Erschienen in Behinderte Menschen 6/2009, S. 36-43 Behinderte Menschen (6/2009)
Inhaltsverzeichnis
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Bis ins 16. Jhdt. war „Behinderung“ – insbesondere die geistige Behinderung (wie übrigens auch die psychischen Krankheiten) – kein Thema der damaligen Medizin. Ein grundlegender Wandel in diesem Verhältnis ist etwa in den Zeitraum von der Mitte des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zu datieren. In dieser Epoche dauerte es etwa 100 Jahre, bis die Verankerung naturwissenschaftlicher Konzepte im medizinischen Denken und in der medizinischen Praxis vollzogen war (Tutzke 1983). Die ursprünglich dominierenden humoralpathologischen Konzepte (die Lehre von den Mischungen der Körpersäfte) wurden Schritt für Schritt von mathematisch-mechanischen Konzepten, die sich auf naturwissenschaftliche Experimente stützen, abgelöst. Auch der Zugang zum Problem der Behinderung wird über naturwissenschaftliche Modelle definiert, wobei auf diese Weise der „Schwachsinn“ von seiner moralischen Verurteilung befreit und als biologisch beschreibbare Tatsache verstanden wird. Im historischen Kontext der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 finden wir Erweiterungen dieses Konzeptes, die den Lebenskontext der Menschen als Teil der Krankheitsentstehung einbeziehen. Auf diesem Hintergrund entwickelt sich auch ein neues Paradigma, das für die Beziehung von Medizin und Behinderung maßgebend wird: Geistige Behinderung wird verstanden als Produkt eines Entwicklungsprozesses, der in der biologischen Struktur verankert und von Lebensbedingungen abhängig ist. Dieses Paradigma basiert auf dem Wissenschaftsverständnis des liberalen Bürgertums als revolutionärer Klasse.
Wenig später führt eine neuerliche Verschiebung der Akzente zu einem neuen Paradigma: die naturwissenschaftliche Basis wird mit der Vererbungstheorie verknüpft und der Anspruch erhoben, auf diese Weise alle relevanten Eigenschaften des Menschen erklären zu können. Auf diese Weise entsteht aus einer biologisch fundierten Sichtweise das Konzept des Biologismus: Die Verabsolutierung, Überdehnung und Fehldeutung biologischer Erklärungen. Versuchen wir, dem Weg des Biologismus, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum dominierenden Paradigma wird, zu folgen: Der Mensch wird als Objekt des Messens und Zählens, des Vergleichens mit allgemeingültigen, ewigen Normen zum Gegenstand der Wissenschaft. In Ranke's Buch „Der Mensch“ (Ranke 1923) findet sich eine Passage zur „ästhetischkünstlerischen und wissenschaftlichen Betrachtung der Menschengestalt“. Hier werden die Körpermaße von „weissen Soldaten, Studenten, Vollblutnegern, Mulatten“ penibel aufgeführt und verglichen und mit folgendem Text kommentiert: „Der Fortschritt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis beruht nicht auf einer Methode der Ausgleichung der bestehenden Abweichungen … sondern auf einer möglichst scharfen und genauen Hervorhebung der Unterschiede…“ (Ranke 1923, S 18).
Schon in dieser Textpassage wird die Kontur der Rassenbiologie sichtbar. Die Frage, wozu dieser Ansatz nützlich ist, gibt Ranke in seinem Vorwort zur 3. Auflage im Jahre 1911: „Die Rassenkunde wird durch die deutschen Kolonien für uns von immer steigender aktueller Bedeutung.“ (Ranke 1923, S Vi). Hier wird es nun deutlich: Kolonialismus und Rassenkunde treten als Zwillinge auf. Die Rassenkunde wird weiter„entwickelt“ zu einer menschenverachtende Extremform, in der der Mensch zum Objekt einer Pseudo- Wissenschaft degradiert wird; sie liefert wenig später die Legitimation für die systematische Menschenvernichtung.
