Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik - Vorwort

Autor:in - Josef Fragner
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/00; Thema: Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1/2000)
Copyright: © Josef Fragner 2000

Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik - Vorwort

Viele Perspektiven eröffnen sich, je mehr wir uns von den Symptomen zu einer gleichwertigen dialogischen Beziehung bewegen. Gleichzeitig werden diese Inseln der Mitmenschlichkeit, in denen das Menschsein als Ausdruck der Nächstenliebe, als Einfühlsamkeit für Leid wie auch für Freude, als Liebe zum Lebendigen gelebt wird, von einem Meer der Ausgrenzung bedroht.

Wiederum sehen wir in unserer Arbeit ganz deutlich die drohenden Zeichen der Zeit, die ihre Schatten immer länger werfen. Mit der kulturellen Privatisierung und Schrumpfung des öffentlichen Raumes geht eine individualistische Sichtweise der (krisenhaften) Phänomene einher. Die Zerstückelung einer kontinuierlichen Lebenszeit, die auch mit Identität und Sicherheit verbunden war, hat nicht nur das Arbeitssystem erfasst, sondern greift immer mehr auf Bereiche wie soziale Sicherung, Gesundheit oder Bildung über. Diese werden um den Preis der kulturellen Deformation von Integration zugunsten von Ausgrenzung aus der allgemeinen Verantwortung ausgegliedert und haben dramatische Auswirkungen auf die Lebensqualität der gesamten Bevölkerung zur Folge.

Bewegen wir uns in Richtung mitmenschlicher Kultur oder befindet sich die Unkultur im Vormarsch, unterstützt durch den Ruf, die Pädagogik, dieses altmodische und unwirksame Zeug doch zu vergessen und auf den wahren Fortschritt umzusteigen. Der biologische Reduktionismus streut verheißungsvoll seine Versprechungen aus und manche Philosophen fordern die Anthropotechniken, nachdem wir es lange genug mit der Pädagogik probiert hätten, die Resultate nicht genügten und über zielführendere, effizientere Maßnahmen gesprochen werden müsse. Und dieser Diskurs dürfe nicht mit verzopften moralischen Bedenken des Humanismus oder mit historischen Argumenten behindert werden.

Vieles scheint wieder hochzukommen: Die Versprechen der Humangenetik und Gentechnologie, das Ethos der Gleichgültigkeit, der Traditionskult, der die Vielfalt als Bedrohung sieht, gespeist durch individuelle und soziale Frustration, die Schaffung einer sozialen Identität durch den Appell an die Ausgrenzung des Fremden, das Aufleben des Elitedenkens, die Darstellung eines medial gestützten Populismus als Stimme des Volkes - und dies alles im new speak, mit einem verarmten Vokabular und einer elementaren Syntax, um die Instrumente komplexen und kritischen Denkens im Keim zu ersticken.

Diese Ideologie der Unmenschlichkeit kommt manchmal in der unschuldigsten Verkleidung daher. Unsere Pflicht ist es, diese Ideologie zu entlarven und jedes ihrer neuen Beispiele kenntlich zu machen - an jedem Tag, an jedem Ort der Welt.

Josef Fragner; Chefredakteur

Quelle:

Josef Fragner: Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik - Vorwort

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/00; Reha Druck Graz, Thema: Neue Perspektiven in der Sonderpädagogik

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.03.2006

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