Erfahrungen zum trägerübergreifenden Persönlichen Budget in Deutschland
Erschienen in: Behinderte Menschen 2/2013, S. 8-10 Behinderte Menschen (2/2013)
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches IX im Jahre 2001 wurde in Deutschland die rechtliche Grundlage dafür geschaffen, dass Menschen mit Behinderung anstelle von Sachleistungen ein Persönliches Budget (Geldleistung) in Anspruch nehmen können. Das Persönliche Budget ist ein pauschaler Geldbetrag, der sich an den individuellen Hilfebedarfen orientiert und Menschen mit Behinderung ermöglicht, die erforderlichen Unterstützungsleistungen in eigener Verantwortung „einzukaufen“ bzw. zu organisieren. (aus: Wissenschaftliche Begleitforschung der Modellprojekte „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“, TU Dortmund, 2007)
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„Jetzt entscheide ich selbst!“ steht auf der Titelseite der Broschüre „Das trägerübergreifende Persönliche Budget – Version in leichter Sprache“ vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Abbildung 1. Das trägerübergreifende Persönliche Budget

Diese Broschüre ist unter www.bmas.de erhältlich. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales möchte die Umsetzung vor Ort weiter erleichtern und veröffentlicht deshalb demnächst eine weitere Broschüre mit Best-Practice-Beispielen zum Persönlichen Budget.
Die Einleitung lässt keinen Zweifel am Expertenwissen der Zielgruppe zu: „Menschen mit Behinderung wissen selbst am besten, wer ihnen helfen soll. Zum Beispiel beim Leben in der eigenen Wohnung.“ Doch die Menschen, für die dieser Rechtsanspruch geschaffen wurde, berichten häufig von Erfahrungen, die eine Kluft zwischen Theorie und Praxis zeigen. So auch Interviewpartner Max M. (Name geändert), seitdem er 2011 einen Antrag auf Persönliches Budget gestellt hat.
F: Wie haben Sie vom Persönlichen Budget (PB) erfahren?
A: Ich habe nicht von den zuständigen Ämtern und Beratungsstellen, sondern durch einen Bekannten vom PB erfahren. Als ich einen Sachbearbeiter von einem zuständigen Amt auf das PB angesprochen habe, hat dieser sogar gesagt, dass das kaum umsetzbar sei. Zu den Beratungsangeboten seitens der Leistungsträger, die für mich kostenlos angeboten wurden, wollte ich gar nicht mehr hin. Ich wurde dort mit meinen Bedürfnissen überhaupt nicht beachtet.
F: Was konnten Sie mit Ihren Anträgen erreichen?
A: Am Anfang war ich euphorisch, weil ich die neue Möglichkeit einfach super fand! Endlich kann ich mir meine benötigte Assistenz selbstbestimmt auswählen. Bei meinem Leben in einer eigenen Wohnung habe ich die letzten Jahre einen Bedarf an Sachleistungen, der insgesamt rund 5000 Euro z.B. für Pflegedienst oder Sozialarbeiter kostet. Trotz dieses Bedarfes wurden mir zu Beginn meiner Antragsstellung auf das Persönliche Budget gerade mal 30 Euro pro Monat genehmigt. Dafür könne ich laut damaliger Aussage vom zuständigen Amt einmal pro Monat mit einer Freizeitassistenz etwas unternehmen, doch die Pflege sollte weiterhin vom Pflegedienst durchgeführt werden. Da habe ich mich gewehrt und gesagt, dass die 30 Euro und einmal pro Monat etwas unternehmen können, deutlich zu wenig seien. Danach wurde das Geld für Freizeitaktivitäten und für die Teil habe am Leben in der Gesellschaft als PB auf rund 300 Euro erhöht. Dass die gesamten Sachleistungen, die ich erhalte, auch budgetfähig sind, hat mir auf den zuständigen Ämtern keiner erzählt. Als ich dann ein trägerübergreifendes Persönliches Budget (tPB) beantragte, um meine komplette Versorgung durch von mir selbstbestimmt ausgewählte Personen zu organisieren, erlebte ich eine Zermürbungstaktik, deren Belastung ich einfach nicht mehr aushielt.
F: Wie haben Sie sich bei diesem Antragsmarathon gefühlt?
A: Ich habe mich wie ein kleines Würmchen gefühlt, das von einem großen Daumen zerdrückt wird. Die Mitarbeiter auf den Ämtern sowie Pflege- und Krankenkasse waren mit meiner Erkrankung überfordert, ich habe das Gefühl gehabt, man lässt sich nicht wirklich auf mich ein. Ich wurde mit meinen Bedürfnissen überhaupt nicht beachtet. Das was ich sagte, wurde klein gemacht und überrannt. Bei Terminen auf den Ämtern haben zum Teil acht Mann auf mich eingeredet und wollten mir eine Meinung aufdrücken, die ich nicht vertreten konnte und wollte. Ich habe Schreiben bekommen, die ich als Erpressungen erlebt habe. Solch eine psychische Gewalt so offiziell und legal, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen werden kann und selbst Rechtsanwälte nicht darauf reagieren, hätte ich nicht für möglich gehalten. In der Antragsphase hätte ich dringend Rechtsberatung und eine wirklich unabhängige Unterstützung benötigt!