Vor und gleichzeitig mit der Tötung von Millionen von Menschen, denen bestimmte Rasseneigenschaften zugeschrieben wurden – Juden, Zigeunern… – wird ein Vernichtungsfeldzug gegen „Erbkranke“ geführt: etwa 300.000 Zwangsterilisationen werden durchgeführt (Berger, Michel 1997) und etwa 250.000 psychisch kranke und behinderte Menschen werden in den Jahren 1939 – 45 getötet. Die Rolle der Medizin in diesem Kontext wurde in einer wachsenden Zahl von Publikationen (Dörner et al. 1980, Berger 1988, Klee 1983, Sueße U. Meyer 1993 etc.) immer detailreicher erkennbar: Eine biologistisch pervertierte Medizin war Lieferant der Begründungen und Ausführungsorgan bei der mit industrieller Perfektion organisierten Tötung behinderter Menschen. Aber dieser Vorwurf kann nicht auf die Medizin beschränkt werden! Auch in der Geschichte der Nachbardisziplinen – Jugendfürsorge, Sonderpädagogik – werden parallele Konturen sichtbar (Berger 2007a).
Nach 1945 fand der Vernichtungsfeldzug sein Ende. Es kam aber zu keinem Paradigmenwechsel. Das Modell der „Krankheitsbilder“ auf physikalisch-chemischer Basis steht in dieser Tradition. Es ist die Grundlage der Dominanz des naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin, das von „Krankheitseinheiten“ mit klar bestimmbaren Ursachen, definierbarem Verlauf und Ende ausging – ein monokausales Denkmodell, das auch das Verständnis von Behinderung als unmittelbaren Ausdruck biologischer Faktoren prägt. Besonders häufig trifft man auf die Erklärung psychischer und sozialer Aspekte aus biologischen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man der Annahme folgt, aus dem Faktum einer Veränderung der Genstruktur (z.B. bei Trisomie 21) oder einer Schädigung des Gehirns das Verhalten eines Menschen erklären zu können.
Die Medizin blieb in ihren biologistischen Traditionen verhaftet. Ein Beispiel dafür ist die Position von Andreas Rett, der sich zwar dafür einsetzt, das Bild behinderter Menschen in der Öffentlichkeit zu verändern und die gesellschaftliche Toleranz zu erhöhen, der aber unbeirrbar am biologistischen Konzept festhält. Auf dem Deutschen Jugendpsychiatrie-Kongreß 1977 vertritt er die Forderung nach Sterilisation geistig Behinderter („Verminderung der Intelligenz unter das Niveau 80 nach Hawie“) – gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern. Mit keinem einzigen Wort werden die 300.000 Zwangsterilisationen der Nazizeit erwähnt! (Rett 1979). Weitere 10 Jahre später hat er unter Betonung der Wichtigkeit der biologischen Fakten eine dringliche Warnung vor umfassenden Integrationsbestrebungen ausgesprochen und eine Beschränkung der schulischen Integration auf Einzelfälle gefordert. Dieser Text beginnt mit folgender Passage: „Die Stellung des Arztes in der Behinderten-Szene verliert immer mehr an Bedeutung und zwar in jenem Maße, in dem sich eine nicht mehr kontrollierbare ‚Behinderten-Romantik‘, getragen von fanatisierten Pädagogen und Psychologen in unserem Schulsystem mit dem Schlagwort der ‚vollen Integration‘ aller Behinderten in die Regelschule durchsetzt“ (Rett 1987).
Beide Wissenschaftsgebiete, die hier zur Diskussion stehen, sind den „Wissenschaften vom Menschen“ zuzuordnen. Somit gibt es bei aller Unterschiedlichkeit einen gemeinsamen Gegenstand – den Menschen. So selbstverständlich diese Feststellung klingen mag, bedarf sie doch einer näheren Bestimmung: Im Zentrum des Menschenbildes, auf das ich mich beziehe, steht der Mensch als bio-psycho-soziale Einheit, wobei die „Einheit“ als konstitutives Element dieses Menschenbildes, gleichzeitig die Identität der Ebenen ausschließt. In jeder der drei Domänen – der biologischen, der psychischen und der sozialen – existieren eigenständige Gesetzmäßigkeiten, sodaß einfache Übertragungen zwischen den Ebenen unzulässig sind. Es geht vielmehr darum, die Übergänge zwischen den Ebenen und die Charakteristika ihrer Beziehungen zueinander herauszuarbeiten. Dies allerdings erfordert eine übergreifende theoretische Konzeption, die nur eine monistische sein kann. Jede dualistische Konzeption müßte sich auf eine Gegenüberstellung dieser beiden Wissenschaftsbereiche beschränken. Angesichts der Dominanz dualistischer Wissenschaftskonzepte sind Ansätze, die sich für dieses Vorhaben eignen, nicht allzu zahlreich. Die „Tätigkeitstheorie“, eine materialistische Subjekttheorie, die auf dem Boden marxistischen Denkens anfänglich unter der Bezeichnung „Kulturhistorische Schule“ (Kölbl 2006) in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts in der Sowjetunion entstanden ist, bietet diesen umfassenden Rahmen.
