"Camphill" und "Arche"

Lebensqualität in der Gemeinschaft

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz S. 37-44 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/2000)
Copyright: © Christa Heinrichsmeier 2000

"Camphill" und "Arche"

"Camphill" und "Arche" sind Lebensgemeinschaften, in denen weltweit behinderte und nichtbehinderte Menschen miteinander leben und arbeiten. Diese besondere Lebensform ist beiden Bewegungen gemeinsam, wenn sie auch aus verschiedenen Hintergründen entstanden sind und keine Verbindung zwischen beiden Bewegungen besteht.

Die Verfasserin gibt persönliche Erfahrungen wieder und reflektiert diese auf dem Hintergrund der Kategorie Lebensqualität.

Das Leben in einer solchen Lebensgemeinschaft kann man sich als Außenstehender nur schwer vorstellen. Es ist eine völlig andere Lebensform mit einer eigenen Dynamik, eigenen Regeln, schönen und schwierigen Seiten. Es soll hier zunächst ein kurzer Überblick über die Geschichte beider Bewegungen gegeben werden.

Camphill-Gemeinschaften:

Die erste Camphill-Gemeinschaft wurde bereits vor rund 60 Jahren von dem österreichischen Arzt und anthroposophischen Heilpädagogen Karl König (1902-1966) gegründet. Ihre Wurzeln hat die Camphill-Bewegung in der anthroposophischen Heilpädagogik.

Diese entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, als die Heilpädagogik allgemein noch in den Kinderschuhen steckte und in der es angesichts der politischen Verhältnisse immer schwieriger wurde, eine Weiterentwicklung bzw. eine bloße Aufrechterhaltung heilpädagogischer Bemühungen zu erreichen. Wie viele andere Bereiche der Anthroposophie entstand auch die anthroposophische Heilpädagogik durch die Initiative mehrerer anthroposophisch interessierter Menschen, die Rudolf Steiners Erkenntnisse in ihrem Arbeitsfeld umsetzen wollten.

Drei junge Männer aus Lauenstein bei Jena baten Rudolf Steiner um Ratschläge für die Gründung eines Heims für behinderte Kinder. Sie gründeten 1924 das Heim, das auf Steiners Vorschlag hin den Namen "Heil- und Erziehungsinstitut für Seelenpflege-bedürftige Kinder" erhielt. Es gab zu dieser Zeit bereits eine Hilfsklasse in der 1919 gegründeten Waldorfschule in Stuttgart und das von Ita Wegmann geleitete und ihrem klinisch-therapeutischen Institut angegliederte Kinderheim Sonnenhof in Arlesheim (Schweiz), in dem einige behinderte und verhaltensauffällige Kinder untergebracht waren. Für die Mitarbeiter dieser drei Initiativen hielt Rudolf Steiner im Jahre 1924, also ein Jahr vor seinem Tod, seinen aus zwölf Vorträgen bestehenden Heilpädagogischen Kurs, der als Grundlage der anthroposophischen Heilpädagogik angesehen wird.

Karl König hatte Steiner nie persönlich kennen gelernt, war aber von dessen Ansichten begeistert und wollte seine anthroposophischen Überzeugungen und seine heilpädagogische Arbeit als Kinderarzt zusammenfließen lassen. Er und seine Frau Tilla hatten bereits in den 30er Jahren mit anderen Mitarbeitern ein heilpädagogisches Heim in Schlesien aufgebaut. Später lebten sie in Wien, wo König eine eigene Praxis hatte. 1938 emigrierte König, der jüdischer Herkunft war, nach Großbritannien. Seine Frau und mehrere Freunde kamen bald nach. Sie alle hatten sich bereits in Wien mit der Idee, eine heilpädagogische Lebensgemeinschaft aufzubauen, beschäftigt.