F: Was finden Sie besonders frustrierend?
A: Die Behörden wollten mich kontinuierlich immer wieder zu den üblichen herkömmlichen Diensten der Behindertenhilfe stecken, wenn man das nicht will, hat man Stress. Ich wurde nicht unterstützt, mir meine Hilfen selbstbestimmt zu organisieren. Dass das tPB funktionieren kann, habe ich von anderen aus anderen Städten gehört. Wenn man in der falschen Region mit umsetzungsunwilligen Behörden lebt, kann man ohne Geld anscheinend keinen Rechtsanspruch erwirken.
F: Was wünschen Sie sich?
A: Ich wünsche mir Rahmenbedingungen, die mir ermöglichen, selbstbestimmt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können. Vor allem möchte ich nicht nur überleben, ich möchte gerne auch etwas vom Leben haben. Deshalb pausiere ich 2013 mit Anträgen und starte 2014 wieder mit neuen Kräften. Der Frosch in dem Milchkrug hat ja schließlich auch gekämpft und gestrampelt, bis er durch die erzeugte Butter unter sich aus dem Gefängnis springen konnte.
1) Was läuft beim Persönlichen Budget schief?
Experte für persönliche Assistenz mit 20-jähriger Beratungserfahrung
Gerhard Bartz, der Vorsitzende von ForseA e.V., dem bundesweiten und verbandsübergreifenden Forum selbstbestimmter Assistenz von Menschen mit Behinderung, bearbeitet als Berater Antragsverfahren aus dem gesamten Bundesgebiet, bei welchen Menschen mit Behinderung Barrieren beim Erhalt ihrer Rechtsansprüche für persönliche Assistenz erleben. Bezüglich der Schilderungen von Max M. betont Bartz: „Der Mann hat die bundesdeutsche Wirklichkeit erlebt!“ Der ForseA-Vorsitzende sieht ein großes Problem bei den Sozialämtern: „Die meisten Sozialämter hintertreiben das Persönliche Budget (PB) und initiieren einen unglaublichen Verwaltungsaufwand, der mindestens doppelt so hoch ist wie bei der traditionellen Spitzabrechnung. Bei dieser werden die jeweils konkret entstandenen Kosten durch persönliche Assistenten monatlich mit dem Kostenträger abgerechnet.“ Außerdem achte fast niemand auf die gesetzlich vorgeschriebenen Bearbeitungsfristen der Anträge. Dadurch entstünden unnötige Verzögerungen von Leistungszusagen, gegen die nur gerichtlich vorgegangen werden kann, so Bartz. „Doch die meisten Menschen mit Behinderung haben aufgrund der gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Bezahlung von Rechtsanwälten nicht ausreichend finanzielle Mittel. Der Klageweg ist vielen Menschen mit Behinderung dadurch versperrt, da die Honorarsätze nach der Gebührenverordnung für das Sozialrecht aus meiner Erfahrung zu gering sind,“ berichtet der Experte. Das PB stelle nach Bartz selten eine Vereinfachung dar. Er empfiehlt im Konfliktfall, statt der Erstattungsform des Persönlichen Budgets die traditionelle Erstattungsform der Spitzabrechnung zu wählen. www.forsea.de
2) Man muss kämpfen können
Alfonso Roman Barbas, Mediator und Peer Counselor (Berater mit Behinderung für Menschen mit Behinderung) unterstützt seit rund sieben Jahren in ganz Deutschland Menschen mit Behinderung bei der Beantragung und Durchführung des Rechtsanspruches auf Persönliches Budget. „Um das PB zu erhalten, muss man kämpfen können. Wenn Menschen mit Behinderung dazu z.B. aufgrund von schwerwiegenden Erkrankungen nicht die Kraft haben, benötigen sie unabhängige Beratung und Unterstützung bereits in der Antragsphase. Dieser Bedarf muss dringend ermöglicht und finanziert werden.“ www.alfonso-roman.de
3) Es braucht Geld & Kontrolle
Gerda Mahmens ist stellvertretende Vorsitzende von Zuhause Leben e.V. Sie brachte ein beachtliches ehrenamtliches Engagement auf, um mit dem Persönlichen Budget die 59-jährige Elisabeth Bolsinger beim Auszug aus einem Heim zu unterstützen (mehr Infos unter http://maria-elisabeth-bolsinger.jimdo.com/ ): „Nur durch meinen zusätzlichen hohen Zeitaufwand, der nicht bezahlt wurde, konnte das Antragsverfahren von Bolsinger bis zum Bewilligungsbescheid durchgeführt werden.“ Aufgrund ihrer dadurch gesammelten Erfahrungen betont Mahmens: „Der Bedarf an unabhängiger Unterstützung von Menschen mit Behinderung muss finanziert werden. Die ausführenden Leistungsträger wie z.B. Pflegekassen und Sozialämter sollten dringend bezüglich ihrer Tätigkeiten im Bereich des PB von einer unabhängigen Stelle kontrolliert werden.“ http://zuhause-leben-ev.jimdo.com
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Quelle
Ulrike Jocham: Was Ämter von Betroffenen lernen könnten. Erfahrungen zum trägerübergreifenden Persönlichen Budget in Deutschland. Erschienen in: Behinderte Menschen 2/2013, S. 8-10.
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Stand: 27.09.2016