Partecipazione, progettazione, cento linguaggi

Der reggianische Ansatz im Elementarbereich

Autor:in - Michael Göhlich
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1-98. Thema: Integration in Italien Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/1998)
Copyright: © Michael Göhlich 1998

Partecipazione, progettazione, cento linguaggi

Es ist so eine Sache mit Superlativen. Wissenschaftlich fragwürdig, erhalten pädagogische Innovationen häufig dadurch erst jene Aufmerksamkeit, die genaueren Nachfragen vorausgeht. Als beste Kindergärten der Welt preist Newsweek die kommunalen Kindertagesstätten von Reggio Emilia[1]. Die Wanderausstellung mit Dokumentationen ihrer Projekte feiert auf der ganzen Welt Triumphe[2]. Aus Spanien und Schweden ebenso wie aus Südkorea, Japan und USA reisen pädagogische Interessierte, Erzieherinnen wie Erziehungsminister, in die norditalienische Stadt. Selbst zur Legende Gewordene wie Bruner und Freire besuchen die reggianischen Kitas und zeigen sich begeistert[3]. Von pädagogischen Einrichtungen, Fachkräften und Administrationen im Ausland werden die reggianischen PädagogInnen als BeraterInnen eingeladen, so etwa von der Kita der EU in Brüssel oder vom schwedischen Erziehungsministerium. Auf eigene Initiative unterstützen sie in einer Art Patenschaft neu konzipierte Kitas in Albanien. Am weltweiten Ruhm kommen neuerdings auch die Entscheidungsträger im Ursprungsland nicht vorbei. Im April 1996 wurde ein Kooperationsvertrag zwischen dem italienischen Bildungsministerium und Reggio Emilia abgeschlossen, der den reggianischen PädagogInnen eine wichtige Rolle bei der Reform des italienischen Elementarbereichs einräumt[4]. Soviele Lorbeeren faszinieren, ihre Häufigkeit könnte jedoch auf die Eigendynamik öffentlichen Lobes zurückgeführt werden. Der reggianische Ansatz erfordert deshalb neben einer gewissen konzeptionellen Offenheit dessen, der sich damit konfrontiert, und neben pädagogischem (Transfer-)Interesse erziehungswissenschaftliche Reflexion. Der folgende Text bemüht sich darum, will allerdings keine Objektivität suggerieren, bleibt subjektive Annäherung.



[1] Newsweek December 2, 1991: The ten best schools in the world. And what we can learn from them.

[2] Comune di Reggio Emilia: I cento linguaggi dei bambini, Reggio Emilia o.J.

[3] "What struck me about the Reggio preschools was how they cultivated imagination..." (Jerome Bruner in: La Repubblica 14.1.1996)

[4] Die Vereinbarung steht in Zusammenhang mit Bemühungen der Regierung, das schulpflichtige Alter auf fünf Jahre abzusenken. Wenn wir uns in der europäischen Geschichte der Pädagogik etwas umschauen, sehen wir, daß ein ähnlicher Prozeß, nämlich die Einbindung der Infant Schools für 5- bis 7-Jährige in die englischen Primary Schools Ende der 60er Jahre die über Jahre hinweg weltweit vorbildliche Öffnung, Binnendifferenzierung und Handlungsorientierung der englischen Grundschulen eingeleitet hat. Vielleicht gelingt Ähnliches ja jetzt in Italien.

Reggianischer Ansatz als eine der neuen Reformpädagogiken

Der reggianische Ansatz ist ein Versuch, auf den sich seit den 60er Jahren im allgemeinen gesellschaftlichen Wandel vollziehenden gravierenden Wandel der Kindheit (Mediatisierung, Migration, Pluralisierung familialer Lebensformen, Professionalisierung von Erziehung) zu antworten[5]. Damit steht er in einer Reihe mit dem englischen und amerikanischen Konzept der Open Education, mit der Community Education, der Alternativschulpädagogik und anderen neuen Reformpädagogiken, die in der kulturellen Wende der westlichen Welt um 1968 entstanden. Von klassischen Reformpädagogiken wie z.B. der Montessori- oder der Waldorfpädagogik unterscheiden sich die neuen Reformpädagogiken vor allem in folgenden Punkten: multipersonale (statt monopersonale) Urheberschaft; als veränderbar konzipiert (statt starr umrissen); sozialisationstheoretisch fundiert (statt normativ-anthropologisch); pädagogische Einrichtung als gesellschaftlicher Ort (statt als Eigenraum)[6].



[5] Die vom Mentor des reggianischen Ansatzes, Loris Malaguzzi, mitgegründete und bis zu seinem Tod herausgegebene Zeitschrift "bambini" betont diesen Hintergrund schon im Titel "bambini in una societa che cambia".

[6] vgl. Göhlich 1997

Reggianischer Ansatz: Neuerung auf mehreren Ebenen

Konzentrieren wir uns auf die Pädagogik, die seit den 60er Jahren in Reggio Emilia entstanden ist. Der reggianische Ansatz ist auf verschiedenen Ebenen wirksam: als Kleinkindpädagogik im engeren Sinne (Stichworte: hundert Sprachen, Raum als dritter Erzieher, Prozeßorientierung, Dokumentation), als Erwachsenenbildung bzw. Professionalisierung (Stichwort: interne Fortbildung) und als demokratiefördernde Gemeinwesenerziehung (Leitungsrat, stadtübergreifende inhaltliche Zusammenarbeit, auch mit anderen Institutionen). Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf der Kleinkindpädagogik, die anderen Ebenen werden jedoch im Auge behalten.

Das Bild vom Kind als Bilder von Kindern

Beginnen wir mit dem Bild vom Kind, wie es im pädagogischen Diskurs so schön heißt. Im reggianischen Ansatz könnte man eher von Bildern von Kindern sprechen. "Eine Kita muß ein Ort für alle Kinder sein", so zitiert Hinckle den 1994 verstorbenen reggianischen Pädagogen Malaguzzi, "nicht gegründet auf der Idee, daß alle gleich, sondern daß alle verschieden sind." Dementsprechend ist die gemeinsame Erziehung und Bildung behinderter Kinder und Kinder Alleinerziehender, die jeweils ein automatisches Anrecht auf einen Platz in einer der neunzehn Kindergärten (3-6-Jährige) bzw. der dreizehn Krippen (0-3-Jährige) haben, der Migrantenkinder, insbesondere aus Süditalien und dem nordafrikanischen Raum, und all der anderen Kinder Reggio Emilias in den reggianischen Einrichtungen seit bald drei Jahrzehnten übliche und reflektierte[7] Praxis.



