Ambulante Hilfen zum selbständigen Wohnen für geistig behinderte Erwachsene

Autor:in - Wolfgang Urban
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Zeitschrift "Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft" 1/97, Seite63-70 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/1997)
Copyright: © Wolfgang Urban 1997

Kommentar

Der folgende Beitrag ist dem vom Verein zur Förderung der Integration Behinderter - fib e. V.- in Marburg herausgegebenen Buch: "Leben auf eigene Gefahr" von 1995 entnommen. Für die Veröffentlichung in der Zeitschrift "Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 1/97, Seite 63-70" wurde er von Wolfgang Urban, Mitarbeiter für fib e. V., aktualisiert und gekürzt. Diese gekürzte Version ist auf den folgenden Seiten für den interessierten Leser bereitgestellt worden. (Charly Sturn, 13. Jan. 99)

Weitere Literaturhinweise

Verein zur Förderung der Integration Behinderter (fib e.V.), Ende der Verwahrung?!: Perspektiven geistig behinderter Menschen zum selbständigen Leben; Vertrieb: AG SPAK Publikationen, Adlzreiterstr. 23, D-8000 Muenchen, 1.Auflage 1991

KONGRESS BERICHT der internationalen Tagung: "Leben, Lernen, Arbeiten in der Gemeinschaft" München 24.-26. März 1982;, Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung der Behinderten: Neue Wege gemeindenaher Hilfen zum selbständigen Leben; Herausgeber und Vertrieb:Vereinigung Integrationsförderung e.V., Herzog-Wilhelm-Str. 16/4, D-8000 Muenchen; 1.Auflage 1982

1. Hintergründe

Bisher waren und sind geistigbehinderte Menschen Objekte der Pädagogik und der Wohltätigkeit unter dem Aspekt des Fehlens bestimmter Fertigkeiten, die zur Eingliederung in die Gesellschaft von ihnen erwartet werden. Es kann Angst machen, Menschen zu begegnen, die anders aussehen und sich anders verhalten, als die geltende Norm es vorgibt.

Familien mit geistig behinderten Angehörigen erleben soziale Belastung und Diskriminierung. Eine Unterbringung in Heimen und Anstalten kann die Familie dahingehend entlasten, daß die Problematik ein Stück weit außer Sicht gerät - für die betreffende Familie ebenso wie für die Gesellschaft, in der sie lebt - nicht jedoch für die Betroffenen. Einzelfälle, in denen geistigbehinderte Menschen sich oder andere gefährden, dienen als Alibi für die Notwendigkeit der sicheren Verwahrung von unzähligen anderen.

Geistig behinderte Kinder, die in Familien heranwachsen, sind ebenso wie die gleichaltrigen Nichtbehinderten mit 18 Jahren erwachsen. Im Vergleich zu diesen, denen im Kreis von Freunden und Freundinnen die Ablösung von der elterlichen Familie und die Herstellung neuer, eigener Bezüge leichterfällt, bleiben die geistig behinderten Erwachsenen meist allein bei ihren Eltern zurück.

Doch der Verbleib in der Familie ist eine Frage der Zeit - die Eltern werden älter und können die Versorgung ihrer inzwischen erwachsenen Kinder auf Dauer nicht übernehmen. Abhängig von der verfügbaren Information erscheint oft eine Heimunterbringung geistig behinderter Menschen als einziger Ausweg.

2. Konzeptionelle Ausrichtung

Das fib-Konzept (fib e. V.: Verein zur Förderung der Integration Behinderter) versteht sich als Antwort auf diese unzureichenden Lebensbedingungen von erwachsenen geistigbehinderten Menschen. Wir beziehen uns auf die in der sonderpädagogischen Diskussion weitgehend anerkannten Grundsätze der Normalisierung, der Gemeindenähe, der Dezentralisierung, auf die wir an dieser Stelle leider nicht näher eingehen können.

Ursprünglicher Ansatzpunkt für unsere konkrete Arbeit Mitte der 80er Jahre war eine Art "gestuftes Wohngruppenmodell" mit verschiedenen Lern- und Selbständigkeitsstufen. Innerhalb eines Verbundystems unterschiedlicher Wohngemeinschaftsformen sollte das selbständige Leben in der eigenen Wohnung trainiert werden. Die einzelnen Wohngruppen sollten sich in Trägerschaft des Vereins befinden und sich in folgende Stufen untergliedern:

  • intensiv betreute WG ("rund um die Uhr")

  • ambulant betreute WG

  • selbständige WG

  • Beratungsstelle als Bindeglied

Die einzelnen Wohngruppen unterschieden sich also hinsichtlich der Betreuungsintensität und somit auch nach der Selbständigkeitsstufe der jeweiligen BewohnerInnen.

