"Männer trinken Bier aus Flaschen!"

Zur Diagnostik bei "geistiger Behinderung" mithilfe der Theorie semantischer Netzwerke

Autor:in - Wolfgang Podlesch
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2003; Thema: Behindert sein oder behindert werden, S.54-57 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2003)
Copyright: © Wolfgang Podlesch 2003

Zur Diagnostik bei "geistiger Behinderung" mithilfe der Theorie semantischer Netzwerke

Gefragt ist die diagnostische Kompetenz aller pädagogischen Fachkräfte. Darauf hat Hans Eberwein in kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit überholten Konzepten immer wieder hingewiesen und insbesondere die Lernprozesse begleitende Tätigkeit betont. Gut beraten ist, wer dabei auf theoretische Konstrukte zurückgreifen kann, die die subjektiven Handlungsgründe der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen aufklären. Sie schützen vor ungerechter Beurteilung und eröffnen die Chance, Orientierungshilfen zur Vermeidung unnötiger Misserfolge zu finden. Insbesondere für Kinder und Jugendliche mit "geistiger Behinderung" ist eine in diesem Sinne adäquate Unterstützung von großer Bedeutung, weil sie mehr als andere in Schule und Unterricht mit ihrem Verhalten und ihren Leistungen auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Ein Beitrag dazu soll die Anwendung der neurobiologischen Erkenntnisse im Anschluss an Spitzer (1996) darstellen. Ich gehe von folgenden vier Beispielen aus und versuche anschließend, die Auffassungen von Spitzer zur Aufklärung der überraschenden Äußerungen bzw. Handlungen der Schülerinnen und Schüler zu nutzen.

"Männer trinken Bier aus Flaschen!" So lautete die Antwort eines Schülers mit ‚geistiger Behinderung' einer neunten Realschulklasse auf die Frage "Nenne Unterschiede zwischen Männern und Frauen!" im Test nach einem Projekt zum Thema "Liebe, Sex und Zärtlichkeit". Die Lehrerin war ebenso verblüfft wie ratlos. Julians Aussage zum Verhalten von Männern beim Biertrinken könne sie ja aufgrund eigener Beobachtungen bestätigen, aber zum Unterrichtsthema passe sie ganz und gar nicht. Richtig und falsch zugleich. Wie konnte es dazu kommen?

Schülerinnen und Schüler einer Gesamtschule hatten im Arbeitslehreunterricht aus Leisten Nägelkästen hergestellt (s. Abb. 1). An der Tafel stand unter der Umrissskizze die Frage: "Wie viel m Leisten haben wir für die Nägelkästen gebraucht?" Ein Schüler mit Lernschwierigkeiten sagte sofort "sieben". Der Lehrer war damit nicht einverstanden und fragte ungehalten zurück: "Für alle Kästen sieben Meter?"

Abb. 1: Nägelkästchen aus 7 Leisten zusammengesetzt

Im Mathematikunterricht ging es um die Entwicklung von Zahlbegriffen im Zahlenraum 0 bis 10. In einer Übungsphase fragte die Lehrerin: "Was kommt nach 8?" Spontane Antwort einer Schülerin: "Die Tagesschau".

Ein Lehrer hatte beobachtet, dass ein Schüler mit ‚geistiger Behinderung' beim Abmessen von Holzteilen im Werkunterricht das Lineal nicht richtig benutzte, z. B. es nicht parallel zur Holzkante positionierte, den Nullpunkt des Lineals nicht an den Anfang des Brettes legte usw.

Zur Unterstützung gab er dem Jungen einen Arbeitsbogen, auf dem ein Brett mit dem darauf liegenden Lineal in korrekter Lage zu sehen war, und bemerkte: "Wie du Längen richtig markierst, kannst du auf dem Bogen sehen."

Abb. 2: Lineal mit Papierblatt

(Abb. 2) Der Schüler schaute sich den Bogen an, holte aus dem Werkzeugschrank ein Metalllineal legte es "richtig" auf das Blatt und blickte sichtlich zufrieden zum Lehrer.

Abb. 3: Semantisches Netz (Spitzer 1996, 244)

Nach Spitzer können Begriffe und ihre Beziehungen untereinander durch semantische Netzwerke wiedergegeben werden (s. Abb. 3).