[7] z.B. Malaguzzi 1976

Wirklichkeitskonstrukteure

Jedes Kind wird im reggianischen Ansatz als Konstrukteur seiner Wirklichkeit aufgefaßt. Diese Formulierung scheint mir treffender als der verwandte Begriff des schöpferischen Kindes, das etwa bei Montessori zu finden ist und das religiöse Motiv des göttlichen Kindes ahnen läßt. Hintergrund für die reggianische Auffassung sind nicht nur entwicklungspsychologische Erkenntnisse etwa Piagets und Bruners, sondern auch Konstruktivismus (von Glasersfeld, von Foerster) und Systemtheorie (Bateson) und nicht zuletzt die eigenen Erfahrungen der reggianischen PädagogInnen aus Projekt-Begleitung und -Dokumentation, die im Grunde auch als pädagogische Forschungsarbeit zu verstehen ist. Das Kind also als Konstrukteur seiner Wirklichkeit. Es kann, so Malaguzzi, als großes, gegenüber anderen nicht dicht abgeschottetes Orchester verstanden werden. Ähnliches gilt auf anderen Ebenen für die sozialen Systeme der Familie, der Kindergruppe, des Erzieherkollektivs, der Kindertagesstätte. Der Aufbau und Erhalt der Systemgrenzen auf individueller Ebene, man könnte sagen, die Stabilisierung des Ichs, ist in den Aufbau und Erhalt der Systemgrenzen auf sozialer Ebene, der Stabilisierung des Wir, eingebunden, wird jedoch eigens beachtet und gefördert.

Ich-Bildung, Wir-Bildung

Der Ich-Bildung dienen unter anderem die vielen Spiegel, die in den Kindergärten zur Verfügung stehen. Am bekanntesten wohl das Spiegelzelt, in das die Kinder hineinkrabbeln können. Hier erfahren die Kinder sich selbst als Gegenüber. Spielerisch studieren sie dabei ihre eigene Mimik, Gestik, Körperhaltung. Die Anfertigung von Selbstporträts im Atelier gehört ebenso zur Förderung der Identitätsbildung wie die namentliche Dokumentation der Kinderäußerungen zu einem Projektthema oder das Protokoll von Gesprächen der Erzieherin mit jedem einzelnen Kind über sich selbst, das auch den Eltern vorgestellt wird, um auch innerfamiliär die Wertschätzung der Identität und Ich-Bildung des Kindes zu stärken. Es ist nur konsequent, daß sich die reggianischen PädagogInnen auch den Kampf um Kinderrechte auf die Fahnen geschrieben haben.

Nicht umsonst lautet die 1994 gegründete Gesellschaft Reggio Children im Untertitel "Internationales Zentrum für die Verteidigung und Förderung der Rechte und Potentiale aller Kinder". Aber, wie gesagt, Ich-Bildung wird als untrennbar mit der Wir-Bildung verbunden aufgefaßt. Besonders deutlich wird das Wir, das Miteinander der Tag für Tag an der pädagogischen Einrichtung Beteiligten, an der reggianischen "Charta der drei Rechte", nämlich der Kinder, der ErzieherInnen und der Eltern, die gleichermaßen zu berücksichtigen seien. Dabei wird die Unterschiedlichkeit der Individuen, die Verschiedenheit der Sozialisation als pädagogisch aufzugreifende Vorerfahrung angesehen.

Was Malaguzzi 1973 kindbezogen schrieb, kann in seiner Differenziertheit aus Sicht der später formulierten Charta auch als Hinweis für den Umgang zwischen den an der Kita beteiligten Erwachsenen gelesen werden: "Das Kind des Handwerkers oder des Arbeiters, des Emigranten aus den Bergen oder aus Süditalien, das Lasten und Frustrationen ertragen muß, die die Großen erdrücken, das Kind, das die Male einer enteigneten Kultur oder widriger Ereignisse, von Krankheiten oder Behinderungen trägt, oder das Kind, das in letzter Zeit immer öfter in unsere Kindergärten kommt, leidend, desorientiert, oft schon mit einer gekrümmten oder aufgelösten Persönlichkeit, Opfer der Schäden, die das gegenwärtige System in das Leben der Menschen und in ihre Beziehungen mit ihren Kindern eingraviert. Diese Kinder fordern von der Pädagogik und von den ErzieherInnen, durch die Probleme identifiziert zu werden, die sie repräsentieren. Um nicht mißverstanden zu werden: nicht weil die Kinder jene, die sie sind, bleiben sollen oder wollen, oder weil sie Sonderzuwendungen, spezielle Didaktiken oder kompensatorische Geschichten erhalten sollen, sondern weil ihre Probleme das Grundverständnis der Erziehung erhellen, weil sie die Erziehung herunterholen vom Olymp, von ihrem Über-Allem- und Außerhalb-Allem-Bleiben, von ihrer falschen Neutralität..." (Malaguzzi 1973, 7f). So gesehen, ist die Unterstützung der Ich- und der Wir-Bildung als Teil des reggianischen Ansatzes ein politischer

Akt.

"Cento linguaggi" - Hundert Sprachen

Zu den Rechten des Kindes gehört ein Recht auf Bildung von klein auf. In Reggio-Ansatz sind darunter in erster Linie die Unterstützung und Förderung der hundert Sprachen der Kinder gemeint. Das Kind hat hundert Sprachen und die Gesellschaft raubt ihm neunundneunzig, nämlich alle Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen außer der Verbalsprache, so lautet das Postulat der Reggiopädagogik. Wahrnehmungs- und Ausdruckserziehung sind deshalb ein zentrales Anliegen der reggianischen Kindergärten.

Die Kunsterzieherin und das Atelier, seit Anfang der 70er Jahre reguläre Bestandteile jedes kommunalen Kindergartens in Reggio Emilia, spielen dabei eine wichtige Rolle. Zur vielschichtigen Arbeit der Kinder an den oft mehrwöchigen Projekten, in den unterschiedlichste Sinneserfahrungen und Ausdruckswege zu einem Thema erfahren werden, tragen jedoch alle ErzieherInnen und ggf. Hilfskräfte, Eltern, Großeltern, Nachbarn bei.