Das Ehepaar König und ihre Mitarbeiter/Innen gründeten dann 1939 in Schottland die erste Lebensgemeinschaft mit behinderten Kindern. 1940 konnten sie in ein größeres Haus auf dem schottischen Camphill-Estate bei Aberdeen wechseln. So kam die Camphill-Bewegung zu ihrem Namen. Der Platz reichte bald nicht mehr aus und 1944 existierten bereits zwei weitere Häuser. In den 50er Jahren wurden Camphill-Gemeinschaften in England, Nordirland, Deutschland, Südafrika und den Vereinigten Staaten gegründet. Die meisten Gemeinschaften entstanden auf Anfragen betroffener Eltern hin. Bereits 1949 entstand das Camphill-Seminar, in dem neue Mitarbeiter ausgebildet wurden. 1954 wurde das erste Dorf für behinderte Erwachsene in Botton (England) gegründet; der Beginn der sozialtherapeutischen Arbeit (man unterscheidet Heilpädagogik und Sozialtherapie). Die Verbreitung von Camphill-Gemeinschaften ging auch in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten weiter. Heute gibt es weltweit etwa 100 Gemeinschaften.

Wie muss man sich solche Gemeinschaften aber nun vorstellen? Es ist schwierig, ein einheitliches Bild zu geben, da sich die einzelnen Gemeinschaften in Größe, Zusammensetzung, etc. stark unterscheiden können. Einige bestehen nur aus einer Hausgemeinschaft, andere sind regelrechte Dörfer (z.B. Copake). Es gibt rein heilpädagogische und rein sozialtherapeutische Gemeinschaften, aber auch Mischformen (z.B. Perceval), wo es sowohl Kinder- und Jugendlichenhäuser als auch Hausgemeinschaften mit Erwachsenen gibt. Meistens befinden sie sich auf dem Land, es gibt aber auch Camphill-Gemeinschaften inmitten eines Stadtviertels (z.B. Christophorus). Die meisten Gemeinschaften bestehen aus mehreren Häusern, in denen jeweils zwischen 4 und 25 Menschen zusammenleben.

In den Häusern leben in der Regel die sogenannten Hauseltern und je nach Anzahl der behinderten Bewohner mehrere Mitarbeiter, die in Gemeinschaften, in denen das Camphill-Seminar angeboten wird, aus Seminaristen bestehen. Ansonsten leben und arbeiten feste Mitarbeiter sowie Praktikanten in den einzelnen Häusern, Werkstätten und/oder der Schule. Jede Hausgemeinschaft stellt eine Art Familienzusammenschluss dar. Die einzelnen Häuser bilden eine abgeschlossene Wohneinheit mit eigener Küche, Esszimmer, Wohnzimmer und Schlafzimmern. Es gibt keine zentrale Versorgung, jedes Haus ist für die Dinge des täglichen Bedarfs, wie Essen, Kleidung, Einrichtung etc. eigenverantwortlich. Es gibt in jeder Gemeinschaft einen Saal für gemeinsame Zusammenkünfte der einzelnen Hausgemeinschaften. In Gemeinschaften mit Kindern und Jugendlichen befinden sich auf dem Gelände noch ein Kindergarten und eine Schule, in sozialtherapeutischen Gemeinschaften verschiedene Werkstätten.

Jede Camphill-Gemeinschaft ist autonom, es gibt keine einheitlichen Regeln oder eine gemeinsame Verfassung. Gelebt wird nach den Grundprinzipien und Idealen der ersten Camphill-Gemeinschaften, d.h. auf der Grundlage des anthroposophischen Menschenbildes und den von Karl König eingeführten Prinzipien eines gemeinschaftlichen Lebens.

Inwieweit die einzelnen Gemeinschaften heute noch nach diesem strengen Vorbild leben oder sich dem Wandel der Zeit angepasst haben, ist sehr unterschiedlich. Ein Beispiel wäre da die Bezahlung der Mitarbeiter. Ursprünglich gab es den Gemeinschaftsfond, aus dem sich jeder nach eigenen Bedürfnissen und in Absprache mit den anderen bediente. Diese Form besteht noch in zahlreichen Gemeinschaften. Andere zahlen ein festes Gehalt. Die Fragen, die sich bei der Gratwanderung zwischen Modernisierung und dem Aufrechterhalten von Traditionen und Idealen von Camphill ergeben, sind gerade zur Zeit sehr aktuell. Es ist sicherlich nicht einfach, das richtige Gleichgewicht zu finden. Geht man zu sehr dazu über, die Gemeinschaften als Einrichtungen mit geregelter Arbeits- und Freizeit zu betrachten, geht viel von dem ursprünglichen Idealismus verloren.