Sowohl konzeptionelle Überlegungen als auch erste Praxiserfahrungen zeigten, daß dieses theoretische Konstrukt die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten (Bedürfnisse, Interessen, Formen des Zusammenlebens) immer noch zu sehr einschränkte und bereits von vornherein kanalisierte. Unsere konzeptionellen Vorgaben waren noch immer strukturell starr und reglementierend.

Die Konsequenz aus der Verwirklichung eines solchen Konzepts hieße Zusammenfassung und Einstufung behinderter Menschen nach ihrem Selbständigkeitsgrad sowie Einordnung in die Trägerschaft einer - wenn auch ambulanten - Institution. Damit wäre zwar der Abschied vom Heim vollzogen, jedoch lediglich zugunsten einer Unterbringung mit teilstationärem Charakter; die Interessen desTrägerverbandes (z. B. auch nach Auslastung, der vorhandenen Plätze) hätten in einem solchen Modell noch immer ein starkes Gewicht zu ungunsten der Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen.

Die konzeptionelle Zielrichtung des fib-Wohnprojektes verlagerte sich hin zur rein ambulanten Betreuung geistig behinderter Menschen in ihrer eigenen Wohnung zu ihren eigenen Bedingungen, d. h. sowohl orientiert an ihren individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten als auch an ihren jeweiligen Wünschen und Interessen. Konkret für die Praxis: der behinderte Mensch selbst wählt die Form, wie er wohnen möchte: allein - zu zweit - als Paar - in einer Wohngemeinschaft - mit anderen behinderten und/oder nichtbehinderten Menschen ...

Es gibt keine vorgegebenen Strukturen hinsichtlich der Wohnform mehr; wir bieten institutionell keine Wohnstättenplätze an, die bei Bedarf - oder auch nach längerem Leerstehen - aus wirtschaftlichen Erwägungen aufgefüllt werden müssen.

Bei Neuanfragen versuchen wir, gemeinsam mit den Betroffenen Wünsche und Interessen einerseits, sowie Art und Ausmaß der geforderten Hilfen andererseits zu ermitteln und daraus realisierbare und befriedigende Wohnformen zu entwickeln. Dabei wird die individuell notwendige Unterstützung immer wieder neu den aktuellen Entwicklungen und Bedingungen angepaßt, also flexibel gehandhabt, anstatt von vornherein pauschal einen fixen Betreuungsbedarf anzusetzen.

Das heißt dann auch, daß es keinen vorgegebenen "Mündigkeitsgrad", weder hinsichtlich Pflegeintensität noch hinsichtlich Selbständigkeit, mehr geben darf. Auch sogenannte "schwerstbehinderte Menschen", die als "Restgruppe" immer wieder gerne als nicht integrationsfähig dargestellt werden, müssen in diese Form der Hilfe mit eingeschlossen sein.

Immer wieder erregt der Begriff "Kunde/Kundin" Anstoß. Wir verwenden ihn absichtlich, um den Dienstleistungscharakter unserer Arbeit zu betonen. Er soll verdeutlichen, daß die ambulanten Dienste des fib abgerufen werden können, ähnlich wie die Dienste eines Rechtsanwaltes oder Handwerkers. Uns wird vorgeworfen, dieser Begriff verschleiere das reale Machtgefälle. Wir sind uns dessen bewußt, verwenden aber trotzdem diesen Begriff lieber, als von "Betreuten" oder "zu Betreuenden" o. ä. zu sprechen.

3. Was machen wir konkret?

Ein wichtiger Bestandteil unserer Konzeption ist es, unsere Kundinnen zu befähigen, die für sie wichtigen Dinge selbständig zu regeln. Wir wollen nichts "für" sie tun, sondern ihnen dabei helfen, es selbst zu tun. Das fängt bei der Wohnungssuche an. Wer sich an uns wendet, wird in der Regel erst einmal enttäuscht, weil wir keine Wohnung anzubieten haben, die man sich angucken kann. Wir besprechen dann die verschiedenen Möglichkeiten, an Wohnungen zu kommen. Je nach Situation der Kundinnen beteiligen wir uns mehr oder weniger intensiv bei der anschließenden Wohnungssuche.