Projekte: Von der "programmazione" zur "progettazione"

Die Projekte und ihre Dokumentation sind die Meisterleistung der reggianischen Einrichtungen, auf deren alltägliche Grundlegung in Organisaton, Raum und Personal am Schluß des Textes eingegangen wird. Einige Beispiele dokumentierter Projekte will ich ausschnitthaft vorstellen. Um zugleich den Werdegang des reggianischen Projektbegriffs von einem eher programmatischen, zielorientierten in den 70er Jahren zu einem eher prozessualen, wegorientierten in den 90er Jahren zu verdeutlichen, beginne ich mit dem Projekt "Das Platanenblatt", dessen Dokumentation 1981 Teil der ersten Version der Wanderausstellung war (Comune o.J., 55ff).

Das Platanenblatt

Ausgangspunkt war eine konkrete alltägliche Erfahrung bestimmter Kinder[8]. Vor ihrem Kindergarten steht eine Platane. Im Herbst segeln die Blätter herunter. Blätter zu sammeln und zu Collagen zu verarbeiten, ist bis heute eine beliebte Herbstbeschäftigung in Kindergärten und Grundschulklassen. Aber den reggianischen PädagogInnen ging es darum, den Dialog zwischen Blätter, Baum und Kindern zu fördern. So wird der Baum erkundet, in seiner Rauheit und Stärke erfahren. Das Blatt wird von der Fingerkuppe in seiner Feinheit erfahren und in seiner Struktur untersucht und nachgebildet, zunächst motorisch. Mit Hilfe auch von Fotos sowie Blattzeichnungen und Blattnachbildungen aus Papier, die am Platanenbaum befestigt werden, gehen die Kinder der Frage nach, was für das Platanenblatt charakteristisch ist. In Experimenten werden Auswirkungen des Lichtes auf das Blatt deutlich. Auch die Frage der Blattgeräusche wird angegangen. Die Kinder rascheln im Laub, hören dem Regen auf den Blättern zu. Wachstum und Leben des Platanenblattes sowie seine Veränderungen nach der Trennung vom Baum werden durch Vergleiche von Blättern untersucht. In gezeichneten Blattvarianten wird der Humor der Blätter gesucht.

Alles in allem ein sehr vielseitiges Projekt, das für viele mir bekannte Kindergärten heute noch ein Jahreshöhepunkt wäre. Aus Sicht des heutigen Entwicklungsstandes des reggianischen Ansatzes erscheint die damalige Herangehensweise jedoch zu curricular, zu zielorientiert. Bei aller Vielschichtigkeit bot dieses Projekt den Kindern zu wenig Raum bei der Entwicklung eigener Fragen.



[8] "Unsere besten Erfahrungen haben wir immer dann gemacht, wenn wir von alltäglichen Gegenständen ausgegangen sind, die Schatten, der Regen, der Schnee, das Blatt, die Stadt..." (Spaggiari, zit.n. Göhlich 71997, Vorwort)

Das Löwen-Projekt

Als nächstes Beispiel nehme ich das Löwen-Projekt (Comune o.J., 43ff), ebenfalls eines der frühen Projekte, aber ein besonders wichtiges; zum einen, weil es zwar noch nicht das Prozessuale, aber doch die Vielschichtigkeit eines Projektthemas und die Möglichkeiten der hundert Sprachen der Kinder gut zeigt; zum anderen, weil von ihm eine Videodokumentation existiert, die hierzulande in der Aus- und Fortbildung von ErzieherInnen und SozialpädagogInnen eingesetzt wird und vielerorts die Vorstellungen darüber, was Reggiopädagogik ist, dominiert[9]. Im Rahmen des großen Themas Stadterkundung erkundeten Kinder des ursprünglich aus einer Elterninitiative entstandenen kommunalen Kindergartens "Villetta" den Löwen auf dem Marktplatz von Reggio Emilia. Der steinerne Löwe ist ein Wahrzeichen der Stadt. Bei einem Einkaufsspaziergang auf dem Markt näherten die Kinder sich dem Löwen erstmals im Rahmen von Kindergartenaktivitäten. Wie bei der Platane und dem Platanenblatt, hier aber spontaner, wird die Skulptur zunächst motorisch und haptisch erkundet. Die Kinder reiten darauf. Der Löwe wird betrachtet, befühlt. Daß damals noch eher "programmazione" als "progettazione" praktiziert wurde, zeigt sich im vorgegebenen Ziel, ein Portrait eines Löwen herzustellen, und darin, daß jedem Kind vorab nahegelegt wird, sich einen besonderen Bereich zu wählen: z.B. Augen, Maul, Fell, Tatzen, Schwanz. Aber, und hierin geht das Löwen-Projekt über das Platanenblatt-Projekts hinaus, die ErzieherInnen nehmen die Gespräche der Kinder auf Band auf, machen Dias und arbeiten mit diesen Äußerungen und Bildern in der Kindertagesstätte weiter.

Die Methode, zuvor von den Kindern real erfahrene und verwandte Objekte mittels Diaprojektor oder Epidiaskop in der Kita in Echtgröße an die Wand zu werfen, so daß sich die Kinder danebenstellen, z.B. auch neben einen Löwen aus dem Zoo oder aus einem Bildband, mit ihm in vertrauter Umgebung sprechen können, ihn an der Wand entlang der Bildumrisse zeichnen können, habe ich selbst erstmals in Reggio kennengelernt. Sie hat mich sehr beeindruckt. So können die Erfahrungen nachbesprochen, aber auch neue Fragen gestellt werden: Wie sieht der Löwe aus? Wie bewegt er sich? Was frißt er? Wie brüllt er? Den Fragen kann sachlich nachgegangen werden oder auch spielerisch. Auch wenn durchaus Erkenntnisse über reale Löwen vermittelt werden und die Kinder sich Sachbücher über Löwen anschauen, handelt es sich im Löwen-Projekt doch vor allem um ein spielerisches, ästhetisches Nachfragen. Dies allerdings führt zu erstaunlich vielschichtiger Ausdruckskraft.



[9] Irreführenderweise legt das Video den Zuschauern ein über-ästhetisiertes, Perfektion suggerierendes Bild des reggianischen Ansatzes nahe. Das Prozessuale des reggianischen Ansatzes erhält in dem Video gegenüber dem Ästhetischen zu wenig Gewicht.

Weinlese

Ein Projekt, das wiederholt durchgeführt wurde, gerade von Kitas am Rande der Stadt, ist die Weinlese. Ich hatte das Glück, einmal bei Teilen dieses Projekts im Kindergarten "XXV Aprile" in VillaCella, einem Vorort Reggios, zu hospitieren und dabei den Projektplan zu erhalten. Wie der Hinweis auf den Projektplan andeutet, handelte es sich auch hier um "programmazione", allerdings wurde die Planung durch den früh einsetzenden Dialogcharakter offener, prozeßhafter. Wie beim Löwenprojekt wurden die verschiedensten Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen der Kinder und der Dinge berücksichtigt. Zudem wurden Eltern, Großeltern und andere Erwachsene einbezogen und die Kita so zum Gemeinwesen hin geöffnet. Zunächst sprachen die ErzieherInnen mit den Kindern über die Weinlese. Was wußten die Kinder bereits darüber? Was interessierte sie? Die Kinderäußerungen wurden protokolliert und später ein Teil der Dokumentation in der Kita.

