis durch eine Person im Betrieb aufgebaut.

Monika über ihr Praktikum im DM-Markt

"Ich arbeite schon lange im DM-Markt. Meine Mitarbeiterinnen heißen: Anna, Daniela, Laura und Jó. Meine Bezugsperson im Betrieb heißt Antonelle. Meine Arbeit im DM-Markt ist: Toilettenpapier einräumen, Taschentücher einordnen, Kindernahrung nachfüllen. Ich muß auch Katzenfutter in die Regale geben. Fotorollen kontrolliere ich auch. Dabei habe ich auf das Verfallsdatum zu achten. Ich habe auch viel in der Kosmetikabteilungzu tun. Mit der "Preismaschine" arbeitete ich auch schon öfter. Jeden Dienstag gehe ich in die Berufsschule. Im ganzen Geschäft sind tausend Artikel und man kann sich vorstellen, daß man einen guten Überblick braucht, um die fehlenden Waren rechtzeitig nachzufüllen, oder wenn nötig, wieder zu bestellen. Auch muß alles sauber gehalten werden; d. h. die Regale müssen ausgeräumt und immer wieder geputzt werden. So geht mir die Arbeit niemals aus." (Monika leidet unter einer Stoffwechselkrankheit und hat eine umfassende Lernbehinderung.) (aus der Broschüre zum Projekt: Beruf und Arbeitswelt, Berufsfindungs- und Sonderkurs Bozen, 1997, S. 52-53)

Die Autonome Provinz Bozen schließt für das Praktikum mit den betreffenden Betrieben einen Vertrag ab, der diese von jeglicher Verpflichtung gegenüber den Jugendlichen befreit. Sie müssen die Jugendlichen weder versichern noch entlohnen und erhalten für einen evtl. Leistungsausfall eine finanzielle Entschädigung. Falls eine Adaptierung des Arbeitsplatzes an die spezifischen Bedürfnisse der Jugendlichen mit Behinderung notwendig ist, übernimmt die Abteilung 20, deutsche und ladinische Berufsbildung, die Kosten. Einmal wöchentlich besuchen die Jugendlichen weiterhin die Berufsschule (für acht Stunden), wo sie das im Betrieb Erlebte und Erlernte vertiefen und aufarbeiten können. Falls es sich als sinnvoll erweist, kann der Sonderkurs wiederholt, also für weitere zwei Jahre beansprucht werden.

Zum Abschluß erhalten die Jugendlichen ein Zeugnis, welches ihre Teilnahme am Ausbildungslehrgang bestätigt; es gilt aber nicht als Diplom für eine abgeschlossene Berufsausbildung. Nun kann eine Anstellung angestrebt, evtl. doch noch eine Lehre begonnen oder eine andere Schule bzw. ein berufsbildender Kurs besucht werden. Weil aber die Berufsfindungs- und Sonderkurse doch zum großen Teil von den Regelklassen der Berufsschulen getrennt sind, bedurfte es einer Weiterentwicklung, eines nächsten Schrittes hin zu mehr Integration. Dieser Schritt wurde anfang der neunziger Jahre als EU-Projekt gestartet und lief unter dem Begriff "Individualisierte Lehrlingsausbildung". Wie bereits aus dem Begriff hervorgeht, handelte es sich um ein Projekt, welches vor allem die Lehrlingsklassen (duales System) betraf und individuelle Maßnahmen für Jugendliche mit Behinderung in diesen Klassen vorsah. Einige Berufsschulen waren bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen und begannen, begleitende Maßnahmen zu organisieren und anzuwenden. Für Lehrlinge mit Behinderung oder anderen besonderen Ausbildungsanforderungen wurden Stütz- oder Ergänzungsunterricht organisiert bzw. ein individueller Bildungsplan erarbeitet (d. h. ein auf den/die Betreffende/n zugeschnittenes, vereinfachtes Programm, evtl. auch nur ein Teilprogramm).

