Netzwerkarbeit von und für Frauen mit Behinderung

Ein Plädoyer

Autor:in - Mathilde Niehaus
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/2001; Thema: Geschlecht: behindert Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2001)
Copyright: © Mathilde Niehaus 2001

Ausgangslage

Behinderung wird in Anlehnung an die "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung" (ICIDH-2, Beta-2 Entwurf vom 10. April 2000) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als komplexe Beziehung zwischen der körperlichen, geistigen und seelischen Verfassung einer Person und den Faktoren der physikalischen und sozialen Umwelt im Sinne einer dynamischen Wechselwirkung verstanden. Schätzungen des europäischen statistischen Amtes zufolge gelten in den Ländern der Europäischen Union ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung als behindert. Genaue Zahlen über die Größenordnung sind aber weder international noch in Österreich oder in Deutschland aufzufinden. Dies ist unter anderem in den sehr unterschiedlichen Erhebungsmethoden und Operationalisierungen der Definitionen von Behinderung begründet. Amtliche Zählungen liegen in der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) und in Österreich auf der Basis des Behinderteneinstellungsgesetzes (BEinstG) vor. Hier werden amtlicherseits die Personen erfasst, die der Gesetzeslage entsprechend einen sogenannten "Schwerbehindertenausweis" (in Deutschland) bzw. einen "Behindertenpass" (in Österreich) haben. Zu bedenken ist, dass mit Behinderungen sowohl im Sinne der WHO als auch des deutschen Schwerbehindertengesetzes oder des österreichischen Behinderteneinstellungsgesetzes beispielsweise auch Folgen von Herz-Kreislauferkrankungen sowie Funktionseinschränkungen der Atemwege und der Wirbelsäule gemeint sind, Einschränkungen und Beeinträchtigungen also, die für die Mitmenschen äußerlich kaum oder gar nicht erkennbar sind. Zu diesen Gruppen gehört die Mehrzahl der amtlich anerkannten "Schwerbehinderten" (in Deutschland) bzw. der "Begünstigten" (in Österreich). Angesichts der Schätzungen der EU, dass ungefähr jeder Zehnte und damit auch jede zehnte Frau behindert ist, kann nicht von einer kleinen gesellschaftlichen Randgruppe gesprochen werden. Die Zahl der amtlich anerkannten Behinderten in Österreich, der sogenannten begünstigten Behinderten, nimmt rasant zu. Nach Aussagen im Kommentar zum Behinderteneinstellungsgesetz (2000, S. 13) betrug die Zahl "1990 noch 43.147 und ist mit 1. Jänner 1999 um fast 75 % auf 75.231 gestiegen". Frauen sind allerdings in diesen amtlichen Erfassungen unterrepräsentiert (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 1997, Niehaus & Thimm 1998). Trotz der beträchtlichen Zunahme der amtlichen Anerkennung als begünstigte Behinderte und der insgesamt beachtlichen Größenordnung ist über die Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen in Österreich sehr wenig bekannt.

Initiativen von behinderten Frauen auf politischer Ebene: Gründung von Netzwerken