Meines Erachtens wird heilpädagogische Arbeit anstrengend, wenn der Enthusiasmus (individuell und in meinem Umfeld) fehlt. Die Zahl meiner Arbeitsstunden spielt da eher eine sekundäre Rolle...

Arche-Gemeinschaften:

Diese Gratwanderung gibt es natürlich auch in Arche-Gemeinschaften. Auch hier handelt es sich nicht um Institutionen im üblichen Sinne mit geregelten Arbeitszeiten, sondern um eine andere Lebensform. Die Lebensgemeinschaften der Arche haben ihren Ursprung in dem französischen Dorf Trosly-Breuil, 80 km nördlich von Paris. Dort nahm der kanadische Philosoph und Theologe Jean Vanier (geb. 1928) 1964 zwei geistig behinderte Männer in sein Haus auf und gründete so die erste Hausgemeinschaft der Arche. Er kam 1963 das erste Mal mit behinderten Menschen in Berührung. Er war entsetzt von den menschenunwürdigen Bedingungen in den Einrichtungen. Nach langen Gesprächen mit dem Dominikanerpater Père Thomas, der ihn maßgeblich zu seinem Vorhaben anregte, entschloss er sich, eine Gemeinschaft mit behinderten Menschen zu gründen.

Was ihn dazu bewegte, war die tiefe Überzeugung, dass es Gottes Wille sei, dass er etwas für behinderte Menschen tun solle. Vanier hatte also im Gegensatz zu König keinerlei Erfahrung oder gar Ausbildung in diesem Bereich. Er hatte kein heilpädagogisches Konzept, sondern er wollte aus seinem Glauben, seinen Idealen und seiner Überzeugung heraus eine andere Form des Zusammenlebens schaffen, in der behinderte Menschen nicht in Anstalten untergebracht sind, sondern mit "Nichtbehinderten" einen gemeinsamen Weg der Entwicklung gehen können. Von Beginn an fand er viele Menschen, die bereit waren, ihm zu helfen. Es kamen immer mehr Menschen dazu, die von Vaniers Initiative begeistert waren und so wuchs die Gemeinschaft immer mehr an. Hinzu kam, dass er im Dezember 1964 von Dr. Préaut, dem Vorsitzenden des Verwaltungsrates des Behindertenheimes Val Fleuri, gebeten wurde, die Leitung dieser Einrichtung zu übernehmen. Es lebten dort 32 behinderte Männer.

Aus diesen bescheidenen Anfängen entstand die Arche-Bewegung, die immer weiter expandierte. Zuerst beschränkte sich die Ausbreitung auf die Umgebung von Trosly, doch schon wenige Jahre später folgten Gemeinschaften in anderen Regionen Frankreichs. Auch in Kanada wurden bald Häuser gegründet. Vanier reiste regelmäßig dorthin, um Philosophie-Vorlesungen an der Universität von Toronto zu halten. Außerdem wurde er gebeten, jährlich eine "retraite", eine Art religiöse Besinnungswoche, zu gestalten. Gerade durch diese Seminare wurde die Arche-Bewegung immer mehr Menschen bekannt und viele ergriffen daran anschließend die Initiative, in ihrer Heimat ebenfalls eine Gemeinschaft zu gründen.

Auch durch die 1971 in Frankreich von und für Familien mit behinderten Kindern gegründete religiöse Bewegung "Foi et Lumière" kam es zur Expansion der Arche. Es wurden also nicht neue Gemeinschaften gegründet, sondern die Neugründungen gingen und gehen auf Eigeninitiativen einzelner gleichgesinnter Menschen zurück, die ein Leben nach dem Vorbild der Arche-Bewegung führen wollen. Die Motivation und der Idealismus entspringen meist einem tiefen Glauben.