Berührungspunkte der beiden Wissenschaftsdisziplinen, die auf unterschiedlichen Ebenen des oben zitierten Menschenbildes bezogen sind, ergeben sich dort, wo die Medizin mit Fragen der Entwicklung und Fehlentwicklung und die Pädagogik mit den Folgen von Entwicklungsstörungen befaßt ist. Somit stellen vor allem die Entwicklungsneurologie und die Behindertenpädagogik Nahtstellen dar.
Darüber hinaus stellt die Neurologie den Wissenschaftsbereich dar, der die biologischen Grundlagen für die Pädagogik liefert; keine andere medizinische Teildisziplin steht der Pädagogik so nahe, wie die, die sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Funktion und der Entwicklung des Nervensystems befaßt. Es geht also um das Wechselverhältnis zwischen der sozialen Ebene, auf der die Pädagogik angesiedelt ist und der biologischen Ebene. Am Problem der Begabung kann dieser Zusammenhang deutlich gemacht werden. Die Entwicklung der Funktionen, die wir als „Begabung“ zusammenfassen, nimmt in den ersten Lebenswochen eines Kindes ihren Ausgang von unbedingten (angeborene) Reflexen, die in rasch wachsendem Ausmaß in Systeme erworbener Reflexe eingebaut werden. Das Auftreten des Willkürgreifens (etwa im vierten Lebensmonat) ist dann das entscheidende Merkmal dafür, daß die willkürliche Tätigkeit zum dominierenden Element des Aneignungsprozesses im engeren Sinne (gegenüber den Reflexen) geworden ist. Die hier unter dem Begriff „Aneignungsprozeß“ beschriebenen Vorgänge sind die für das Säuglingsalter spezifischen Erscheinungsformen der Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, die Leontjew (1982) allgemein als das System Subjekt – Tätigkeit – Objekt beschreibt. In diesem System verändert das Subjekt durch seine Tätigkeit das≤ Objekt, gleichzeitig aber auch sich selbst. Der zuletzt genannte Aspekt – die Veränderung des Subjekts im Prozeß der Tätigkeit – ist in unserem Zusammenhang der entscheidende. Was ist darunter zu verstehen?
In der aktiven Auseinandersetzung mit Objekten der Umwelt erzeugt das Kind in sich Abbilder der Objekte und Abbilder seiner eigenen Tätigkeit. Piaget (1975) beschreibt diesen Vorgang mit den Begriffen der Entstehung und Modifikation von Schemata im Prozeß der Assimilation / Akkomodation. Diese Abbilder der Objekte und der Tätigkeiten haben ein biologisches Substrat – Veränderungen im Gehirn (Berger 1982) – und eine psychische Seite – die Aneignung der Bedeutungen der Objekte und Tätigkeiten. Sie sind die Bausteine der Fähigkeiten und damit der Begabung.
Ein Beispiel soll dazu dienen, diesen Gedanken verständlicher zu machen. Ein Säugling etwa im 4. Lebensmonat beobachtet ein Mobile über seinem Bettchen. Durch eine gezielte Bewegung seiner Hand setzt er das Mobile in Bewegung, freut sich über die bewegten und klappernden Gegenstände und wiederholt diesen Vorgang. Was läuft hier ab? Ein im Gehirn entstandener Bewegungsimpuls hat sensorische Reize (optische Wahrnehmung der Bewegung, akustische Wahrnehmung des Klapperns, Tastwahrnehmung des Mobile) zur Folge. Durch häufige Wiederholung des Vorganges bilden sich im Gehirn sensomotorische Spuren in all den genannten Bereichen ebenso wie in den emotionsverarbeitenden Strukturen aus, die das Abbild des Mobile (seiner verschiedenen Eigenschaften) und der eigenen Tätigkeit (durch Berührung in Bewegung setzen) konstituieren. In den späteren Entwicklungsphasen wird das Abbild immer komplexer und kompletter: das Kind lernt durch sprachliche Vermittlung, durch den Umgang der Eltern mit dem Mobile die Bedeutung dieses Gegenstandes immer genauer kennen, ebenso werden seine eigenen Manipulationsmöglichkeiten immer vielfältiger und differenzierter. Unter Einschluß der sozialen Dimensionen spricht Piaget von sekundären und tertiären Zirkulärreaktionen (Piaget 1975). Die hier betrachtete Funktion stellt den Grundbaustein zahlreicher weiterer Funktionen aus dem Bereich visuomotorischer Koordination und feinmotorischer Manipulation dar, wie beispielsweise das Bauen mit Bauklötzen, Puzzlelegen, praktisch-konstruktive Tätigkeiten etc., die durchwegs die Anwendung von Lösungsstrategien als wesentlichen Bestandteil enthalten. Die Fähigkeit zur Lösung verschiedener praktisch-konstruktiver Aufgaben, die auf den automatisierten Fertigkeiten der visuomotorischen Koordination aufbaut, ist also ein Teil der Begabung dieses Kindes, deren Entwicklungsverlauf wir betrachtet haben. Wir können somit diese Überlegungen abschließen: Begabung ist eine psychische Eigenschaft; sie ist Produkt eines Entwicklungsprozesses, für den die biologischen Bedingungen lediglich die Voraussetzungen darstellen. Auf die klassische Frage „angeboren oder erworben“ hat Piaget schon vor 35 Jahren die Antwort formuliert, daß Angeborenes hauptsächlich in einer Fähigkeit zur Ausübung von Funktionen besteht, ohne daß Erblichkeit fertiger Strukturen vorliegt. Somit kann die Antwort immer nur lauten: „angeboren und erworben“.