Frauen mit Behinderungen werden nicht nur in den amtlichen Statistiken untererfasst, sie sind auch auf politischer Ebene nicht ausreichend repräsentiert. Dass die Belange und Benachteiligungen von behinderten Frauen gesellschaftlich nicht ausreichend Gehör finden, ist insbesondere international immer wieder angemahnt worden (Niehaus 1996). Einige politisch besonders engagierte behinderte Frauen schlossen sich zusammen und bildeten Netzwerke. In Deutschland entwickelten sich in den einzelnen Bundesländern überparteiliche Zusammenschlüsse, die die Unterstützung der Landesministerien für Arbeit und Soziales oder die der Landesministerien für Frauenangelegenheiten suchten. Eine Vorreiterrolle übernahm das Land Hessen. Im Sommer 1992 wurde das "Hessische Netzwerk behinderter Frauen" als landesweiter Zusammenschluss gegründet. Zweimal im Jahr treffen sich Frauen mit Behinderungen und wählen aus ihrer Mitte ehrenamtliche Sprecherinnen, die die Öffentlichkeit, Parteien und Verbände über die Situation von behinderten Mädchen und Frauen und ihre doppelte Benachteiligung informieren. Rund zwei Jahre später gründeten dann in den Ländern Niedersachsen, Berlin und Hamburg behinderte Frauen weitere landesweite Netzwerke. In Nordrhein-Westfalen fördert das Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann zusammen mit der Selbsthilfe Behinderter ein Netzwerkbüro zur Unterstützung der ehrenamtlichen Netzwerkarbeit. Als Vorbild diente das Hessische Koordinationsbüro für behinderte Frauen, das ebenfalls aus Landesmitteln für die Belange der Informationsverbreitung, Interessenvertretung und Öffentlichkeitsarbeit für und von Frauen mit Behinderung finanziert wird. Die Netzwerkfrauen stellten Forderungen an die Politik mit der Folge, dass Wissenschaftlerinnen beauftragt wurden, in Zusammenarbeit mit den Betroffenen behindertenpolitische Leitlinien geschlechtsspezifisch auszuarbeiten. Die Landesministerien und das Bundesministerium gaben Gutachten und Studien zur Lebenssituation von Mädchen und Frauen mit Behinderungen in Auftrag (vgl. u. a. Niehaus 1997 für Nordrhein-Westfalen / Sellach, Heyer, Niehaus & Odrich 1999 für Schleswig-Holstein / im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1999 das Forschungsteam Eiermann, Ernst, Häußler, Helfferich, Lorenz, Riedel und Roth). Länderübergreifend fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziell eine "Bundesorganisationsstelle behinderte Frauen", um die Aufarbeitung der Benachteiligungen voranzutreiben.

Argumente für Vernetzungen von Frauen mit Behinderungen

Die Studien und Gutachten zur Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit Behinderungen ermöglichen erste Einblicke in die vielfältigen Risikolagen von Frauen mit Behinderungen. Sie verdeutlichen insbesondere die sozialen Schwierigkeiten und Abwertungen, mit denen sich Frauen mit Behinderungen im Alltag auseinandersetzen müssen. Die negativen gesellschaftlichen Bewertungen des "Behindertenstatus" tragen dazu bei, dass viele Betroffene sich zurückziehen und sich als ein Einzelschicksal sehen. Das kann zu Begleiterscheinungen führen wie dem Verlust des Selbstwertgefühls, zu Hilflosigkeit und zur Verminderung sozialer Kontakte (Niehaus 1993). Der Verzicht beispielsweise einiger Frauen auf den amtlichen Schwerbehindertenausweis / Behindertenpass kann als eine Reaktion auf die damit verbundenen negativen sozialen Bewertungen angesehen werden. Man/frau will nicht zu einer Gruppe gehören, die sozial abgewertet wird. Andererseits können die gesundheitlichen Einschränkungen oder Behinderungen aber nicht einfach (bzw. durch vielfältige Strategien) unsichtbar gemacht werden. Man/frau gehört doch dazu (Cloerkes 1986). Welche Möglichkeiten gibt es, aus diesem Dilemma herauszukommen und dem negativen Image entgegenzutreten?

Positive Beispiele, starke Frauen, die aus der Vereinzelung heraustreten und ihre Interessen öffentlich artikulieren, können Mut machen und Vorbild sein, aktiv zu werden. Um die Stärken und positiven Beispiele sichtbar zu machen, bedarf es einer Plattform, einer öffentlichen Bühne. Ein Netzwerk kann eine solche Plattform sein. Aus den Interviews im Rahmen des Gutachtens in Nordrhein-Westfalen zur Lebenssituation behinderter Frauen kommen im Folgenden einige Betroffene selbst zu Wort (Niehaus 1997). Frau L., schon seit Jahren in der Selbsthilfe Behinderter aktiv, verknüpfte mit dem Gutachten und der Netzwerkarbeit für und von Frauen mit Behinderung folgende Hoffnung:

"Wir werden es vielleicht schaffen, dass da mal bei der Landesregierung Gehör gefunden wird, wie auch immer. Und das ist eigentlich so mein Wunsch, weil ich - ja, ich weiß, wie viele gerne vertreten sein möchten, sich aber gar nicht raustrauen, auch aufgrund von Behinderungen, und ihre Forderungen und Wünsche gar nicht so artikulieren können, und ich denke, wenn man die motivieren kann und sagen kann: Macht doch mal was und trefft euch doch mal und kommt mal zusammen und sprecht mal darüber. Wo sind denn jetzt tatsächlich eure Probleme? Dass man dann auch wieder dieses Selbsthilfepotential fördern kann."