An dieser Stelle sei nochmals gesagt, daß die Dokumentationen allen zugänglich im Eingangsbereich, in den Fluren und Gruppenräumen der Kindergärten angebracht werden, und zwar in der Schrittfolge des Projektverlaufs, so daß dieser nachvollziehbar bleibt, zugleich in ästhetisch ansprechender Form, aber nicht für die Ewigkeit gerahmt. Nach dem hier verbalen Einstieg ins Thema kamen zwei Großeltern, die Weinbauern waren, in die Kindergruppe, brachten ihre Weinlese-Werkzeuge mit und stellten sie vor. Anschließend planten ErzieherInnen, Eltern und Großeltern die Weinlese mit den Kindern. Die Kindergruppe fuhr zum Bauernhof der Großeltern, wo sie nach der Ankunft zunächst mit Weinkörben und -Bottichen spielten. Dann begann die Weinlese. Die Kinder und die erwachsenen Pflücker wurden sich gegenseitig vorgestellt. Den Kindern wird die korrekte Handhabe des Werkzeugs, eines leicht gebogenen Messers, gezeigt. Jedem erwachsenen Pflücker wird eine kleine Kindergruppe zugeordnet. Die Pflückerei beginnt. Die Kinder arbeiten konzentriert. Zwischendrin ein gemeinsames Vesper auf dem Feld. Schließlich die Rückfahrt auf dem Traktor mit vollen Weinkörben und die Fahrt im Bus zurück zur Kita. Von all dem werden Fotos gemacht, die im Laufe der nächsten Tage im Kindergarten in ähnlicher Weise wie beim Löwenprojekt nachbesprochen werden. Später bringen die Großeltern Keltergeräte in den Kindergarten. Unter ihrer Anleitung keltern die Kinder den Wein. Die Flaschen werden abgefüllt und verschlossen. Bei einem nochmaligen Besuch des Bauernhofes wird die "saba", ein dicker Weinsirup, zubereitet und "polenta e saba", das traditionelle Weinlesegericht, gegessen. Darüberhinaus finden im Kindergarten während der ganzen Zeit weitere Aktivitäten zum Projektthema statt. Flaschenetikette werden hergestellt, freie Texte und Bilder zu Weinlese und Kelterung, nach Naturvorlagen gezeichnete und gemalte Bilder von Weintraube, Weinbeere und Querschnitten der Weinbeere sowie von Weinlese- und Kelterinstrumenten, Portraits von den Weinbauern, Nachbildung von Weintraube und Weinblatt in Ton und anderes.

"Alles hat einen Schatten, außer den Ameisen."

Eine Projektdokumentation, die mich bis heute begeistert und meines Erachtens zu den anregungsreichsten Projektdokumentationen gehört, die die Geschichte der Pädagogik vorzuweisen hat, lautet "Alles hat einen Schatten außer den Ameisen" (Comune 1990). Das vergleichsweise direkt an Aktivitäten und Interessen einzelner Kinder oder Kindergruppen anknüpfende und so Geplantes mit Spontanem verbindende Projekt wurde im Verlauf von drei Monaten mit ungefähr vierzig Kindern zwischen drei und fünfeinhalb Jahren und ihren ErzieherInnen durchgeführt. Drei Beispiele aus dieser Dokumentation mögen den Wandel des Projektverständnisses hin zur "progettazione" verdeutlichen.

Erstes Beispiel: Im Gespräch entsteht die Frage, ob und wie man Schatten zudecken kann. Ein Kind meint, man könne den Schatten mit einem gigantischen Fels zudecken. Andere variieren diese Idee: Mit ganz vielen kleinen Steinchen. Sie probieren es aus. Zu viert, draußen auf den Terrassenplatten unmittelbar vor dem Kindergarten. Der Schatten des Mädchens, den sie zuzudecken versuchen, bleibt sichtbar, nun eben auf den vielen kleinen Steinchen. Sie überlegen sich, ihn mit einem Bettlaken zuzudecken, und gehen in den Kindergarten hinein, um ein Laken zu holen. Das kleine Mädchen bleibt stehen, bis die drei anderen zurückkommen und nun versuchen, den Schatten mit dem Laken zuzudecken. Aber der Schatten bleibt, nun auf dem Laken.

Zweites Beispiel: Zwei Mädchen, deren Arbeit hier stellvertretend für die der anderen Kinder beschrieben wird, sitzen am Tisch und zeichnen sich selbst mit ihrem Schatten. Die Selbstportraits und die Portraits der Schatten ähneln sich. Es sind Umrißzeichnungen, in denen Augen, Mund, Nase, etc. eingezeichnet sind. Sie gehen nach draußen, um zu überprüfen, ob sie mit ihren Zeichnungen richtig liegen. Draußen im Licht der Sonne stellen sie fest, daß sie beide, wie eines der Mädchen sich ausdrückt, sich "ein bißchen" geirrt haben, daß nämlich der Schatten eigentlich ganz schwarz ist und an den Füßen klebt. Dem anderen Mädchen sagt sie außerdem, daß sie den Kopf des Schattens nach unten und ein bißchen schräg drehen muß. Alles lösbare Probleme. Die Mädchen gehen zurück ins Atelier und schwärzen ihre Schatten. Die eine verlängert den gezeichneten Schatten bis an die Füße des Selbstportraits, die andere schneidet ihren Schatten noch aus, um ihn umzudrehen und Fuß an Fuß an das Selbstportrait kleben zu können. Ein Dialog der beiden während der Arbeit: "Siehst du nicht, daß du den Schatten zu weit weg gemacht hast. Ich weiß nicht, warum du die Füße nicht zusammenbringst." "Jeder macht es, wie er will; ich kann ihn ja auch ausschneiden und näher dranrücken." "Nein, du kannst es nicht machen, wie du willst; du mußt es machen, wie der Schatten es will."