Die Bedeutung eines Wortes ist durch so genannte Knoten repräsentiert sowie durch Nachbarschaftsbeziehungen. Die Zahlen geben die relative Häufigkeit von Assoziationen in Prozent an, die an Versuchspersonen gewonnen wurden. Nach Spitzer treten beim Sprechen und Hören sog. semantische Bahnungseffekte auf (s. Abb. 4), d. h. ein aufgenommenes Wort aktiviert "benachbarte" Wörter. Bei der "fokussierten" Aktivierung werden Nachbarknoten nur in geringem Umfang angestoßen (dunkelgrau), im Falle der unfokussierten Aktivierung kommt es zu einer stärkeren Mitaktivierung von Nachbarwörtern (hellgrau).

Abb. 4: Semantisches Netzwerk (Spitzer 1996, 281)

Spitzer gibt in der folgenden Darstellung (Abb. 5) noch einmal anschaulich wieder, wie unterschiedliche Aktivierungen im Gehirn vorstellbar sind. Bei fokussierter Aktivierung (grau) ist der nächste Knoten ("sauer") aktiviert, der Begriff "süß" praktisch nicht. Bei unfokussierter Aktivierung (hellgrau) wird zusätzlich "süß" mitaktiviert und kann dann zu überraschenden, unerwarteten Äußerungen führen.

Abb. 5: Aktivierung kurz nach Zugriff auf den Begriff "Zitrone" (Spitzer 1996, 283)

Im Beispiel "Nenne Unterschiede zwischen Männern und Frauen!" erfolgte bei Julian offensichtlich eine unfokussierte Aktivierung, so dass die durchaus bei Männern häufiger als bei Frauen vorherrschende Neigung, Bier aus der Flasche zu trinken, zum Zuge kam. Wer nun die Theorie semantischer Netzwerke kennt, kann mit dazu beitragen, die fokussierte Aktivierung und damit die richtige Antwort auszulösen, z. B. dadurch, dass der Testbogen durch Abbildungen von Frau und Mann den Kontext zum Unterrichtsprojekt herstellt.

Beim Nagelkastenbeispiel ist es offensichtlich durch die optische Nähe von "Wie viel" und "Leisten" spontan zum Abzählen der für den Kasten notwendigen Anzahl der Leisten gekommen und nicht zu der vom Lehrer gemeinten Gesamtlänge der Leisten in Metern, lediglich angedeutet durch m. Schon das ausgeschriebene Wort "Meter" hätte zu der erwünschten Fokussierung geführt.

Der semantische Bahnungseffekt im Tagesschaubeispiel lässt sich vermeiden, wenn beispielsweise - durchaus redundant - gefragt wird: "Welche Zahl kommt nach der Zahl "acht"?

Im Linealbeispiel fehlte dem Schüler der reale Bezug zum Werkstück, d. h. nicht die Abbildung des Brettes, sondern das reale Holzbrett als Vorlage hätte zur richtigen Handhabung des Lineals geführt.

Fazit

Uns allen sind Versprecher aus unserem Alltagsleben bekannt. Sie lassen sich durch die semantische Netzwerktheorie aufklären. Dass dieses Phänomen insbesondere bei Schülerinnen und Schülern mit ‚geistiger Behinderung' häufig auftritt, liegt an der Auslösung unfokussierter Aktivierungen. Diese sind vermeidbar, wenn durch einschränkende, Kontext beschreibende Hinweise und Hilfen fokussierte Aktivierungen erreicht werden.

Literatur

Spitzer, M.: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Heidelberg 1996.

Der Autor

Wolfgang Podlesch, Lehrer, Dipl.-Psychologe, Wiss. Oberrat am Berliner Institut für Schule und Medien (LISUM). Begleitung von Schulversuchen zur Integration von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen in Grund-, Ober- und Berufsschulen.

Thiloweg 1

D-13437 Berlin

E-Mail: wolfgang.podlesch@t-online.de

Quelle

Wolfgang Podlesch: "Männer trinken Bier aus Flaschen!" Zur Diagnostik bei "geistiger Behinderung" mithilfe der Theorie semantischer Netzwerke

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 1/2003; Reha Druck Graz, S.54-57

Stand: 09.02.2005

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