Wie können diese Wünsche - "sich Gehör verschaffen in der Politik", "Forderungen und Wünsche artikulieren", "sich trauen", "miteinander reden", "motivieren" und "Mut machen", "aktiv werden" - Wirklichkeit werden?

Bislang zählen Frauen mit Behinderungen nicht zu den artikulationsmächtigen Gruppen in der Politik. Wer hat schon von den Belangen beispielsweise erwerbsunfähiger oder pflegebedürftiger oder nichtberufstätiger Frauen mit Behinderungen gehört und wer setzt sich für sie ein? Aus den Erfahrungen im politischen Alltagsgeschehen ist bekannt, dass die Belange gesellschaftlich abgewerteter Gruppen wie die Gruppe der Sozialhilfeempfänger oder der Arbeitslosen oder der Behinderten nur dann auf der politischen Entscheidungsebene artikulations- und durchsetzungsfähig sind, wenn sie mit den Belangen der Beitragszahler, die in unserem Sozialsystem eine dominierende Rolle spielen, übereinstimmen oder durch Organisationen und Verbände unterstützt werden. Als unterstützende Organisationen und Verbände sind hier autonome Selbsthilfegruppen, die Bundes- und Landesarbeitsgemeinschaften Selbsthilfe, die Behindertenverbände und advokatorische Interessenvertretungen zu nennen. Ein Hauptproblem der Selbsthilfeorganisationen besteht nun darin, genügend aktive Mitglieder zu gewinnen und die Kontinuität der Arbeit zu gewährleisten. Als Barrieren, sich aktiv in einer Selbsthilfegruppe zu engagieren, wirken folgende schon genannte Faktoren: die schwierige Lebenssituation, die Stigmatisierung des Behindertenstatus, die Einzelschicksalshaltung u. v. a. m. Angesichts der Schwierigkeiten, überhaupt genügend aktive Mitglieder zu gewinnen, stellt sich die Frage: Wieso knüpft Frau L. nun die Hoffnung an ein Netzwerk von Frauen mit Behinderungen? Ist die Szene der Behindertenselbsthilfe nicht schon vielfältig genug?

Frau L. hat die Erfahrung gemacht, dass ihre Interessen als Frau mit Behinderung bisher nicht ausreichend in den klassischen Vertretungsorganisationen (wie z. B. Kriegsopferverbände) repräsentiert waren:

"Ich bin zwar auch noch in anderen Organisationen, aber da eher passiv, aber immer schon beobachtend, denn da lernt man schon das eine oder andere, was man dann woanders wieder verwenden kann. ... Und das ist also so ganz interessant eigentlich zu beobachten, dass in den meisten Organisationen wir auch - die, die ehrenamtlich engagiert sind und sich wirklich da reinhängen und die Arbeit machen, fast immer Frauen sind. Und wenn es dann eine Etage höher geht, nämlich dann so ein wenig Richtung Legislative, dann kommen nur noch Männer. Und das ist irgendwo auch nicht ganz richtig. Und das ist einfach 'ne Diskriminierung, der ich mich nicht weiter aussetzen möchte. Und das war eigentlich so mein Aspekt, dass ich gesagt hab', also irgendwo müssen die Frauen ja mal wieder 'n etwas intensiveres Sprachrohr bilden. Vor allen Dingen die behinderten Frauen."

Das Netzwerk will das Sprachrohr der Frauen und Mädchen mit unterschiedlichen Behinderungen sein und zwar nicht nur derjenigen, die bisher noch nicht den Weg in eine Selbsthilfegruppe gefunden haben, sondern auch der schon engagierten Frauen. Gerade sie können durch ihre Beobachtungen und Erfahrungen aus den Verbänden und Organisationen im Zusammenwirken mit den nichtorganisierten Frauen dazu beitragen, dass die vielfältigen Interessen der unterschiedlichen Frauen berücksichtigt werden. Die Belange beispielsweise erwerbsunfähiger oder pflegebedürftiger oder nichtberufstätiger Frauen mit Behinderungen sollen ebenso wie die der selbständigen oder berufstätigen Frauen artikuliert werden. Um dem oben genannten Hauptproblem der Interessenvertretung - Mitgliedergewinnung und Kontinuität der Tätigkeit - zu begegnen, bedarf es möglichst vieler aktiver Frauen und finanziell gesicherter Strukturen sowie einer aktiven Vernetzung mit den Behindertenverbänden und den Kooperationspartnern der Selbsthilfegruppen. Hier kommt es zu einer Gratwanderung zwischen Autonomie und Abhängigkeiten von Geldgebern und großen Verbänden, die allerdings zum Überleben der Netzwerke notwendig erscheint.