Drittes Beispiel: Dieses Beispiel hat etwas Zauberhaftes, und das Zauberhafte gehört zur Pädagogik der reggianischen Kindergärten, wie Mariano Dolcis Marionetten[10] oder Gianni Rodaris Grammatik der Phantasie[11] (damit kein aufs Technische verkürzter Begriff des Konstruktiven Anwendung findet). Ein Vogel aus Pappe ist weit oben, kurz unter der Decke, nah am Fenster befestigt. Er wirft einen deutlichen Schatten auf die Außenwand der Verkleidungsschnecke im Flur des Kindergartens. Drei Kinder spielen dort. Eines der Mädchen entdeckt den Schatten und ruft die anderen, ihn sich anzuschauen. Als die anderen ihn anschauen, kommentiert sie, daß es der Pappvogel oben am Fenster ist, der den Schatten hierher wirft. Damit wäre die Angelegenheit vermutlich abgeschlossen gewesen. Hier greift die Erzieherin ein und erweitert das Spiel, das zugleich eine Studie ist. Die Erzieherin bestätigt, daß es sich wirklich um den Schatten jenes Pappvogels handelt, zeichnet den Umriß des Schattens auf der Wand farbig nach und sagt den Kindern, daß sie sie nach einer Zwischenzeit, die sie im Hof spielen könnten, wieder hierher zurückholen werde, damit sie sich Schatten und Umriß nochmal ansehen können. Die Kinder kommen zurück, schauen, kommentieren, denken nach. Die Kinder wollen den Lauf des Schattens anhalten. Wieder greift die Erzieherin ein und fragt, wie sie es denn anstellen wollen, daß der Schatten an Ort und Stelle bleibt. Die Kinder greifen zum naheliegenden Symbol. Sie sperren den Schatten in einen aufgeklebten Käfig. Wieder gehen die Kinder spielen und kehren nach einiger Zeit zurück. Der Schattenvogel ist weitergeflogen. "Er hat sich befreit", sagt ein Kind. "Man muß ihn richtig festhalten, mit den Händen oder so." "Gehen wir doch in die Küche und holen etwas Brot und geben ihm Stückchen zum Essen, dann wird er schon anhalten." Sie legen die Brotstückchen auf den Boden, an die Stelle, an der sie den Schattenvogel erwarten. Und wirklich, er fliegt auf die Stückchen zu, läßt sich für einen Moment nieder. "Iß, sie schmecken gut", sagt ein Kind. Aber der Schattenvogel hält auch dort nicht an. Sie bauen ein Haus für ihn auf dem Boden, groß, damit er nicht entfliehen kann, und mit offener Tür, damit er hinein kann. Aber er fliegt weiter. "Er möchte lieber frei sein", sagt eines der Kinder.

Die drei wissen nicht mehr weiter, sind aber mit dem Schattenvogel noch nicht fertig. Sie entschließen sich, die großen Kinder, die aus der Gruppe der Fünfjährigen zu holen. Vielleicht haben die eine Lösung. Die drei knapp Vierjährigen schildern den Großen, was sie schon alles versucht haben, um den Vogel zu stoppen. Eine der Großen schlägt vor, sich zu verstecken und sich dann ganz leise auf Zehenspitzen wieder an den Vogel heranzuschleichen, dann würde er nicht wegfliegen. Die Kinder probieren es aus. Aber wieder ist der Schattenvogel weitergezogen. Nun wissen auch die Großen keinen Rat mehr. Am nächsten Tag stellen die Kinder fest, daß der Schattenvogel wieder in der gleichen Spur entlang fliegt. Sie merken, daß es mit der Sonne zusammenhängt. Wie genau, bleibt hier offen. Aber wie immer haben die Kinder ihre eigenen Gedanken dazu. Zum Beispiel: "Die Sonne scheint auf den Vogel, weil der Schatten des Vogels diese Straße kennt, wie wir unseren Weg nach Hause kennen. Frühmorgens schläft der Schatten noch; dann geht der Schatten in die Sonne, dann wirft die Sonne ihren Strahl... und es müßte so sein, daß man den Schatten nur so sehen kann, wie der Strahl auf den Vogel trifft. Am Tag danach, wenn die Sonne wiederkommt, weiß der Strahl schon, daß er wieder die Straße vom Tag davor machen muß." Eine deutschsprachige Veröffentlichung von einigen Projekten ("Springbrunnen", "Zärtlichkeit", "Kinderrechte" u.a.) wird derzeit beim Luchterhand Verlag vorbereitet. Ich hatte gehofft, hier schon etwas daraus vorstellen, diese Bücher in gewissem Sinne besprechen zu können. Immerhin wird es das erste Mal sein, daß ein deutschsprachiger Verlag sich der Originaldokumentationen aus Reggio annimmt. Ich erhoffe mir daraus Impulse für Versuche, den Ansatz in hiesigen Krippen, Kindergärten und Grundschulen zu adaptieren. Insbesondere die Dokumentation des Springbrunnen-Projekts soll, wie aus dem Verlag zu hören war, sehr anregend sein.



[10] Zur Unterstützung der Kitas im expressiven Bereich wurde Anfang der 70er Jahre der Puppenspieler Mariono Dolci von der Kommune angestellt, der seitdem von seiner Theaterwerkstatt in die Kitas kommt.

[11] 1972 führte der Schriftsteller Gianni Rodari in den reggianischen Kitas Workshops mit Kindern, ErzieherInnen und KitaberaterInnen durch, um Wege zu einem erfinderischen Umgang mit Sprache zu erproben. Aus diesen Workshops entstand Rodaris inzwischen auch ins Deutsche übersetzte "Grammatik der Phantasie".

Schuh und Meter

Die neueste Dokumentation, letztes Jahr in italienischer und englischer Sprache veröffentlicht, trägt den Titel "Schuh und Meter". Sie handelt von einem Projekt, an dem sechs fünfjährige Kinder des Kindergartens Diana beteiligt waren. Ausgangspunkt war, daß die Kinder einen weiteren Tisch in ihrem Gruppenraum wollten, um mehr Platz zum Arbeiten zu haben. Er sollte genauso aussehen wie die vier vorhandenen. Der Schreiner sollte ihn anfertigen, wofür er allerdings die Maße brauchte. Die Erzieherin gab sie ihm nicht, maß keinen Tisch aus. Die Kinder wollten dem Schreiner die Maße geben. Die Erzieherin wartete. So beginnt ein zehntägiger Arbeits- und Lernprozeß der Gruppe. Jeden Tag arbeiten die sechs Kinder vierzig bis fünfzig Minuten an der Fragestellung und entwickeln dabei ihre eigenen Meßmethoden. Sie gehen vom eigenen Körper aus, setzen Hände, Finger, Handspanne ein. Sie entdecken die Notwendigkeit einer als gleiche Größe wiederholbaren Maßeinheit, entscheiden sich für den Schuh eines der Kinder, messen die eine Tischseite als sechseinhalb Schuh lang aus und stellen auf dieser Grundlage auf Intervention der Erzieherin eine möglichst genaue Zeichnung des Tisches her. Erst hierbei gewinnen sie die notwendige Abstraktionsbereitschaft, um einen Meterstab zu holen und einzusetzen.