Heute gibt es weltweit über 100 Gemeinschaften (Angaben der Arche Tecklenburg vom Februar 1999), davon drei in Deutschland. Die staatliche Anerkennung und damit verbundene finanzielle Unterstützung durch die einzelnen Länder ist für Camphill- wie für Arche- Gemeinschaften sehr unterschiedlich. Jean Vanier lebt auch heute noch in einer Gemeinschaft in Trosly Breuil. Er ist noch sehr aktiv und trägt weiterhin durch Vorträge, Bücher, Seminare etc. weltweit viel zum Wohl der Arche-Bewegung bei.

Bedingt durch den ständigen unkoordinierten Zuwachs an Gemeinschaften sah Vanier in den 70er Jahren die Notwendigkeit, eine Struktur und gemeinsame Leitlinien zu entwickeln. Es entstand die sogenannte Charta, die eine wichtige Grundlage der Arche-Bewegung darstellt. Diese Verfassung verdeutlicht sehr gut das Selbstverständnis der Arche und die Haltung, mit der behinderten Menschen begegnet wird. Eine Kernaussage ist folgende:

"Jede Person hat einen einzigartigen und unantastbaren Wert und besitzt die gleiche Würde und die gleichen Rechte wie alle anderen." (Charta der Arche II.1, zit. nach Vanier 1993, S.11)

Nach meinen Erfahrungen wird einem diese Aussage jeden Tag in Arche-Gemeinschaften vorgelebt. Ich hatte den Eindruck, man lebt dort nach dem Motto "so viel heilpädagogische Betreuung wie nötig und so viel ganz normales Zusammenleben wie möglich". Die Mitarbeiter-/Innen werden übrigens "Assistenten/Innen" genannt. Da es keine Ausbildung innerhalb der Arche-Bewegung gibt, setzen sich die Assistenten/Innen aus mehr oder weniger lang verweilenden Praktikanten/Innen und festen Mitarbeiter/Innen zusammen. Es gibt regelmäßig stattfindende Seminare, um den meist nicht fachlich ausgebildeten Assistenten/Innen eine Anleitung zu geben.

Menschen, die in eine Hausgemeinschaft aufgenommen werden wollen, müssen in der Regel unverheiratet sein. Es gibt also keine Hauseltern, sondern immer eine oder mehrere Assistenten/Innen in jedem Haus. Das Prinzip der Geschwisterlichkeit spielt eine wichtige Rolle. Paare oder Familien werden durchaus in einer Arche-Gemeinschaft aufgenommen, jedoch wohnen sie dann für sich außerhalb und arbeiten in den Werkstätten, im Büro oder anderen Bereichen.

Die einzelnen Gemeinschaften sind auch bei der Arche sehr unterschiedlich. Es gibt auch hier einzelne Hausgemeinschaften bis hin zu großen Anlagen mit einer Reihe von Häusern und Werkstätten. Meistens leben in Arche-Gemeinschaften nur erwachsene Menschen mit einer Behinderung, es gibt aber auch einige Gemeinschaften mit behinderten Kindern. Die Gemeinsamkeit der einzelnen Gemeinschaften besteht aus der gleichen dort herrschenden Gesinnung und der Lebensform an sich. Die meisten Arche-Gemeinschaften sind stark vom katholischen Glauben geprägt. Es gibt aber auch evangelisch, anglikanisch und sogar hinduistisch orientierte Gemeinschaften, je nachdem, in welchem Land sie sich befinden. Die Gemeinschaften sollen sich in ihre Umgebung integrieren, was die Religion mit einbezieht. Dies ist mitunter nicht unproblematisch. Doch es gilt der Grundsatz, dass die Arche nicht zum katholischen Glauben missionieren will, sondern jedem helfen möchte, in seinem eigenen Glauben zu wachsen.