Zusammenfassend ergibt sich ein Plädoyer für Netzwerkarbeit in Österreich - im Sinne von "sich Gehör verschaffen in der Politik", "Forderungen und Wünsche artikulieren", "sich trauen", "miteinander reden" "Mut machen" und "aktiv werden" - zur Stärkung der vernachlässigten Interessen von Mädchen und Frauen mit Behinderung.

Literatur

Behinderteneinstellungsgesetz - kommentiert von Ernst, K. & Haller, A. (2000). Wien: Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (1997). Berufsverläufe und Lebensbedingungen von begünstigten behinderten Frauen und Männern. BMAGS: Wien.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.). (1999). Dokumentationen. Symposium "Frauen mit Behinderung - Leben und Interessen vertreten - LIVE". Bonn: BMFSFJ.

Cloerkes, G. (1986). Erscheinungsweise und Veränderung von Einstellungen gegenüber Behinderten. In K. H. Wiedl (Hrsg.), Rehabilitationspsychologie: Grundlagen, Aufgabenfelder, Entwicklungsperspektiven (S. 131-149). Stuttgart: Kohlhammer.

ICIDH-2: International Classification of Functioning and Disability. Beta-2 draft, Full Version. World Health Organisation, Geneva: 1999. ICIDH-2: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung. Entwurf der revidierten Deutschen Fassung, April 2000.

Niehaus, M. (1993). Behinderung und sozialer Rückhalt. Zur sozialen Unterstützung behinderter Frauen. Trierer Schriften zu Sozialpolitik und Sozialverwaltung; Bd. 11. Frankfurt: Campus.

Niehaus, M. (1996). Behinderte Frauen - ein Sonderthema?! In E. Zwierlein (Hrsg.), Handbuch Integration und Ausgrenzung - Behinderte Menschen in der Gesellschaft (S. 217-224). Neuwied: Luchterhand.

Niehaus, M. (1997). Mittendrin oder außen vor? Zur Lebenssituation von Mädchen und Frauen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen. Dokumente und Berichte 39, Schriftenreihe des Ministeriums für die Gleichstellung von Frau und Mann. Düsseldorf.

Niehaus, M. & Thimm, W. (1998). Behinderungen. In Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Gesundheitsbericht für Deutschland: Gesundheitsberichterstattung des Bundes (S. 63-66). Stuttgart: Metzler-Poeschel.

Schwerbehindertengesetz - Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (SchwbG)

Sellach, B., Heyer, A., Niehaus, M. & Odrich, W. (1999). Barrieren überwinden. Situation von Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Kiel: Ministerium für Jugend, Wohnungs- und Städtebau des Landes Schleswig-Holstein.

Die Autorin

Mathilde Niehaus, Prof. Dr. phil. habil., Dr. rer. nat., Dipl.-Psych.

Universität Wien

Nach dem Psychologiestudium in Marburg und Trier promovierte sie und erhielt 1993 für Ihre Dissertation "Behinderung und sozialer Rückhalt" den Landesförderpreis Rheinland-Pfalz. 1996 übernahm sie die Leitung der Begleitforschung zum Modellprojekt "Wohnortnahe berufliche Rehabilitation von Frauen". Habilitiert hat sich die Wissenschaftlerin 1997 an der Universität Oldenburg. 1999 hat sie den Ruf auf das Ordinariat für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien angenommen und die Internationale Forschungsstelle für Arbeit und soziale Integration gegründet.

Arbeitsschwerpunkte: pädagogisch/psychologische Rehabilitationsforschung, Lebenslagen von Frauen mit Behinderung, quantitative und qualitative Evaluationsmethoden, betriebliche Beschäftigungssicherung und Sozialpolitik für Behinderte

Quelle:

Mathilde Niehaus: Netzwerkarbeit von und für Frauen mit Behinderung. Ein Plädoyer

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Nr. 1/2001; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.04.2006

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