Über die Erkenntnis, daß der Schuh zwanzig Zentimeter lang ist und sich die eine Seite des Tisches aus sechs zwanzig Zentimeter langen Einheiten und acht weiteren Zentimetern zusammensetzt, kommen sie schließlich zu einer Tischskizze mit Maßen für den Schreiner, mit der die Kinder selbst zufrieden sind. Die Dokumentation zeigt deutlich, wie wichtig den reggianischen PädagogInnen inzwischen die "progettazione" geworden ist. Es geht selbst bei so einem, eine "richtige" Antwort geradezu herausfordernden Thema wie Messen nicht mehr um den Vollzug einer "programmazione", einer mit bestimmten Zielen versehenen Planung. Stattdessen ist die Aufgabe der ErzieherInnen, den interaktiv-konstruktiven Prozeß forschend zu begleiten und mittels aufmerksamer Beobachtung und Absprache zwischen den ErzieherInnen an den Stellen, an denen die Kinder nicht weiterzukommen scheinen, entweder diskursiv-fragend oder mit einem eng umschriebenen Angebot auf einer neuen Ebene, z.B. einer graphischen Darstellung der Tisch-Oberfläche samt entsprechendem Mehrfach-Abdruck des zur Messung verwendeten Schuhs, mit sanften Impulsen einzugreifen.

Dokumentation

Zu den Essentials des reggianischen Ansatzes gehört die Dokumentation. Vom Tun der Kinder, in dem sie miteinander Wirklichkeiten schaffen und verschiedene Zugangsweisen zu diesen Wirklichkeiten erkunden, werden nicht nur Produkte aufbewahrt. Auch gelegentliches Fotografieren hat nichts mit Dokumentation im reggianischen Sinne zu tun. Was im reggianischen Ansatz an Dokumentation versucht wird, ist eher eine moderne Form der pädagogischen Tatsachenforschung im Sinne Petersens, man könnte auch sagen, eine Form pädagogischer Aktionsforschung[12]. Zu ihr gehören z.B. die Dokumentation der projektbezogenen Dialoge der Kinder, die Aufzeichnung der Abfolge des Tuns der Kinder und die Herausarbeitung eventueller Ziel- und Mittel-Änderungen im Verlauf des Projekts.



[12] vgl. Altrichter, H./Posch, P.: Lehrer erforschen ihren Unterricht, Bad Heilbrunn2 1994; allerdings fokussiert der reggianische Ansatz primär Kinderhandlungen und erst sekundär darauf bezogene Handlungen von PädagogInnen.

Pädagogische Umgebung: Der Raum als dritter Erzieher

Die Projekte entstehen im Alltag und aus alltäglichen Erfahrungen heraus. Dem dient die vielschichtige und handlungsprovokative Gestaltung der pädagogischen Umgebung. Der Raum gilt als - von den PädagogInnen immer wieder auf Funktionalität und Ästhetik zu überprüfender und ggf. zu modifizierender - dritter Erzieher, der die Kinder selbst bzw. die beiden GruppenerzieherInnen[13] in ihrer Arbeit mit den Kindern unterstützt. Auch in diesem Aspekt besteht eine Geistesverwandtschaft zwischen dem reggianischen Ansatz und der Konzeption der englischen Infant Schools als Teil der Primary Education, wie sie vom Plowden Report Ende der 60er Jahre beschrieben wurde[14]. Allerdings werden Ästhetik und Aisthesis in Reggio viel stärker zusammengedacht als damals in England. (Sonnen-)Licht, Farbenreichtum, Transparenz werden bewußt eingebaut.

Die Gruppenräume sind in viele kleine funktional differenzierte Bereiche unterteilt, die allesamt mit sorgfältig ausgewähltem, anschaulich und den Kinder unmittelbar zugänglichem und ständig aktualisiertem Material ausgestattet sind. Hier können nur einige der Bereiche skizziert werden. Da gibt es, außer dem großen Atelier jeder Kita, in oder neben jedem Gruppenraum ein Miniatelier, in dem Farben, Papier, Scheren ebenso zu finden sind wie nach Farben und Formen sortierte Knöpfe, Blätter, Textilreste, Muscheln u.ä.. Für Atelier und Miniatelier gilt besonders stark, was auch für andere Bereiche der Kindergärten gilt. Es gibt unglaublich viele verschiedene Objekte, deren Farben, Formen und Materialität Kinder (und Erwachsene) reizt, sie anzuschauen, zu betasten, in die Hand zu nehmen und mit ihnen etwas zu tun. Es gibt eine Verkleidungsecke. Sie ist meist durch etwas über Kindergröße hohe Wandschirme, Tücher o.ä. vom restlichen Gruppenraum abgetrennt und enthält Kleider, Hüte, Halstücher, Schuhe, Taschen, Schminke etc. sowie einen großen Spiegel. Die Kleider liegen nicht durcheinander in einer Kiste, sondern werden einzeln nebeneinander an einer Garderobe mit Kleiderbügeln oder Haken angeboten. Ferner gibt es eine Art Wohnküche in Kindergröße, durch Raumteiler vom restlichen Gruppenraum getrennt und durch eine helle Leinendecke o.ä. auf kindliche Zimmerhöhe gebracht, so daß eine immer noch helle, aber zugleich Geborgenheit ausstrahlende und Rückzugsmöglichkeiten bietende Nische entsteht. Hier wird vor allem die außerhalb der Kita für Kinder zentrale Welt der Familie nachgespielt. Ferner gibt es z.B. eine Leseecke mit Bilderbüchern sowie eine Ecke der Freundschaft, in der jedes Kind eine Art Briefkasten besitzt, in den andere Kinder, aber auch ErzieherInnen und Eltern Briefe und kleine Geschenke werfen können. Nicht nur die Gruppenräume und das Atelier, sondern die ganze Kita wird möglichst transparent, hell, farbenreich gestaltet. In Flur und Treppenhaus finden sich Fotodokumentationen von Projekten, Spiegel, Kaleidoskop u.ä.. Soweit baulich möglich, ist die Küche durch eine Glastür oder einen Wanddurchbruch einsehbar. Das Mittagessen wird fotografisch angekündigt. Auch die Toiletten werden in die ästhetische und kindbezogen-funktionale Gestaltung eingebunden.