Vanier erkannte erst nach und nach die wirklichen Dimensionen der Arche-Bewegung, die ganze Bedeutung des Gemeinschaftslebens und vor allem den Platz, den die behinderten Personen darin einnehmen. Er bemerkte, dass es oft nicht die Behinderung selbst ist, die den behinderten Menschen das Leben erschwert, sondern das Ausgeschlossen-Sein von der Gesellschaft, das Gefühl, nicht angenommen zu sein. Deswegen ist es ihm wichtig, dass sich die behinderten Menschen einerseits innerhalb der Gemeinschaften als vollwertiges Mitglied erleben, aber auch, dass die Gemeinschaften sich nicht absondern, sondern den Kontakt zur jeweiligen umliegenden Gemeinde suchen. Die Gemeinschaften sollen sich in ihre Umwelt bestmöglich integrieren, d.h. es wird durch Einladungen, Besuch der Gottesdienste der Gemeinde, Arbeiten durch die Werkstätten für die benachbarten Privathäuser oder Firmen etc. immer wieder der Kontakt "von innen nach außen" und "von außen nach innen" gesucht.

Diese kurze Einführung in die Entstehungsgeschichte und die Organisationsform der Camphill- und Arche-Gemeinschaften kann sicherlich nur einen kleinen Einblick geben.

Das Leben in solchen Gemeinschaften kann man, ohne es selber erlebt zu haben, nur begrenzt durch Informationen darüber nachvollziehen. Beide Gemeinschaften nehmen grundsätzlich gerne Praktikanten für längere oder kürzere Zeit auf. Wer das Leben in Camphill- oder Arche-Gemeinschaften also selbst einmal gerne kennen lernen möchte, kann sich jederzeit an eine Gemeinschaft wenden (am Ende dieses Artikels werden je eine "Anlaufadresse" aufgeführt).

Zusammenfassend möchte ich betonen, dass m.E. bei allen ideellen und strukturellen Unterschieden zwischen den beiden Bewegungen die Gemeinsamkeiten überwiegen. Besonders hervorhebenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang die grundsätzliche "Atmosphäre". Diese ist besonders schwer in Worte zu fassen. Ich hatte bei jedem meiner Aufenthalte das Gefühl, besonders zufriedenen und glücklichen Menschen zu begegnen. Sicherlich gab es immer wieder "behinderte" und "nichtbehinderte" Bewohner, denen es gerade nicht gut ging, trotz oder gerade wegen des Gemeinschaftslebens.

Insgesamt erschien mir das Leben aber immer von besonderer Lebensqualität zu sein. Der Umgang miteinander ist in beiden Bewegungen überwiegend geprägt von Achtung und Wertschätzung. Es können in Camphill- und Arche-Gemeinschaften sicherlich auch andere Erfahrungen gemacht werden. Ich nehme mich da auch selbst gar nicht aus. Das allgemeine Klima ist aber im allgemeinen aufgrund des Menschenbildes und des Selbstverständnisses beider Bewegungen von dieser wertschätzenden Haltung geprägt und gibt Mitarbeitern/Innen die Chance, sich ihrerseits davon prägen zu lassen und ihre eigene Entwicklung voranzutreiben.

Es geht mir hier aber nicht primär darum aufzuzeigen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es bezüglich Camphill- und Arche-Gemeinschaften gibt, sondern hervorzuheben, dass diese Lebensform in meinen Augen sehr zur Lebensqualität ihrer Bewohner (behinderte Menschen wie Mitarbeiter/Innen) beitragen kann.

In der Heil- und Sonderpädagogik lebt das Normalisierungsprinzip als geradezu paradigmatische Größe. "Normalisierung" der Lebensbedingungen darf m.E. aber nicht ein "Gleichmachen" bedeuten. Vielmehr sollte das Streben nach einem Maximum an Lebensqualität für den individuellen Menschen im Vordergrund stehen. Bei der Umsetzung des Normalisierungsprinzips wird der Schwerpunkt häufig auf den Lebensort gelegt. So geraten mancherorts Camphill- und Arche-Gemeinschaften unter zunehmenden Legitimationsdruck, da sie oftmals hinsichtlich ihrer Lebensform, also äußeren Bedingungen wie Einzelzimmer, Belegungshöchstgrenze pro Haus etc., von allgemeinen Richtlinien abweichen. Sie entsprechen nicht der "Norm".