Die katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt hatte zur Folge, daß trotz der Unterstützung der Mitarbeiterlnnen bei der Wohnungssuche einige Anfragen im Wohnprojekt nicht zum Zuge kamen. Wir haben daraufhin - angeregt durch ähnliche Initiativen - ein neues Konzept entwickelt. Kerngedanke dabei ist es, dem Personenkreis geistigbehinderter Menschen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus ein "Belegrecht" zu sichern, welches durch Zuschüsse oder Darlehen des Landeswohlfahrtsverbandes bzw. des Landes Hessen an gemeinnützige Wohnungsbauträger gesichert wird. (Dokumentation des fib e. V. 1993)

Es ist schwierig zu erklären, was wir jeweils konkret tun, da dies immer von den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kundinnen bestimmt wird. Wir wollen in Schlagworten andeuten, wie unsere Handlungsfelder ungefähr aussehen:

a. Wohnungssuche

Nachdem Wünsche und Vorstellungen bezüglich der erhofften Wohnsituation abgeklärt sind, wird versucht, eine entsprechende Wohnung zu finden. Viele Kundinnen neigen dazu, utopische Vorstellungen zu entwickeln, aber dann das erstbeste freie Zimmer zu nehmen. Hier versuchen wir, Vor und Nachteile darzustellen. Wir respektieren aber letztlich die Entscheidung des/der Kundin und helfen bei der Organisation des Umzugs. Bei Menschen mit starken Beeinträchtigungen ist es wichtig, auch auf einen sozialen Wohn- und Lebenszusammenhang hinzuwirken, der den persönlichen Bedürfnissen gerecht wird. Wir unterstützen daher das Entstehen von Wohngemeinschaften, auch mit Nicht-Behinderten.

b. Absicherung des Lebensunterhalts

Je nach beruflicher und finanzieller Situation zeigen wir auf, welche Unterstützungs- und Förderungsmöglichkeiten bestehen. Wir helfen bei den Anträgen und machen Finanzierungspläne bis hin zu Regelungen bezüglich Geldeinteilung. Diese Regelungen sind aber freiwillig, da unsere KundInnen meist nicht entmündigt und daher voll geschäftsfähig sind. Der Umgang mit dem zur Verfügung stehenden Geld ist allerdings bei vielen ein starker Konfliktpunkt. Die Konsumanreize sind gewaltig, die Geldmenge aber ist winzig.

c. Erkundung des Wohnumfelds

Wir helfen beim Kennenlernen von Einkaufsmöglichkeiten, Kneipen, Friseur. Wir gucken, wo die Wäsche gewaschen werden kann, denn wer hat schon eine eigene Waschmaschine? Weiter ist wichtig: Wo ist die nächste Bank? Wo fährt welcher Bus hin? Zu welchem Arzt kann ich gehen?

d. Wohlfühlen in der Wohnung

Sich in der eigenen Wohnung wohlzufühlen, heißt z.B., sich nach eigenen Vorstellungen einzurichten, aber auch zu kochen und zu putzen und gemeinschaftliche Regelungen einzuhalten.

e. Soziale Kontakte

Wer umzieht, muß neue Kontakte knüpfen, verliert alte Bindungen (vor allem beim Wohnortwechsel). Wir sind behilflich bei Nachbarschaftskontakten, bei Besuchen von Vereinen, Kirchen und anderen stadtteilbezogenen Initiativen, sofern dies unsere KundInnen wünschen. Wir erleben auch, daß unsere KundInnen uns allumfassend in Beschlag nehmen wollen. Keine klare Grenzziehung ist möglich zwischen Arbeit und Freundschaft.