Individualisierte Lehrlingsausbildung - Fallbeispiel

"Der gehörlose Lehrling V. ist seit 2 Jahren in einer Türenfabrik angestellt und besucht derzeit die 2. Klasse für Tischler an der Berufsschule. Er wird seit dem Einstieg in die Berufsschule im Rahmen des Lehrlingsprojektes begleitet. Diese Unterstützung erfolgt bei ihm folgendermaßen:

Da V. seit der Geburt gehörlos ist und ihm in den Jahren vorher vielleicht nicht die optimale Förderung zuteil wurde, hat er natürlich große Schwierigkeiten, ohne Hilfen dem regulären Unterricht zu folgen. Deshalb wird V. während des gesamten Unterrichts von einem sogenannten Stützlehrer begleitet. In den Fächern Deutsch und Gemeinschaftskunde wird der Schüler je nach Unterrichtsstoff alleine unterrichtet. Das Programm wird nach Schwierigkeitsgrad vereinfacht, eventuell auch etwas reduziert. Dasselbe gilt für die Schularbeiten. In allen anderen Fächern ist der Schüler immer in der Klasse, wobei ich als Stützlehrer in erster Linie als "Übersetzer" fungierte (der Schüler liest von den Lippen ab, oder wir schreiben). In einigen Fächern wird der Lehrstoff mit dem Schüler vereinfacht aufbereitet (z.B. aus Arbeitsblättern Wesentliches herausschreiben, kurz zusammenfassen, mit Zeichnungen und Bildern ergänzen u.s.w.). Auch hier ist der Stoff aufgrund des eingeschränkten sprachlichen Verständnis vereinfacht. Alle Schularbeiten konnte V. bisher wie alle anderen Schüler mit teilweise guten Ergebnissen mitschreiben. Viele Anregungen für den Unterricht gibt Armin Löwe in seinem Buch über hörgeschädigte Kinder in Regelschulen. Sie waren mir bei der Arbeit mit V. sehr hilfreich. Als sehr vorteilhaft und für V. notwendig erwies sich der Ergänzungsunterricht von 4 Unterrichtsstunden. V. wurde dafür ohne Probleme vom Betrieb freigestellt. In diesen Stunden kann der ganze Unterrichtsstoff nochmals durchgenommen und ergänzt werden; Schwierigkeiten und Probleme werden besprochen, schriftliche und mündliche Wiederholungen (Fragen, Übungen u.a.) müssen kontinuierlich durchgeführt werden.

Im praktischen Unterricht wird V. von einem Tischlerlehrer unterstützt, der ihm alle nötigen Informationen und Hilfen erteilt. In die Klassengemeinschaft wurde V. gut aufgenommen. Die Schüler haben teilweise noch Hemmungen mit ihm zu sprechen, doch versuchen sie immer mehr, auch ihn in alles miteinzubeziehen. Sehr wichtig dafür war sicherlich ein Gespräch, das die Lehrer am Beginn des Schuljahres mit den Schülern führten. Einige Tips, wie die Mitschüler mit V. umgehen, sprechen sollten, waren hilfreich. Eine kleine Episode, welche die Akzeptanz und das Verständnis der Mitschüler für V.s Behinderung zeigten: Bei einer Schularbeit in Fachrechnen hatte V. etwas Schwierigkeiten und bat mich einige Male um Hilfe. Ich wollte ihm aber sowenig als möglich helfen und gab nur einige kleine Hinweise. Ein Mitschüler meinte dann, ich sollte V. schon etwas unterstützen, weil die Schularbeit nicht so einfach sei. Die nötige Offenheit, das Einfühlungsvermögen, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist überhaupt Grundvoraussetzung, daß der Lehrling V. sich wohlfühlt und auch die entsprechenden Leistungen bringen kann." (aus der Diplomarbeit von Rita Mairhofer Bernardi: "Die individualisierte Lehrlingsausbildung unter Berücksichtigung verschiedenster Störungen", S. 21-22, 1994)

Um die Bereitwilligkeit der Betriebe zur Einstellung von behinderten Lehrlingen zu erhöhen, bekamen diese einen Beitrag durch die Autonome Provinz Bozen; so war auch mancher Betrieb, der nicht unter das Gebot der Pflichteinstellung fiel, zu einer Aufnahme zu bewegen. Wie so oft wurde aus einem Anfang Gewohnheit und mittlerweile (auch weil es die Eltern von Behinderten oder sogenannten "schwachen" Schülerinnen und Schülern immer wieder einfordern) gibt es an sehr vielen Berufsschulen Südtirols die Möglichkeit des Stütz- oder Ergänzungsunterrichtes; an manchen werden auch differenzierte Programme erstellt. Besonders letzteres muß aber noch vermehrt umgesetzt werden, gerade weil sich Jugendliche, die in der Pflichtschule mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben, meist für den Besuch der Berufsschule entscheiden (oder ihnen dazu geraten wird).