Zu bedenken wäre aber, ob nicht auch behinderten Menschen das Recht zugestanden werden sollte, in einer solchen besonderen Lebensform zu leben und ob nicht andere Gesichtspunkte entscheidender zur Lebensqualität beitragen als bloße äußere Gegebenheiten:

"Die Heilpädagogik hat es primär mit Menschen zu tun und nicht mit Orten. Menschen leben zwar immer situiert; wo sie leben ist jedoch den Fragen, wie sie leben und was Lebensqualität für den Einzelnen von ihnen jeweils sein könnte, nachgeordnet. Man kann nicht nur auf verschiedene Arten und Weisen, "jeder nach seiner Facon selig werden", sondern auch an verschiedenen Orten. Bei aller Bedeutung, die der Deinstitutionalisierung bei der praktischen Umsetzung des Normalisierungsprinzips zukommt, sollte dieser Sachverhalt nicht übersehen werden." (Gröschke 2000, S.140)

Genauer darzustellen, welche Faktoren zur Lebensqualität beitragen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ein wichtiger Faktor für das subjektive Empfinden von Lebensqualität stellt sicherlich die Art und Weise dar, wie dem Einzelnen begegnet wird. Die Haltung gegenüber behinderten Menschen ist da oftmals wenig zum Erfahren von Lebensqualität geeignet. Ist die Haltung aber von Anerkennung und Wertschätzung geprägt,

  • so wird der jeweilige behinderte Mensch als Subjekt und nicht als zu behandelndes Objekt betrachtet,

  • so wird man versuchen, bestimmte Verhaltensweisen zu verstehen und Hilfestellung zu geben, zu mehr Ausgeglichenheit und zu einer Weiterentwicklung zu kommen,

  • so werden Forderungen nach "Normalisierung", "Selbstbestimmung", "Integration" etc. im Prinzip unnötig sein, da eine solche wertschätzende Haltung all diese heilpädagogischen Leitideen impliziert.

Auch in Camphill- und Arche-Gemeinschaften wird diese Haltung sicherlich nicht ständig und überall zu finden sein. Durch diese besondere Lebensform und den Idealen und Intentionen dieser Art des Zusammenlebens "behinderter" und "nichtbehinderter" Menschen, versteht es sich aber von selbst, dass eine solche wertschätzende Haltung von Menschen, die hinter der Idee von Camphill- und Arche-Gemeinschaften stehen, eingenommen wird.

Es ist dabei sicherlich auch wichtig für die Gemeinschaften, nicht den Bezug zur "Außenwelt" zu verlieren und Anregungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Menschen zu überdenken und gegebenenfalls aufzunehmen. Es wäre m.E. aber nicht gerechtfertigt, die Existenzberechtigung von Lebensgemeinschaften in Frage zu stellen, nur weil diese nicht einer bestimmten Norm entsprechen. Man kann ganz im Gegenteil sicherlich sehr viel von Camphill- und Arche-Gemeinschaften lernen.

Werden behinderte Menschen nicht als defizitäre, bemitleidenswerte, kostenverursachende, fremde Wesen gesehen, sondern als Mitmenschen mit eigenen Qualitäten, so wird mit dieser Einstellung auch das Nötige für ihre Lebensqualität getan werden. Ich denke, hierin liegt auch eine große Aufgabe für Lebensgemeinschaften. Sie sollten sich mehr nach außen öffnen und die Begegnung mit dem Umfeld suchen. Wenn dies besser gelingen würde, könnten gerade Camphill- und Arche-Gemeinschaften exemplarisch zeigen, wie bereichernd das Miteinander von "behinderten" und "nichtbehinderten" Menschen sein kann.