Eine unserer KundInnen hat einen festen Freund gefunden. Seither nimmt sie unsere Hilfe nicht mehr in Anspruch. Sie kann sich jederzeit wieder an uns wenden. Aber das ist uns ganz wichtig: Ambulante Hilfe kann auch aufhören.

f. Arbeit

Wir halten prinzipiell eine angemessene Tätigkeit für jeden Menschen für erstrebenswert. Aber ambulante Hilfe steht auch allen zur Verfügung, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht berufstätig sind. Wir knüpfen Kontakte zum Arbeitsamt, in Einzelfällen auch mal zu einem Arbeitgeber, wollen aber nicht für unsere KundInnen zum Arbeitsvermittler werden.

g. Freizeitgestaltung

Selbständig leben heißt auch, freie Zeit zu nutzen und auszufüllen. Wir geben Tips und Anregungen, empfehlen als Anlaufstelle und für Urlaubsmöglichkeiten die AG Freizeit, schauen gemeinsam die VHS Programme an, oder überlegen mit unseren KundInnen, wie sie sonst ihre freie Zeit nutzen können. Gerade bei Beschäftigungslosigkeit hat dies einen großen Stellenwert. Die meisten Menschen mit geistiger Behinderung müssen von Sozialhilfe leben. Der Lebensunterhalt ist damit abgesichert, Eis essen, ins Kino gehen, Wochenendausflüge, ins Schwimmbad gehen etc. können sich unsere KundInnen nur in beschränktem Maße leisten. Individualurlaub ist meist schon wegen der Notwendigkeit einer Begleitperson für unsere KundInnen fast unmöglich. Aber auch hier gilt: Was gemacht wird, bestimmt der/die Kunde/Kundin. Wir können nur vorschlagen. Wer nichts tun will, soll und darf faulenzen.

h. Krisenmanagement

Immer wieder geraten Menschen in Krisen: Beziehungen zerbrechen, Diskriminierungen werden erlitten, Arbeitsplätze sind gefährdet, Krankheiten, Enttäuschungen, Zwischenfälle machen das Leben schwer. Wir versuchen, Hoffnung zu wecken und Perspektiven aufzuzeigen. Wir sind aber keine Therapeuten. Wo psychische Schwierigkeiten zu stark sind, raten wir zur Therapie bei Fachleuten. Wir ziehen unseren KundInnen ja auch keine Zähne.

i. Öffentlichkeitsarbeit

Öffentlichkeitsarbeit bedeutet, auf sich aufmerksam zu machen, damit potentielle KundInnen vom Angebot des ambulanten Wohnen erfahren. Es ist aber nicht nur unser Anliegen, neue Kundinnen zu "werben", sondern auch, anderen Vereinen und Trägern Anregungen für ambulante Pädagogik zu geben. Trotz zunehmender Anerkennung in Fachkreisen bestehen gegenüber dem Konzept ambulanter Hilfen bei vielen Mitarbeiterinnen und Verantwortlichen traditioneller Einrichtungen der "Behindertenhilfe" und nicht zuletzt bei Eltern noch nach wie vor Zweifel, ob dies eine adäquate Hilfe für geistigbehinderte Erwachsene ist.

Zur Zeit wird überlegt, wie Eltern potentieller Kundlnnen über unsere Arbeit informiert werden können. Eltern, die über den Auszug ihrer Tochter/ihres Sohnes nachdenken, wollen ihre "Kinder" gut versorgt wissen. Formen ambulanter Hilfen sind nur wenig im Bewußtsein der Eltern.

Wege, um Informationen an Eltern weiter zu leiten, können Elternabende in Schulen für Praktisch Bildbare, Integrationsklassen und in Werkstätten für Behinderte sein. Wir versuchen immer wieder, unsere Kundinnen in solche Veranstaltungen mit einzubeziehen und von ihren Erfahrungen zu berichten. Öffentlichkeitsarbeit ist ein unentbehrliches aber schwieriges Unterfangen. Unser Konzept zu verbreiten, heißt zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch vorwiegend, Überzeugungsarbeit zu leisten. Um die Interessen der Betroffenen durchsetzen und eine breitere Anerkennung ambulanter Hilfen im Bereich des Wohnens erreichen zu können, müssen diese Themen immer wieder angesprochen und öffentlich gemacht werden. Nur so können alte Vorurteile und Denkstrukturen aufgebrochen werden.

CHECKLISTE

Der Weg in die eigene Wohnung.