Dennoch zeigt es sich immer wieder, daß Jugendliche mit Behinderung, welche eine Lehrstelle finden und die theoretische Ausbildung in der Berufsschule machen, trotz Fördermaßnahmen den vollständigen Abschluß nicht schaffen. Für diese wurde das Konzept der Teilqualifizierung ausgearbeitet. Es handelt sich dabei um den Vorschlag eines Berufsbildungsangebotes für eben diese Gruppe von Jugendlichen, die wohl die vollständige Lehrlingsausbildung nicht abschließen kann, aber dennoch imstande ist, sich eine Reihe von Fähigkeiten und Fertigkeiten im theoretischen wie im praktischen Bereich eines Berufes im Handwerk, in der Industrie oder im Gastgewerbe anzueignen. Für sie soll nun innerhalb der Lehrlingsausbildung, welche sich über zwei oder drei Jahre erstreckt, die Möglichkeit geschaffen werden ein Ausbildungsprogramm zu erhalten, welches einerseits ihre Fähigkeiten fördert und ihre Grenzen respektiert und andererseits mit einem Qualifikationsnachweis endet, mit dem sie in der Arbeitswelt nicht bloß als Hilfsarbeiter eingestellt werden, sondern wirklich ihren Fähigkeiten und Kenntnissen gemäß, die sie ja erworben haben.

Die Teilqualifizierung hat demnach eine Dauer, die jener der Lehrlingsausbildung gleichkommt; sie hat aber ein eingeschränktes Programm. Was den theoretischen Unterricht betrifft, kann dieses eingeschränkte Programm im Sinne des individuellen Bildungsplanes erstellt werden. Da die Jugendlichen aber am Ende der Ausbildung einen Qualifikationsnachweis erhalten, müssen bestimmte berufsspezifische Inhalte vorgegeben sein. Dies gilt natürlich auch für die praktische Ausbildung in den Betrieben, auf die der individuelle Bildungsplan im Sinne eines eingeschränkten Programmes mit festgelegten Grundinhalten und zusätzlichen Wahlmöglichkeiten ausgeweitet werden muß. Diese Inhalte müßten von den Betrieben, dem Landesamt für Lehrlingswesen und Meisterausbildung und evtl. auch von den Berufsverbänden festgelegt werden.

Vorschlag

wie z.B. die Pflichtinhalte in der individualisierten betrieblichen Ausbildung eines Lagerhalters aussehen könnten

Dauer: 2 Jahre

Ausbildung im 1. Jahr:

  • unterschiedliche Waren kennen und unterscheiden;

  • Waren richtig behandeln;

  • Arbeitsabläufe und -zusammenhänge kennen (Lagerordnung, Waren transportieren, richtig lagern);

  • Anweisungen des Abteilungsleiters erfassen und ausführen;

  • Abfall richtig und umweltschonend entsorgen;

  • Waren repräsentativ anordnen;

  • Kundengespräche höflich führen;

  • über Arbeitsplatzhygiene und Arbeitsplatzgestaltung Kenntnis haben.

Ausbildung im 2. Jahr

  • Beschriftungen, Symbole lesen und verstehen;

  • Werkzeuge und Maschinen kennen und richtig einsetzen;

  • Bestellungen und Notizen schreiben;

  • Waren bepreisen;

  • Preiskontrollen durchführen;

  • Kundenwünsche verstehen und allenfalls erfüllen;

  • Berufsgefahren kennen und dementsprechend handeln;

  • über das Arbeitsrecht Kenntnis haben.

(Diesen Vorschlag haben wir in Anlehnung an die Programme der Anlehre in der Steiermark verfaßt; er wurde noch nicht mit den zuständigen Betrieben und Verbänden diskutiert.)

Die Teilqualifizierung besteht derzeit jedoch erst auf dem Papier und als Gesetzesvorschlag. Der Weg bis hin zur konkreten Umsetzung wird lang und nicht ohne Hürden sein. Manch kritische Stimme hält das Ganze für unmöglich und unmachbar. Aber wer hätte sich 1977 schon vorstellen können, Behinderte so ohne weiteres in die Pflichtschule zu integrieren? Neben den bisher erwähnten Möglichkeiten, welche allesamt durch die Verbindung von schulischer und betrieblicher Ausbildung charakterisiert sind, bietet die Abteilung für deutsche und ladinische Berufsbildung noch weitere an, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Behinderung oder sonstigen besonderen Ausbildungsanforderungen auf einem "nicht-schulischen" Weg zu einem Einstieg (auch Wiedereinstieg) bzw. einer Eingliederung in die Arbeitswelt verhelfen können. Ein relativ junges Ausbildungsprojekt (seit zwei Jahren) ist die Basisqualifizierung für Personen mit Behinderung.