Wenden wir diese Überlegungen auf das Problem der Sichtweise von Behinderung an. Die traditionelle Sichtweise, daß die Entwicklung von „Risikokindern“ durch die biologischen Bedingungen grundsätzlich determiniert ist, wurde widerlegt. In den prospektiven Längsschnittuntersuchungen des Groningen-Perinatologie-Projekts (Prechtl, Touwen U. Mitarb.) fanden sich zwischen neurologisch abnormen Befunden von Neugeborenen und Schulproblemen bzw. Verhaltensauffälligkeiten im 9. Lebensjahr zwar statistisch signifikante Zusammenhänge, die insgesamt aber relativ gering waren, sodaß individuelle Vorhersagen aufgrund dieser Beziehungen nicht möglich sind; vielmehr müssen soziale Faktoren und lebensgeschichtliche Einflüsse berücksichtigt werden (Hadders – Algra 1987). Die Rostocker Längsschnittstudie (Meyer-Probst, Teichmann 1984) ist explizit der Frage des Zusammenwirkens biologischer und sozialer Faktoren gewidmet. Sie stützt sich auf die mehrjährige Beobachtung der Entwicklung von Kindern nach Risikogeburten und kommt zu folgenden zentralen Aussagen:
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Bei den frühkindlichen Entwicklungsdaten sind biologisch und sozial determinierende Einflüsse offenkundig. Geburtsschäden sind nicht zwangsläufig Dauerschäden.
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Es bestehen Wechselwirkungen zwischen biologischen und psychosozialen Risikofaktoren. Die analoge Wirkungsweise erklärt wechselseitige Verstärkungseffekte (Risikokumulation) ebenso wie den ausgleichenden Effekt eines günstigen Milieus.
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Die Vorgänge der Kompensation und Dekompensation beruhen auf der Plastizität des Zentralnervensystems. Die Konsequenzen für die psychische Entwicklung ergeben sich daraus, inwieweit biologische Einflüsse die Plastizität einschränken und Umwelteinflüsse die Plastizitätsmöglichkeiten ausschöpfen.
Insgesamt also haben prospektive Langzeitstudien die Sichtweise über die Entwicklung von „Risikokindern“ grundlegend verändert. Die Entwicklung von Kindern, die Belastungen nach komplikationsreichen Verläufen von Schwangerschaft und / oder Geburt ins Leben mitbringen, wird nicht ausschließlich durch dieses biologische Risiko bestimmt. Die sozialen Bedingungen ihres späteren Lebens spielen für die Kompensation oder die Potenzierung der Entwicklungsrisiken eine entscheidende Rolle (Meyer-Probst, Teichmann 1984; Elstner et al. 2006).
Dieses Wissen korrespondiert mit den heutigen Kenntnissen über die Entwicklung des Gehirns. Die (ontogenetische) Entwicklung des menschlichen Zentralnervensystems erfolgt nach dem Prinzip der Selbstorganisation. Auf der Grundlage des biologischen Erbes (der genetischen Information) verfügt die Nervenzelle über die Fähigkeit, durch die Ausbildung von Zellfortsätzen mit anderen Zellen in Verbindung zu treten und funktionelle Netzwerke zu gestalten. Die konkrete strukturelle Ausgestaltung dieser Netzwerke erfolgt durch die Inbetriebnahme des jeweiligen Subsystems, dem die Zellkomplexe angehören. Die Speicherkapazität des Genoms würde gar nicht ausreichen, um die große Zahl synaptischer Verbindungen im Voraus zu determinieren. Die funktionelle Architektur des ZNS ist somit ein Produkt seiner eigenen Tätigkeit. Die wesentlichen Forschungsbeiträge dazu stammen aus der Deprivationsforschung und aus der Neurobiologie.