Kennenlernen

Nach der ersten Kontaktaufnahme und den ersten Gesprächen beginnen wir mit der sogenannten Vorlaufphase, wenn nicht schon gleich ein geeigneter Wohnraum zur Verfügung steht. In der Regel treffen wir uns mit dem/der Kundin eine Stunde pro Woche regelmäßig bis zum Einzug in die eigene Wohnung. Diese Zeit wird genutzt, um Wünsche und Vorstellungen genauer zu erfahren und um Formalitäten zu erledigen bzw. einzuleiten, soweit jetzt schon möglich. Bei Kundinnen von außerhalb besteht die Möglichkeit, über die AG Freizeit an einem Erholungsurlaub zum Kennenlernen teilzunehmen.

Finanzierung der Betreuung

Der/die Kundin stellt einen Antrag auf Eingliederungshilfe nach § 39/40 BSHG beim örtlichen Sozialhilfeträger (ÖSHT), auch für die Vorlaufphase.

Ab einem Schlüssel 1 : 12 (ca. 2 Betreuungsstunden pro Woche) übernimmt der überörtliche Sozialhilfeträger (ÜSHT, Landeswohlfahrtsverband) die Finanzierung der Betreuungskosten, für einen höheren Schlüssel (1 : 6 oder 1 : 8) muß ein extra Antrag auf verbesserten Betreuungsschlüssel gestellt werden.

Geht die bewilligte Stundenzahl über den Schlüssel 1 : 6 (bzw. 4,5 Stunden pro Woche) hinaus, finanziert der ÖSHT zusätzlich bis zu 11 Stunden pro Woche. Das Ganze wird über den ÖSHT abgewickelt, der die entsprechenden Anträge an den LWV weiterleitet.

Das Sozialamt erwartet eine Begründung des Antrags. Wir schlagen eine gemeinsam mit den KundInnen geschätzte Stundenzahl pro Tag bzw. pro Woche vor. Die Kundinnen werden daraufhin beim Gesundheitsamt amtsärztlich untersucht. Dieses Gutachten dient als Grundlage für die Bewilligung der Stundenzahl und wird in regelmäßigen Abständen wiederholt, meist jährlich.

Finanzielle Starthilfen

Die Kundinnen haben einen Anspruch auf Starthilfe und auf eine Austattungsbeihilfe, sofern sie über wenig Geld verfügen.

Kommen die Kundinnen aus einer stationären Einrichtung, so übernimmt in Hessen der ÜSHT diese Beihilfen. Sie sollten frühzeitig beantragt werden, da die bürokratischen Mühlen auch hier äußerst langsam mahlen.

Wenn nachgewiesen werden kann, daß auf anderem Wege keine Wohnung zu finden ist, übernimmt das Sozialamt Maklergebühren. In der Regel genügt als Nachweis monatelanges Suchen und ein bis zwei selbst aufgegebene Anzeigen. Auch die Übernahme einer Kaution kann beantragt werden.

Wohnungssuche

Der/die Kundin sucht sich eine Wohnung. D. h. er/sie geht zum Wohnungsamt, beantragt einen Wohnberechtigungsschein, sofern das Einkommen nicht zu hoch ist, und läßt sich in die Vermittlungskartei aufnehmen. Er/sie gibt Anzeigen auf und forstet regelmäßig alle Angebote durch ... Bei all diesen Aktivitäten begleiten wir, soweit nötig.

Finanzierung des Lebensunterhalts

Der/die Kundin stellt, sofern er/sie nicht über ein ausreichendes Einkommen verfügt, einen Antrag auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Das kann auch schon während der Vorlaufphase erledigt werden. Arbeitet der/die Kundin in einer Werkstatt für Behinderte oder einer vergleichbaren Einrichtung, kann ein Mehrbedarfszuschlag bewilligt werden. Zusätzlich können einmalige Hilfen wie z. B. Kleidergeld, Geld für eine Waschmaschine, Zuschuß zu einer Freizeit u. ä. beantragt werden.

Ausführliche Informationen zu allen Ansprüchen gegenüber den Sozialämtern siehe: "LeitfadenSozialhilfe für Behinderte". Bestellung an: AG TUWAS, FB Sozialarbeit, Limescorso 5, D-60439 Frankfurt/M.

Ist endlich eine Wohnung gefunden, wird noch Wohngeld bei der Wohngeldstelle beantragt und dann ...

...KANN´S LOSGEHEN.