Wenn ich in Gedanken Gesichter aus den verschiedenen Gemeinschaften, die ich kennen lernen konnte, durchgehe, so kommt mir spontan ein Wort in den Sinn: Lebensfreude. Lebensqualität drückt sich u.a. durch Lebensfreude aus und diese kann wohl als ein sichtbares Zeichen für die Verwirklichung von echter Lebensqualität in Camphill- und Arche-Gemeinschaften gesehen werden.

Anlaufadressen:

Camphill-Gemeinschaften:

Sekretariat der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie

Ruchti-Weg 9

CH-4143 Dornach

Tel.: (0041) 061-07018485

Arche-Gemeinschaften:

Arche Regenbogen

Bodelschwinghweg 6

D-49545 Tecklenburg

Tel.: (0049) 05482-7700

Literatur

Quellenverzeichnis und Auswahl zum Themenbereich

Christie, N., 1992: Jenseits von Einsamkeit und Entfremdung: Gemeinschaften für außergewöhnliche Menschen. Stuttgart

Grimm, R., 1991: Die therapeutische Gemeinschaft in der Heilpädagogik. Stuttgart

Grimm, R., 1995: Perspektiven der Therapeutischen Gemeinschaft in der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn

Gröschke, D., 2000: Das Normalisierungsprinzip: Zwischen Gerechtigkeit und gutem Leben. Eine Betrachtung aus ethischer Sicht. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 4/2000. S.134-140

König, K., 1994(orig. 1986 nach Vorträgen von 1962-1964): Der Impuls der Dorfgemeinschaft: menschenkundliche Grundlagen für das Zusammenleben von Erwachsenen mit und ohne Behinderung. Stuttgart

Marcadé, M. et collaborateurs, 1996: Vivre avec Perceval, une communauté anthroposophique de pédagogie curative et de sociothérapie. Luzern

Pietzner, C. (Hrsg.), 1994: Camphill: 50 Jahre Leben und Arbeiten mit Seelenpflege-bedürftigen Menschen. Stuttgart

Schriftenreihe der Arche Nr.1: Charta der Gemeinschaften (Faltblatt; bezogen bei der Arche Tecklenburg)

Sturny-Bossart, G., 1993: Anthroposophisch orientierte Heilpädagogik. Einsichten eines Außenstehenden. Luzern

Vanier, J. (Hrsg.), 1985: Herausfordernde Gemeinschaft. Salzburg

Vanier, J., 1989: Die Geschichte der Arche. In: Christlicher Verein Arche e.V. Hamburg (Hrsg.): Die Geschichte der Arche. Sonderausgabe der Briefe der Arche. Osnabrück

Vanier, J., 1993: Identität und Mission der Arche. In: Christlicher Verein Arche e.V. Hamburg (Hrsg.): Briefe der Arche Nr. 77, S.11-18

Die Autorin

Christa Heinrichsmeier, Dipl.Heilpädagogin, vier Jahre lang in der Camphill-Gemeinschaft Perceval am Genfer See, Studium der Heilpädagogik an der KFH Münster; andere Camphill-Gemeinschaften kennt sie von Besuchen oder kurzen Arbeitsaufenthalten her, z.B. Camphill Village Copake in den USA, Staffansgården/Mickelsgården in Schweden, Christophorus in Holland und Humanus-Haus in der Schweiz. Während des Studiums ging sie für ein 8-wöchiges Praktikum in die Arche-Gemeinschaft Aigrefoin in die Nähe von Paris. Im Rahmen ihrer Diplomarbeit befasste sie sich mit dem Thema "Camphill und Arche - Lebensqualität in der Gemeinschaft".

Telemannstr. 26

D-48147 Münster

Tel.: 0251-235021

e-mail: ch2@muenster.de

Quelle:

Christa Heinrichsmeier: "Camphill" und "Arche". Lebensqualität in der Gemeinschaft

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz S. 37-44

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.02.2011

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