Unter Basisqualifizierung ist eine Einführung bzw. Wiedereinführung in eine berufliche Tätigkeit zu verstehen. Die KursteilnehmerInnen sollen ein "Grundrüstzeug" erwerben, um sich auf dem Arbeitsmarkt selbständiger bewegen zu können. Häufig sind bei Behinderten allgemeine Kenntnisse über das Berufsleben, wie sie bei anderen SchulabgängerInnen vorzufinden sind, nicht vorhanden oder bereits wieder vergessen worden. Dadurch entstehen sehr oft Konflikte am Arbeitsplatz, vor allem wenn mit KollegInnen zusammengearbeitet werden muß. Arbeitslosigkeit führt bei allen Menschen, insbesondere aber bei Menschen mit einer Behinderung, zu Verunsicherung und Ängsten. Fehlendes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, unrealistische Einschätzungen und Erwartungen, die den Arbeitsplatz und das Berufsleben betreffen, verbunden mit leistungshemmender Angst sind in diesem Zusammenhang bekannte Phänomene. Da die Betroffenen oft sehr lange Zeit als Arbeitslose verbracht haben, ist gerade die Selbsteinschätzung in Bezug auf die Arbeit oft wirklichkeitsfremd. Ängste und Unsicherheiten sind so vordergründig, daß der Umweltbezug gestört ist. Die Basisqualifizierung soll diesen Problemen entgegenwirken und Vertrauen in die eigene Person wecken und möglichst dauerhaft verankern. Ein erster Schwerpunkt dieses Lehrgangs ist also die Förderung persönlichkeitsbezogener Kompetenzen. Die obengenannten Fragen werden hierfür im Plenum, in Kleingruppen und Einzelgesprächen schwerpunktmäßig aufgearbeitet.

Daneben ist auch die Förderung arbeitsbezogener Grundkompetenzen und ein Einblick in die Betriebswirklichkeit vorgesehen. Arbeitsrecht, Sozialgesetzgebung, Orientierung im öffentlichen Dienst, Sicherheit am Arbeitsplatz, Vorstellung und Bewerbung sind weitere Themen, die den KursteilnehmerInnen helfen sollen, den Eintritt in die Arbeitswelt zu erleichtern.

Bewerbung und Vorstellung: Bericht von Andreas

"Die letzte Woche des Basisqualifizierungskurses hat mir sehr gut gefallen. Es ging um das Thema "Vorstellung beim Personalchef". Man übte das "Sichere Auftreten" vor dem Personalchef sowie Haltung, Redewendung, Freundlichkeit, klare Sprache und vieles mehr. Manchmal war es etwas streng, aber großteils machte mir die Hitze zu schaffen. Es wurden auch unter Teilnehmern des Kurses Vorstellungsgespräche durchgeführt, die mit der Kamera aufgezeichnet wurden. Was mich fasziniert hat, war, daß viele, die mit dem Referenten Vorstellungsgespräche geübt haben, so nervös und teilweise auch ziemlich unsicher waren. Wie einem richtigen Personalchef gegenüber. Die Nervosität wurde von der Kamera ausgelöst. So konnte man auch richtig üben (ohne Kamera wäre man nicht so nervös). Nachher wurde die Aufzeichnung analysiert, und negative und positive Aspekte wurden aufgeschrieben. Morgen, kommt ein Personalchef von den DESPAR-Geschäften zu uns, um auch Vorstellungsgespräche zu üben, die auch gefilmt und nachher analysiert werden. Auf den morgigen Tag freue ich mich ganz besonders. In den letzten drei Tagen lernte und übte ich über dieses Thema schon viel. Mir hat dieser Kurs im gesamten sehr viel gebracht. Er hat mir sehr gut gefallen und war auch interessant und sehr lehrreich. Ich hoffe, daß ich diesen Kurs noch sehr lange in Erinnerung haben werde."

In ähnlicher Form gibt es auch eine Basisqualifizierung für Menschen mit psychischer Problematik. Diese wird parallel zu der eben erläuterten durchgeführt.

Eine häufig verwendete Form der Arbeitseingliederung nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern auch für viele andere Gruppen, welche Schwierigkeiten haben, eine Anstellung zu finden, ist das Betriebspraktikum.

Zielgruppe: Jugendliche mit Lernstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten, Minderjährige aus sozial oder familiär zerrütteten Verhältnissen, Arbeitslose, Frauen, die einen Wiedereinstieg ins Berufsleben anstreben, Ex-Suchtkranke, Personen mit psychischer Problematik, Haftentlassene (bzw. für Verurteilte als Alternative zum Gefängnis), Flüchtlinge.

Was ist ein Betriebspraktikum? Das Betriebspraktikum ist ein Praktikum, welches in einem Betrieb nach Wahl absolviert wird und folgende Zielsetzung hat:

  1. eine erste Berufserfahrung bzw. eine berufliche Orientierung zu ermöglichen,

  2. auf den Einstieg ins Berufsleben vorzubereiten,

  3. die beruflichen Fähigkeiten von Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind, zu fördern,

  4. die Arbeitseingliederung zu erleichtern,

  5. Arbeitserfahrungen zu ermöglichen, um schulische und berufliche Ausbildung zu ergänzen. Damit das Praktikum erfolgreich durchgeführt werden kann, gibt es sowohl eine Bezugsperson im Betrieb als auch eine individuelle, auf die jeweiligen Bedürfnisse des/r Praktikanten/in ausgerichtete Begleitung durch einen Mitarbeiter der Abteilung für deutsche und ladinische Berufsbildung.

Das Betriebspraktikum erstreckt sich über 500 Stunden und kann im selben Berufsbereich höchstens zwei Mal verlängert werden. Die Praktikanten erhalten ein monatliches Entgeld von seiten der Provinz: 640.000 Lire (etwa 640 DM) für Minderjährige, 1.000.000 Lire (ca. 1000 DM) für Personen, die die Volljährigkeit erreicht haben.

Erfahrungsbericht von Edgar

"Ich habe in der Firma Keromarket mein Praktikum des EDV-Kurses absolviert. Mein hauptsächlicher Aufgabenbereich ist im Lager (Warenein- und -ausgang), machmal auch im Büro oder in der Ausstellung zu arbeiten. Die Arbeit gefällt mir gut, obwohl sie oft sehr streng ist. Das macht mir sehr zu schaffen, da ich in Streßsituationen und bei körperlich zu harter Arbeit Anfälle in den Füßen bekomme. Die Arbeitskollegen sind jedoch sehr rücksichtsvoll mir gegenüber, was das Problem um Einiges erleichtert. Die Beschäftigung gibt mir Ablenkung und die Sorgen in finanzieller Hinsicht sind auch kleiner geworden, da mich Herr Fuchs jetzt fest angestellt hat. Dank des PC-Kurses hat meine lange Arbeitslosigkeit ein Ende und so langsam geht wieder alles seinen gewohnten Lauf."

Schließlich werden auch noch Kurzkurse für die Weiter- und Fortbildung von Personen mit Behinderung durchgeführt. Mit diesen je nach Bedarf angebotenen Kursen sollen Kenntnisse, Fertigkeiten und Informationen vermittelt werden, die den Erfordernissen des Arbeitslebens Rechnung tragen. Inhalte dieser Kurse sind demnach grundlegende Einführungen sowie weiterführende berufsspezifischeThemen, die für Personen mit besonderen Ausbildungsbedürfnissen konzipiert sind. Kurzkurse werden auch als individuelle Umschulungsmaßnahmen im Betrieb abgehalten. Zudem werden diese Kurse in Kombination mit Betriebspraktika und Eingliederungsprojekten verwendet, um theoretische und praktische Ausbildungsmomente zu verknüpfen.

Z. B. Computerkurs - Erfahrungsbericht von Nikolaus

"Ich heiße Nikolaus, komme aus Bozen und wohne zur Zeit in der Trainingswohnung, um selbständiger zu werden. Später werde ich wieder nach Hause ziehen. Ich bin einundreißig Jahre alt. Ich arbeite zur Zeit als Gärtner in einem Betrieb in Leifers in der Hydrokultur. Ich nahm eine Woche Urlaub, um den Computerkurs zu besuchen. Für mich war das Gebiet Computer Winword ganz neu. Ich lerne mit dem Computer Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Zeichnen, Karten zu spielen, Aufbau vom Computer, wie der Computer druckt usw., mit den Systemen Excel, Winword zu arbeiten. Die Kursteilnehmer waren sehr angenehme Personen. Die Referenten Thomas und Ludmilla erklärten es uns verständlich. Schade, daß Thomas erkrankt ist. Mit dem Betreuer Werner und den Teilnehmern lachten wir sehr. Wir spielten oft Karten, ich ging am Abend oft ins Fitnesstudio, um mich fit zu halten. Mir gefiel der Kurs sehr gut. Die Organisation war gut. Das Essen war sehr köstlich. Zu kritisieren war wirklich nichts. Mich würde ein Kurs nochmals interessieren."

In all diesen vielfältigen Angeboten wird versucht, Menschen mit Behinderung individuelle Möglichkeiten der Berufsausbildung und Weiterentwicklung zu bieten, ihr ganz persönliches Potential zu erkennen und zu fördern und auch - so weit es geht - für die Arbeitgeber nutzbar zu machen. Eine Integration in die Arbeitswelt bedeutet mehr Autonomie durch eigenes Geld, mehr Kontakte zu "Nicht-Behinderten", mehr Selbständigkeit und Selbstbewußtsein. Es bedeutet aber auch, auf sich selbst angewiesen zu sein, sich durchzusetzen und am Arbeitsplatz bestehen zu müssen und immer wieder auch auf Ausgrenzung oder Bevormundung zu stoßen. In unserer Arbeit mit jugendlichen Behinderten legen wir daher auf Persönlichkeitsentwicklung und -stärkung sehr großen Wert. Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, daß wir für jede/n einzelne/n Behinderte/n abklären müssen, ob eine Berufsausbildung und ein Einstieg ins Berufsleben angebracht ist oder nicht. "Integration um jeden Preis" kann und soll nicht die Lösung sein.

Aus der Gruppe "Basisqualifizierung für Behinderte" stellt sich Monica vor:

"Ich heiße Monica und bin 25 Jahre alt. Ich fange am Donnerstag bei der Quästur bzw. Staatspolizei als Amtsgehilfin an. Dort habe ich dann hauptsächlich im Archiv zu tun. Ich kann aber auch Maschinenschreiben oder mit dem Computer arbeiten. Ich habe Beckenlähmung bzw. Spina bifida. Ich habe diesen Kurs besucht, weil er mir von meinem Stellenberater empfohlen wurde. Dieser Kurs hat 4 Wochen gedauert. An diesem Kurs haben 10 Personen teilgenommen. Der Unterricht war teils lebendig, teils langweilig. Ich bin immer um 23.00 Uhr schlafen gegangen. Ich werde jetzt erneut versuchen, selbständiger und sicherer zu werden und meine Konzentrationsschwierigkeiten zu beseitigen."

Bericht über die Betriebsbesichtigung der Mila Ges. m.b.H von Philipp

"Am Donnerstag Vormittag redeten wir über die Arbeitswelt, Probleme usw. Am Nachmittag besuchten wir die Mila in Bozen. Wir kamen mit der Personalchefin zusammen. Sie zeigte uns den Betrieb und erklärte uns alles über den Betrieb. Danach sprachen wir über die Arbeit im Betrieb. Sie sagte, daß die Leute lieber am Abend arbeiten als am Tag. Sie müssen Arbeitswillen mitbringen. Sie schenkte uns allen Joghurte zum Essen. Am Freitag redeten wir über die Pünktlichkeit und Sauberkeit im Betrieb, über den Chef und über die ganze Arbeit. Der Referent sprach über die Verträge und über die Möglichkeiten im Betrieb. Ich redete intensiv mit und die anderen auch. Es wurde auch nochmals über die Mila gesprochen, über eine Anstellung aber keiner zeigte Interesse.

Die AutorInnen

Verena Wellenzohn, Erna Gamper, Werner Schwienbacher, Claudius Comploi

Abteilung für die deutsche und ladinische Berufsbildung in Südtirol

MitarbeiterInnen im Bereich für berufliche Ausbildung und Integration

Dantestraße 3

I-3900 Bozen

Quelle:

Verena Wellenzohn, Werner Schwienbacher: Damit Menschen mit Behinderung leben können wie andere und gleiche Rechte haben - Integration von Menschen mit Behinderung oder sonstigen besonderen Ausbildungsanforderungen in die Berufsschule bzw. in berufsbildende Strukturen

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/98; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2006

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