4. Lern-Erfahrungen

Was wir im Laufe unserer Arbeit gelernt haben:

a) Es ist ein Unding, wenn man Leute in ein bestehendes Konzept einpassen will oder muß. Ambulante Pädagogik (um ein neues Schlagwort zu gebrauchen) muß sich an dem ausrichten, was der/die Einzelne will und braucht. Kundinnen, bei denen psychische Probleme in den Vordergrund treten, benötigen psychotherapeutische bzw. psychiatrische Hilfe, die wir nicht leisten können.

b) Leben kann man nicht trainieren. Es gibt keine Punktzahl, die ein Mensch erst erreichen muß, um in seiner eigenen Wohnung leben zu können. Nur Art und Umfang müssen variieren.

c) Man muß sich voneinander trennen können. Deshalb sollten Wohnung und ambulante Hilfe nicht von ein und derselben Einrichtung angeboten werden.

d) Ambulante Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung müssen überall angeboten werden. Es ist empörend, daß Menschen nur deshalb ihren Wohnort verlassen müssen, weil es dort kein entsprechendes Angebot gibt.

e) Die Hilfe in der eigenen Wohnung ermöglicht selbstbestimmtes Leben.

f) Entgegen des Grundsatzes der Selbstbestimmung unserer Kundschaft werden Entscheidungen immer wieder durch die Interessen des sozialen Umfeldes beeinflußt. Unsere Aufgabe ist es, unseren Kundinnen zu helfen, ihre eigenen Vorstellungen gegenüber den Interessen von Eltern, Angehörigen und Institutionen durchzusetzen. So fand z.B. im Sommer 1994 ein Selbstbehauptungskurs zumThema "Ich laß mir nichts gefallen!" statt.

g) Darüber hinaus ist ein Ziel, daß unsere Kundlnnen auch innerhalb der Betreuung Interessenskonflikte artikulieren können. Aus diesem Grunde bieten wir in regelmäßigen Abständen Kundschaftstreffen an. 1994 fand z. B. ein Kundschaftswochenende statt, an dem ein neuer Betreuungsvertrag mit Hilfe der Kundinnen entwickelt wurde. Ein weiterer Aspekt der Selbsthilfe innerhalb der Kundschaft ist die Betroffenenberatung ("peer counseling") bei Einzug in eine neue Wohnung. Kundinnen, die bereits Erfahrungen mit ambulanten Hilfen gemacht haben, können am besten vermitteln, welche Schwierigkeiten aber auch welche Entwicklungsmöglichkeiten ein selbständiges Leben bieten kann.

Was wir gelernt haben: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!

Abzuwarten, bis alle Widerstände und Schwierigkeiten geklärt sind, hätte bei unserem Projekt bedeutet, daß wir bis heute noch nicht angefangen hätten. Andererseits darf man natürlich nicht zu leichtfertig ins "kalte Wasser" springen.

Unsere Kundinnen sind darauf angewiesen, daß unsere Hilfeleistungen auch wirklich erbracht werden können. Ohne eine realistische Hoffnung, auch nach Auslaufen unserer anfänglichen ABM Stellen noch weiterarbeiten zu können, wäre ein Anfang allzu leichtfertig gewesen. Wir hören oft den Einwand: Euer Modell ist doch nur etwas für relativ leicht "Behinderte". Dies stimmte nur für die Anfangszeit unseres Projekts. Da waren wir selbst noch unsicher, denn es gab keine Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen konnten. Seit Jahren betreuen wir z. B. eine Kundin ambulant, die wegen ihrer Schwierigkeiten von allen am Ort befindlichen Wohnstätten abgelehnt wurde. Auch pflegerische Hilfen werden zunehmend Bestandteil unserer Arbeit. 1992 wurde die erste Rund-um-die-Uhr-Hilfe für einen jungen Mann in einer Wohngemeinschaft mit Nicht Behinderten aufgenommen (s. "Behindertenpädagogik", Heft 2/93; Dokumentation fib e.V. 1993)

5. Finanzierung

Grundsätzlich sind zwei Dinge auseinanderzuhalten: zum einen die Finanzierung des Lebensunterhalts der Betroffenen und zum anderen die Bezahlung der ambulanten Hilfen.

Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt gibt es im Prinzip keinen Unterschied zu nicht behinderten Personen mit Ausnahme eines Zuschlages für Erwerbsunfähigkeit nach § 23, Absatz 3 BSHG für Behinderte, die älter als 15 Jahre sind und nach § 40, Absatz 1 BSHG Eingliederungshilfe erhalten, oder für Erwerbstätige, die trotz beschränkten Leistungsvermögens einem Erwerb nachgehen, nach § 23, Absatz 4 BSHG. Dies ist vor allem wichtig für Mitarbeiter der Werkstatt für Behinderte. Einkommensgrenzen und Unterhaltsverpflichtungen bleiben bestehen und unterscheiden sich nicht vom Regelfall. Das ist in folgender Hinsicht problematisch: Sind erwachsene behinderte Menschen in einer Einrichtung stationär untergebracht, ist der Lebensunterhalt durch Leistungen des überörtlichen Sozialhilfeträgers abgedeckt. Die Angehörigen werden in der Regel damit nicht belastet. Sind behinderte Menschen nicht stationär untergebracht, sind die Angehörigen bei entsprechendem Einkommen unterhaltspflichtig, also finanziell wesentlich schlechter gestellt.

Die Anerkennung der ambulanten Hilfen ist mit einigen Tücken durchsetzt:

Mittlerweile ist es weitgehend unstrittig, daß die ambulante Hilfe unter die Eingliederungshilfe nach §§ 39 und 40 BSHG fällt.

Nach einigen Jahren Anlaufschwierigkeiten hat sich der örtliche Sozialhilfeträger auf dieser Grundlage zur Finanzierung bereit erklärt. Er bezeichnet dies bisher als eine "freiwillige Leistung" und sieht es deshalb auch als berechtigt an, den Umfang der bezahlten Stunden zu begrenzen. Zur Zeit haben wir vom örtlichen Sozialhilfeträger eine Obergrenze von 48 Stunden im Monat gesetzt bekommen, die sich ausschließlich auf psychosoziale Hilfen bezieht. Bei einigen KundInnen werden ergänzende pflegerische Hilfen durch die Pflegekassen bewilligt.

Der Landeswohlfahrtsverband (LWV) hat über Jahre die Anerkennung des fib e.V. im Rahmen der Richtlinien des "Betreuten Wohnen" abgelehnt. Der Umfang der vom fib e. V geleisteten Hilfen sprengt bei weitem die darin zugrunde gelegten Personalschlüssel von 1 : 12 bzw. in "begründeten Einzelfällen" von 1 : 6. Nach langen Verhandlungen kam es 1992 zu einer Einigung: seitdem akzeptiert der LWV, daß seine Finanzierung nur eine Anteilsfinanzierung ist, die durch den örtlichen Sozialhilfeträger bis zum eigentlichen Hilfebedarf aufgestockt wird. Insgesamt gesichert ist durch die Addition beider Finanzierungen daher ein Bedarf psychosozialer Hilfen bis zu 15,5 Stunden in der Woche, in Einzelfällen ergänzt durch pflegerische Hilfen.

Der hessische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Urteil von 7. Juli 1994 (Az: 9 UE 334/91) rechtskräftig entschieden, daß bei einer grundsätzlichen Zustimmung des Sozialhilfeträgers zur ambulanten Eingliederungshilfe als angemessenere Form der Hilfe ihm kein Ermessensspielraum durch die Festlegung zeitlicher Obergrenzen bleibt. Das Auswahlermessen der Behörde beschränkt sich darauf, die Hilfeempfänger auf eine andere "geeignete" Maßnahme, also eine faktische Unterbringungsmöglichkeit der teilstationären oder stationären Hilfe zu verweisen, soweit dies mit dem Wunsch und Wahlrecht zu vereinbaren ist.

In einem anderen Verfahren lehnt der Sozialhilfeträger folgerichtig die Aufnahme der betroffenen Person ins "Betreute Wohnen" von vornherein ab, da der Hilfeumfang zu groß und nur in einer (teil)stationären Einrichtung zu leisten sei. An dieser Einschätzung hat sich trotz des seit 1992 angetretenen praktischen Beweises, daß diese Hilfe ambulant zu leisten ist, nichts geändert.

Die Durchsetzung gleicher Rechte wie sie Menschen mit körperlichen Behinderungen in der Regel zugestanden werden, auch wenn sie rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen sind, wird für Menschen mit geistiger Behinderung noch einige Zeit in Anspruch nehmen ...