Da also an der Bedeutung der Lebensbedingungen als wesentlicher Faktor für die Entwicklung und Funktion des Zentralnervensystems kein Zweifel mehr besteht, kommt der Pädagogik, die – in dieser oder jener Form – ein wichtiger Bestandteil der Gestaltung dieser Lebensbedingungen ist, große Bedeutung zu.
In den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde im deutschsprachigen Raum der Diskurs um die schulische Integration behinderter Kinder intensiv geführt und an vielen Orten – mit unterschiedlicher Qualität und Konsequenz – auch in die Praxis des schulischen Alltags umgesetzt. Die Ärzte, im speziellen die Kinderpsychiater, waren im allgemeinen nicht an der Spitze dieser Entwicklung zu finden, sondern standen der Integrationsbewegung – wie bereits dargestellt – eher skeptisch und oft auch feindselig gegenüber (Rett 1987). Der Grund dieser ablehnenden Haltung ist in der biologisch akzentuierten und oft auch biologistisch verzerrenden Sichtweise zu suchen, die in der traditionellen medizinischen Ausbildung vermittelt wurde; psychosomatische und sozialmedizinische Inhalte fehlten bis weit in die 70er Jahre in der österreichischen Medizinerausbildung fast völlig. Dies ist u.a. eine der langfristigen Nachwirkungen der NS-Zeit an Österreichs Universitäten (Berger 2003). Das österreichische Schulorganisationsgesetz beinhaltet seit dem Jahr 1993 für Grundschüler und seit dem Jahre 1996 auch für SchülerInnen der Sekundarstufe das Recht auf schulische Integration behinderter Kinder. Diese Entwicklung, die in Wien 1986 begonnen hatte, beruhte allerdings auf zwei – impliziten – Prämissen:
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Schulische Integration ist ein ergänzendes Angebot, das neben den fortbestehenden segregativen Schulmodellen eingerichtet wird.
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Ein (meist ärztliches) Attest der „Schulunfähigkeit“ war eine unüberwindliche Hürde und definierte eine „Restgruppe“ von Kindern, für die jede Form des Schulbesuchs – erst recht natürlich die integrative Form – eine Illusion bleibt. Zu dieser Gruppe gehörten neben den Kindern mit schweren geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen häufig auch Kinder mit autistischer Behinderung.
Die erste Prämisse gilt nach wie. Sie wird durch ideologische, berufsständische und durch schulorganisatorische Interessen gestützt. Alle positiven internationalen Erfahrungen mit dem integrativen Schulmodell konnten daran nichts ändern. Im Gegenteil: in Österreich hat die neokonservative Schulpolitik der Jahre seit 2000 die Dynamik der Integrationsbewegung gebrochen und die Entwicklung der schulischen Integration zurückgedrängt oder ausgehöhlt.