[13] Die grundsätzliche Doppelbesetzung der jeweiligen Kindergruppe ist neben der Anstellung einer Kunsterzieherin wohl das wichtigste Element im Bereich der personellen Ausstattung der reggianischen Kindertagesstätten. Um "gegen die Einsamkeit der Erzieherin" (Malaguzzi) anzugehen, wurde in Reggio entschieden, je zwei Gruppen á 15 Kinder zu einer großen Gruppe von zunächst 30, heute 25 Kindern zusammenzulegen. So sind stets zumindest zwei ErzieherInnen gleichzeitig anwesend und können sich die notwendige Arbeit (z.B. Kleingruppenunterstützung, Materialerstellung, Dokumentation) aufteilen.

[14] s. Anmerkung 4; vgl. Göhlich (Hg) 1997

Professionalisierung: Interne Fortbildung

Nur streifen können wir hier die erwachsenenbildnerische Seite des reggianischen Ansatzes, die entscheidend zu professioneller Einstellung und Selbstbewußtsein der reggianischen ErzieherInnen beiträgt. Alle neu eingestellten ErzieherInnen nehmen zunächst an einem Weiterbildungsseminar teil, in dem sie über Ziele und Wege des reggianischen Ansatzes vertraut gemacht werden. Von den 36 Arbeitswochenstunden sind sechs für Weiterbildung, Planung, Materialvorbereitung, Leitungsaufgaben, Elternarbeit etc. vorgesehen. Interne Fortbildungen des ErzieherInnen-Teams mit den BeraterInnen aus dem kommunalen Pädagogischen Zentrum sind selbstverständlicher regelmäßiger Bestandteil der Arbeit. Hier wird ein enger Verbund von Praxis und Theorie angestrebt, d.h. Fragen aus dem Kita-Alltag oder einem bestimmten Projekt werden präzisiert, neueste Ergebnisse psychologischer, soziologischer, pädagogischer Forschung werden vorgestellt, und Verbindungen zwischen beidem werden gesucht.

Partizipation: Kollektive Leitung, Arbeit im Tandem

In der Überschrift des vorliegenden Textes ist zuvorderst von Partizipation die Rede. Im Text selbst scheint sie untergegangen zu sein. Aber dies scheint nur so. Denn in der skizzierten Prozessualisierung der Projekte ist eine zunehmende Mitbestimmung der Kinder, ein Einbringen ihrer eigenen Fragen und Bedürfnisse, enthalten. Ich rede hier bewußt nicht von Selbstbestimmung, weil damit - selbst bei ausbleibendem direktem Eingriff seitens der PädagogInnen - die Setzung der pädagogischen Umgebung vernachlässigt würde[15]. Entscheidend ist, daß die Kinder als Subjekte und Entscheidungsträger respektiert werden. Wie andererseits die ErzieherInnen und Eltern (Charta der drei Rechte, s.o.). Es geht um die Gestaltung eines prozessualen Miteinanders. Der reggianische Ansatz ist "...nicht so sehr auf das Kind als einzelnes Individuum gerichtet, sondern vielmehr auf die wechselseitige Beziehung zwischen Kindern, ErzieherInnen, Eltern und Umgebung. Der Kindergarten - als System von Kommunikation, Beziehung, Bewegung, in das soziale System des Gebiets integriert - soll einen intensiven dynamischen Austausch zwischen seinen drei Hauptdarstellern - Kind, Erzieher, Eltern - verwirklichen, deren Wohlbefinden eng miteinander verbunden ist, deren Schicksale untrennbar sind[16]." Innerhalb der Mitarbeiterschaft der jeweiligen Kita tragen die bereits erwähnte Tandemstruktur, die interne Fortbildung und die Einbindung von Küchen- und Hilfskräften in die pädagogische Weiterbildung zu einer partizipativen Praxis bei. Ein Garant der Partizipation ist die kollektive Leitung. Die reggianischen Kindertagesstätten werden nicht von einer Einzelperson geleitet, sondern von einem gewählten Leitungsrat aus ErzieherInnen und Eltern. Dieser Leitungsrat bildet Arbeitsgruppen, z.B. zur Planung eines Projekts, zur Gestaltung von Räumen, zur Herstellung von Arbeitsmaterialien, zur Diskussion von Veröffentlichungen zu problematischen Themen etc.. Daß die Wahl der Leitungsräte stadtweit angekündigt wird und daß in ihm neben Eltern grundsätzlich auch Nachbarn der Kita, Bürger des Stadtteils gewählt werden können, zeigt, daß Partizipation hier zugleich als Öffnung zum Gemeinwesen zu verstehen ist. So sind die pädagogischen Einrichtungen der Kommune präsent im Bewußtsein der Bürger der Stadt, was umgekehrt wiederum das städtische Gemeinwesen insgesamt stärkt[17].



[15] "Die Themen Erwachsener-Kind / Macht-Freiheit sind immer ein Diskussionsobjekt gewesen zwischen unseren und einigen deutschen Erfahrungen; besonders in Berlin und Frankfurt wurden uns so radikale Positionen entgegengehalten. Ich denke, die Philosophie dahinter lautet: ‚Kinder, seid vorsichtig, die Erwachsenen sind korrupte Leute und gewalttätig gegen euren eigenen freien Ausdruck.' Diese Ansicht beruht auf dem von Rousseau geprägten Bild vom Kind. Sie unterstellt ein angebliches Recht des Kindes, allein leben zu dürfen - als ob es in der Lage gewesen wäre, sich selbst zu erzeugen, als ob es nicht von einer sehr langen Kulturtradition des Menschen kommen würde. Das von Rousseau herkommende Bild des ‚freien Kindes' hat sehr viele Gemeinsamkeiten mit dem Bild der ‚Nichtigkeit des Kindes', das der autoritären Pädagogik zugrunde liegt. In beiden Fällen gibt es immer ein Nichtvorhandensein des Erwachsenen als Mensch und Erzieher. Im ersten Fall wird der Erwachsene als Störer der freien und natürlichen Entwicklung der Kinder betrachtet; im zweiten Fall verschwindet der Erwachsene als Mensch..." (Malaguzzi in: Projektgruppe Reggio/Hamburg, S. 36)

[16] Carla Rinaldi, seit 1970 im pädagogischen Zentrum der reggianischen Kitas und Krippen tätig (zitiert nach: Projektgruppe Reggio/Hamburg, S. 69)

[17] Auf den historischen Hintergrund der "partecipazione", etwa die Genossenschaftsbewegung, die "resistenza", das "vivere insieme" etc., kann hier nicht eingegangen werden (ausführlich in: Göhlich 71997).