Allen Widrigkeiten zum Trotz hält der fib e. V an dem Ziel fest, ambulante Hilfen allen Menschen mit Behinderungen, also auch bei intensivem Hilfebedarf, zu erschließen. In den konzeptionellen Vorüberlegungen wurde deutlich, daß unsere Verantwortung, neben der Organisation der Hilfen, auch in der Unterstützung des Aufbaus eines tragfähigen sozialen Lebensrahmens für die Betroffenen besteht. Deshalb haben wir verschiedene Formen des Zusammenlebens angeregt und unterstützt. Ein wichtiger Gesichtspunkt dabei war und ist, den Betroffenen auch außerhalb der professionellen Hilfe ein Lebensumfeld anbieten, in dem Mitbewohner Unterstützung geben können.

Weitere Informationen hierzu sind der aktuellen Dokumentation des fib e.V. von 1996 oder dem Buch "Leben auf eigene Gefahr" zu entnehmen.

6. Aktueller Stand des fib Wohnprojekts

Einige Zahlen und Informationen aus unserer Statistik:

Zahl der Kundinnen und Kunden: 39

Wie war die Wohnsituation vor Beginn der Hilfe für den fib e.V.

Elternhaus: 16

Heim: 10

Psychiatrie: 5

Betreuung durch andere Institutionen: 2

eigene Wohnung ohne Betreuung: 5

Pflegestelle: 1

Aktueller Stand des fib Wohnprojekts: Einige Zahlen und Informationen aus unserer Statistik (Anm. der bidok Redaktion: Tabellen wurden geändert für brail-board)

Welche Wohnsituation ist jetzt erreicht:

Alleinlebend: 23

in Partnerschaft: 10

Wohngemeinschaft mit Nichtbehinderten: 3

Zimmer in Gemeinschaftswohnung: 3

Wie ist die Arbeitssituation der KundInnen:

allgemeiner Arbeitsmarkt: 3

Integrationsfirmen: 2

Werkstatt für Behinderte: 18

Außenarbeitsplatz zur Werkstatt f. Behinderte: 3

Ausbildung: 2

Schule: 2

Arbeitslos: 8

ehemaligen KundInnen: 14

Grund für Beendigung der Betreuung:

Verselbständigung: 5

Umzug in andere Regionen: 2

Heimunterbringung: 2

Rückkehr ins Elternhaus: 2

Ablehnung der Hilfe: 2

Verstorben: 1

Hier nun einige Informationen zu den MitarbeiterInnen:

Für den Arbeitsbereich "Unterstütztes Wohnen" stehen zur Zeit sieben Personalstellen zur Verfügung.

Diese Stellen verteilen sich auf:

  • elf hauptamtliche Mitarbeiterinnen mit TeilzeitArbeitsverträgen (maximal 30 Std./Woche)

  • vierweitere hauptamtliche Mitarbeiterinnen, die mit geringerem Stundendeputat im Arbeitsbereich tätig sind

  • zusätzlich nebenamtliche Mitarbeiter als Aushilfskräfte

  • wir beschäftigen auch Praktikantinnen.

Die Mitarbeiterinnen verfügen durchwegs über eine sozialpädagogische Qualifikation. Vorrangige berufliche Ausbildungen sind die als Diplom-Pädagogen, Diplom-Sozial-pädagogen.

Besonders hervorzuheben ist das hohe Maß an Kontinuität bei den MitarbeiterInnen. Sieht man von den Praktikanten- und Aushilfskräften und diversen Erziehungsjahren ab, ist in den zwölf Jahren Projektgeschichte nur ein einziger Mitarbeiter vom fib e. V. weggegangen. Bemerkenswert ist dies auch, weil die Arbeitszeitverteilung äußerst ungünstig ist: in aller Regel finden die Betreuungszeiten im Laufe des Nachmittags, am Abend bzw. am Wochenende statt. Darin ist auch der Grund für die durchgängige Teilzeitarbeit zu finden, da sich nur auf diesem Weg ein vernünftiges Verhältnis zwischen Arbeit und persönlicher Freizeit organisieren läßt.

(Wolfgang Urban ist Mitarbeiter im fib e.V. seit 1983,Geschäftsführung; inhaltliche Schwerpunkte:ambulantes betreutes Wohnen, Beratung familienentlastende Dienste)

Quelle:

Wolfgang Urban: Ambulante Hilfen zum selbständigen Wohnen für geistig behinderte Erwachsene

Erschienen in: Zeitschrift "Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft" 1/97, Seite63-70

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.06.2010

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