Die zweite Prämisse wurde teilweise überwunden; zumindest in Wien wurde die „Schulunfähigkeit“ (fast) zur Gänze abgeschafft. Dies ist umso bemerkenswerter, als sie auf eine (natur) wissenschaftliche Argumentation gestützt wurde: die Annahme, dass bestimmte Formen und Intensitätsgrade von Behinderung die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprozesse soweit beeinträchtigen, dass sie die Lernfähigkeit im Allgemeinen ausschließen. Diese biologistische Sichtweise wurde am konsequentesten in den Arbeiten von Jantzen (1987, 1990) und Feuser (1980, 1989) widerlegt und zur Sichtweise weiterentwickelt, dass nicht die Schulfähigkeit von Kindern, sondern die „Kindfähigkeit der Schule“ (Feuser) zur Diskussion steht. In dieser pointierten Formulierung wird deutlich, dass die Frage der Schulfähigkeit immer und unter allen Umständen auf die organisatorischen und didaktischen Bedingungen der Schule zurückzuführen ist. Auf diesem Denkhintergrund wurden für schwerstbehinderte Kinder „basale Förderklassen“ und im Jahre 1996 (zusätzlich zu bereits bestehenden segregativen „Autistenklassen“) Integrationsklassen für autistisch behinderte Kinder geschaffen. Die Skepsis vieler Mediziner gegenüber diesen Entwicklungen war beträchtlich. Als wir im Rahmen des internationalen Kinderpsychiatriekongresses über die ersten erfolgreichen Erfahrungen bei der Integration autistisch behinderter Kinder aus Wien berichteten (Berger 1998), wurde diesem Bericht von den TeilnehmerInnen des Workshops viel Zweifel entgegengebracht. Nach wie vor dominierte die gängige Einschätzung, dass die Schullaufbahn von Kindern mit autistischen Störungen – auch wenn sie im Einzelnen recht unterschiedlich sein kann – aufgrund der zentralen Problembereiche von Aufmerksamkeit, Sprachentwicklung Kann die Medizin einen Beitrag zur schulischen Integration leisten? und Sozialkontakt meist mit großen Schwierigkeiten verbunden ist (Aarons et al. 1992; Gillberg et al. 2000; Poustka et al. 2004). Mittlerweile blicken wir in Wien auf eine fast 15-jährige Erfahrung zurück, die den Erfolg dieses Weges bestätigt. Neben der Evaluationsstudie (Berger et al. 2005; Berger et al. 2007) kennen wir aus der klinischen Arbeit auch die Lebensläufe einiger Kinder, die uns zeigen, dass die Notwendigkeit einer – ambulanten oder stationären – kinderpsychiatrischen Intervention ausgesprochen selten war und die Ausprägung der Intensität des autistischen Syndroms der mittlerweile jungen Erwachsenen des ersten Schuljahrganges deutlich geringer geworden ist. Die Evaluationsstudien haben belegt, daß sich das integrative Schulmodell für autistische Kinder bewährt hat. Es hat in allen untersuchten Bereichen bei der Mehrzahl der Kinder der Studiengruppe zu positiven Entwicklungen beigetragen. Es realisiert die von Jordan (2005) geforderte „Autismus-freundliche“ schulische Umgebung als Voraussetzung für erfolgreiche und inklusive Lern- und Erziehungsprozesse, zu der die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat im Rahmen ihrer sozialpsychiatrischen Orientierung entscheidende Beiträge geleistet hat.
AARONS M., GITTENS T.: The Handbook of Autism. Routledge, London 1992
BERGER E.: Entwicklungsneurologische Untersuchung in den ersten drei Lebensjahren. Thieme, Stuttgart 1982
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DÖRNER K., HAERLIN Ch., RAU V., SCHERNUS R., SCHWENDY A. (Hrsg .): Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Rehburg-Loccum 1980
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FEUSER G.: Autistische Kinder. Oberbiel Verlag, Solms 1980 GILLBERG CH., COLEMAN M.: The Biology of the Autistic Syndromes. Mac Keith Press,(3. Aufl.), London 2000
HADDERS – ALGRA M.: Correlations of Brain Dysfunction in Children A Follow-up Study. Univ. Verlag, Groningen, 1987 JANTZEN W.: Allgemeine Behindertenpädagogik I, II. Beltz, Weinheim Bd. I 1987; Bd. II 1990
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KÖLBL C.: Zur Psychologie der kulturhistorischen Schule. Vandenhoek & Ruprecht 2006
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MEYER-PROBST B., TEICHMANN H.: Risiken für die Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter. VEB Thieme, Leipzig 1984
PIAGET J.: „Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde“ Klett, Stutgart 1969 (Orig. franz. 1959)
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SUESSE Th., MEYER H.: Die „Kinderfachabteilung“ in Lüneburg: Tötung behinderter Kinder 1941 – 45. Praxis Kinderpsychol., -psychiat. 42, 234–40, 1993
TUTZKE D.(Hrsg .): Geschichte der Medizin. VEB Verlag Volk u. Gesundheit. Berlin 1983

Univ. Prof. Dr. med. Ernst Berger
Facharzt f. Kinder- u. Jugendpsychiatrie und Kinderneurologie
Lehre und Forschung an folgenden Hochschulen: Med. Univ. Wien; Univ. Wien; Donau-Univ. Krems; Päd. Hochschule Wien.
Publikationen und Forschungsprojekte unter: www.univie.ac.at/kjnp-rehab-integra/
Quelle
Ernst Berger: Kann die Medizin einen Beitrag zur schulischen Integration leisten? Erschienen in Behinderte Menschen 6/2009, S. 36-43
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Stand: 19.03.2015