Zum Transfer des reggianischen Ansatzes

In der von Reggio Children herausgegebenen Zeitschrift "rechild" (Nr. 1, 1997) fragt Lilian Katz von der University of Illinois (USA), ob der reggianische Ansatz übertragbar ist. Sie weist dabei auf etwas hin, was Schwierigkeit und Antwort zugleich ist, daß nämlich die reggianische Konzeption und Praxis "showing us again and again what is possible when a whole community is deeply committed to its children". Schwierigkeiten bereitet das bei einer Übertragung des Ansatzes insofern, als der Elementarbildung von anderen Kommunen in anderen Ländern in der Regel ein eher geringes Prestige und entsprechend wenig Aufmerksamkeit, Respekt und finanzielle Unterstützung zukommt. Schwierigkeiten bereitet auch die spezifische kommunale und regionale Geschichte Reggio Emilias, die einen solch partizipativen Ansatz stützt, und der etwa die hierarchisch und bürokratische Prägung deutscher Kommunen (über österreichische Verhältnisse kann ich mir kein Urteil erlauben) zuwider läuft. Dennoch können bezogen auf Deutschland zwei Wellen von Transferbemühungen beobachtet werden, eine von Berlin (durch KitaberaterInnen wie Gisela Hermann, Brigitte Sommer u.a. geförderte) und Hamburg (durch Anke Steenken, Angelika von der Beek u.a. geförderte) ausgehende Mitte der 80er, Anfang der 90er Jahre und eine von sich nach der "Wende" neu orientierenden ostdeutschen Einrichtungen und PädagogInnen ausgehende seit Mitte der 90er Jahre. Heute beziehen sich Kindertagesstätten in Berlin (z.B. Pinocchio), Hamburg (z.B. KIDS), Apolda (Kita Mozartweg), Brandenburg, Gotha, Neunkirchen ausdrücklich auf den reggianischen Ansatz. Allerdings mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten: Steht etwa in Neunkirchen mit dem "Kinderparlament" eher der partizipative Aspekt im Vordergrund, so greift die Kita in Apolda vor allem die ästhetisch-funktionale Gestaltung der Räume, den Projektgedanken und die dabei zu ermöglichenden "hundert Sprachen" auf. 1995 wurde Dialog Reggio als Vereinigung zur Förderung der Reggiopädagogik in Deutschland gegründet. Inzwischen hat der Verein bundesweit ca. hundertzwanzig Mitglieder, darunter auch juristische Personen wie etwa Kindergärten oder Fachschulen für Sozialpädagogik. Seit einem halben Jahr wird durch Regionaltreffen die regionale Verankerung gestärkt. Eine erste bundesweite Tagung des Vereins zum Thema "Projekt" findet am 5. und 6. Juni 1998 in Hattingen (Ruhrgebiet) statt. Voraussichtlich drei PädagogInnen aus Reggio Emilia sowie MitarbeiterInnen mehrerer reggiopädagogisch orientierter Kitas aus verschiedenen Regionen Deutschlands werden an zwei Tagen Erfahrungen und Überlegungen u.a. zu Themenfindung, Planung, Mitbestimmung der Kinder, Dokumentation in Projekten vortragen und austauschen.

Literatur

Göhlich, M.: Reggiopädagogik - Innovative Pädagogik heute. Zur Konzeption und Praxis der kommunalen Kindertagesstätten von Reggio Emilia, Frankfurt/M 1988 (7. Aufl. 1997)

Göhlich, M.: Die pädagogische Umgebung. Eine Geschichte des Schulraums seit dem Mittelalter, Weinheim 1993

Göhlich, M. (Hrsg.): Offener Unterricht, Community Education, Alternativschulpädagogik, Reggiopädagogik. Die neuen Reformpädagogiken. Geschichte, Konzeption, Praxis, Weinheim und Basel 1997

Hermann, Gisela u.a.: Das Auge schläft, bis es der Geist mit einer Frage weckt, Berlin 1984

Hinckle, Pia: A School Must Rest on the Idea That All Children Are Different, in: Newsweek 2.12.1991, S. 41-42

Comune di Reggio Emilia: I cento linguaggi dei bambini, Reggio Emilia o.J.

Comune di Reggio Emilia: Tutto ha un' ombra meno le formiche, Reggio Emilia 1990

Comune di Reggio Emilia: Scarpa e metro, Reggio Emilia 1997

Malaguzzi, Loris: Il senso e i valori dell'educazione e dei suoi protagonisti, Reggio Emilia 1973

Malaguzzi, Loris: I bambini handicappati avvio di esperienze negli Asili Nido Comunali e nelle Scuole Comunali dell'Infanzia di Reggio Emilia, Reggio Emilia 1976

Der Autor

Michael Göhlich, Dr. phil., Dipl. Psych., Dipl. Päd.; arbeitete u.a. als Sonderschullehrer, als Bezugsperson an einer Alternativschule, als sozialpädagogischer Familienhelfer, als Personal- und Teamentwickler in der freien Wirtschaft; 1988-1993 Wiss. Mitarbeiter TU Berlin, 1994-1995 Akad. Rat PH Heidelberg; seit 1995 Wiss. Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität Berlin; aktuelle Arbeitsschwerpunkte: pädagogische Einrichtung als lernende Organisation (system. Ansatz); Anthropologie pädagogischer Institutionen (Raum, Rituale); Reformpädagogiken (Reggiopädagogik) und neue Schulprofile (Europaschule); Veröffentlichungen u.a.: Reggiopädagogik - Innovative Pädagogik heute, Frankfurt/M 1988 (7. Aufl. 1997); Die pädagogische Umgebung. Eine Geschichte des Schulraums seit dem Mittelalter, Weinheim 1993; (Hrsg.) Offener Unterricht, Community Education, Alternativschulpädagogik, Reggiopädagogik. Die neuen Reformpädagogiken. Geschichte, Konzeption, Praxis, Weinheim und Basel 1997

TU Berlin

Institut für Erziehungswissenschaft

Franklinstraße 28/29

D-10587 Berlin

Quelle:

Michael Göhlich: Partecipazione, progettazione, cento linguaggi - Der reggianische Ansatz im Elementarbereich

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/98; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 05.08.2010

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation