Behindert im sozialen Raum

Die Bedeutung des Modells des sozialen Raums von Pierre Bourdieu für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung

Autor:in - Martin Böhm
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen 2/2010, S. 51-61 Behinderte Menschen (2/2010)
Copyright: © Behinderte Menschen 2010

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Behindert im sozialen Raum

Mit dem Titel „Linz 2009 – Kulturhauptstadt Europas“ präsentierte sich 2009 die oberösterreichische Landeshauptstadt als „Nabel der Welt“ und versuchte mithilfe der Leitdirektive „Kultur für alle“ Menschen rund um den Globus nach Linz zu locken und die Teilhabe am kulturellen Programm für interessierte Menschen zu ermöglichen. Innerhalb der Stadt sollte mit diesem Kulturhauptstadtjahr ein Wandlungsprozess in Richtung einer offenen, modernen und gerechten Stadt forciert werden. Nun, einige Monate nach dieser Großveranstaltung prägen seither meist bauliche Veränderungen das Stadtbild und lassen einen Blick auf das abgelaufene Jahr erahnen. Will man den forcierten Wandlungsprozess verifizieren, so wird das Ganze schon etwas schwieriger. Flaniert Mann/Frau durch Linz begegnet er/sie vereinzelt auf Plakaten und/oder Aufklebern einem „Kranken Hasen“, der sich seit Linz 2009 die Frage stellt: „Wie viel Verrücktheit verträgt Provinz?“ Diese Symbolfigur eines Kunstprojektes des KunstRaum Goethestraße xtd. der pro mente Oberösterreich hat sich im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 2009 und darüber hinaus zum Ziel gesetzt „Verrücktes“ sichtbarer zu machen, Platz einzunehmen, Räume zu besetzen und die Frage der „Normalität“ im sozialpsychiatrischen Kontext zu diskutieren, es stand und steht für eine „city of respect“ in der sich Menschen mit und ohne Behinderung in der Gesellschaft und im sozialen Raum gegenseitig respektieren und akzeptieren.

Aber was ist ein sozialer Raum und welcher Logik ist dieser unterworfen? Was unterscheidet ihn von einem physischen Raum und wie kann man sich in ihm orientieren? Welchen Stellenwert hat ein Raumkonzept für die soziale Arbeit und wie kann Raum angeeignet werden? Um solche oder ähnliche Fragen beantworten zu können, ist eine Auseinandersetzung mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu hilfreich, da er wie kein anderer den Raumbegriff in den Sozialwissenschaften geprägt und populär gemacht hat. Der vorliegende Text erläutert die Theorie von Pierre Bourdieu und zeigt sein Verständnis vom sozialen Raum auf. Abschließend wird auf den sozialen Raum in der sozialen Arbeit eingegangen.

Zur Theorie von Pierre Bourdieu

Inhaltsverzeichnis

Bourdieu, der am 23.01.2002 in Paris starb und in Deutschland vor allem in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre als Soziologe und scharfer Kritiker des Neoliberalismus bekannt wurde, gelangte als Philosoph über die Ethnologie zur Soziologie (vgl. Treibel 2006: 221; Löw 2001: 179). Die alte soziologische Grundannahme, dass jede soziale Praxis spezifischen Bedingungen unterliegt, machte Bourdieu auch in seinen Untersuchungen geltend (vgl. Schwingel 2009: 37). So beschäftigte er sich in seiner Theorie der Praxis mit der Überwindung von Objektivismus und Subjektivismus[1] sowie er das Ziel eines „soziologischen Strukturalismus“ anstrebte. Als Objektivismus bezeichnet Bourdieu den Strukturalismus, der für ihn eine der Hauptrichtungen in der Soziologie darstellt. Zum Objektivismus zählen alle objektiven Strukturen, wie empirische Daten (Beschäftigungsraten, Einkommenskurven, Scheidungsraten, Häufigkeiten von Kino Besuchen etc.), sprich alles statistisch Messbare. Hier liegt sein Interesse vor allem in den sozialen ungleichen Strukturen und seine Kritik gilt der Personifizierung von Kollektiven, da keine Strukturen per se vorhanden sind, sondern durch handelnde Individuen aufrecht erhalten und gemacht werden (vgl. Treibel 2006: 223f.). Die soziale Welt ist für ihn ein immanentes Moment gesellschaftlicher Selbstreproduktion und somit wendet er sich gegen die soziologische Reduktion auf materielle Strukturen (vgl. Löw 2001: 179f.). Aber auch vom Subjektivismus (Phänomenologie, Ethnomethodologie) grenzt sich Bourdieu ab und nennt diese Ansätze als unzureichend, da sie zu sehr von philosophischen und politischen Voreingenommenheiten determiniert wären (vgl. Treibel 2006: 223f.). Für seine Gesellschaftsanalyse ist es Bourdieu wichtig, nicht die Möglichkeiten des Handelns und die Kraft der prägenden Strukturen zu vernachlässigen (vgl. Dangschat 2009: 314). Die Schaltstelle zwischen praktischem Handeln und Wissen ist für ihn der praktische Sinn. Dieser ist somit der Ausgangspunkt jeglichen sozialen Erkennens (vgl. Treibel 2006: 223f.).

Bourdieus Ziel ist es, die ‚Objektivität der sozialen Strukturen‘ im Verhältnis zur ‚ Subjektivität der mentalen Strukturen‘ zu untersuchen.“ (Löw 2001: 180)

Die Sozialwelt als Praxis ist „der Ort der Dialektik von opus operatum und modus operandi, von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen und Habitusformen.“ (Bourdieu 1993a: 98) Entsprechend dem Habitus fließen Struktur und Handeln bei Bourdieu zusammen in den Begriff des sozialen Raums[2] (vgl. Löw 2: 181). Dieser soziale Raum „besteht aus einem Ensemble objektiver historischer Relationen zwischen Positionen, die auf bestimmte Formen von Macht (oder Kapital) beruhen“ (Wacquant 1996: 36) und innerhalb dieses Raumes jedem/r AkteurIn oder Gruppe die relative Stellung aufgrund (nach Struktur und Volumen im Zeitverlauf) der Handlungsressourcen (Kapitalia) zuweist. Für Bourdieu ist der soziale Raum kein starrer sondern ein dynamischer Raum der Beziehungen, in dem Menschen in einem ständigen Verteilungskampf stehen und um verschiedene Güter konkurrieren. Diese KonkurrentInnen sind objektiv KomplizInnen und haben kein Interesse am völligen Untergang der Gegenseite (vgl. Fröhlich 2003: 1). Jedoch befinden sie sich „in einer permanenten und konflikthaften Auseinandersetzung um gesellschaftliche Positionen im Sozialen Raum [...] Der Habitus, der im Zuge der Sozialisation in Abhängigkeit der jeweiligen Ressourcen (Verfügungsmöglichkeiten über ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital; Anm.: BM) erworben wird, bestimmt die Dispositionen, mit denen die Einzelnen in den sozialen Feldern operieren.“ (Dangschat 2009: 314) Der soziale Raum ist somit eine Abstraktion und bezieht sich auf die gesellschaftlichen Akteure und deren individuellen Dispositionen (Geneigtheiten) sowie Relationen zueinander (vgl. Lewitzky 2005: 64).

„Unter sozialem Raum versteht Bourdieu keinen geographischen oder physischen Raum, sondern den mehrdimensionalen Raum der Gesellschaft, in der einzelne soziale Gruppen in gesellschaftliche relevanten Bereichen („soziale Felder“) gemäß ihrer Kapitalvolumen und -strukturen relational verteilt sind.“ (Dangschat 2009: 313)

Dieser soziale Raum wird nach Bourdieu gegenüber dem physisch-baulichen Raum folgendermaßen bestimmt:

„Wie der physische Raum durch die wechselseitige Äußerlichkeit der Teile bestimmt ist, so ist es der soziale Raum durch die wechselseitige Ausschließung (oder Distinktion) der ihn konstituierenden Positionen, das heißt als eine Struktur des Nebeneinanders von sozialen Positionen.“ (Bourdieu 1991: 26)

Hinsichtlich der Reproduktion von sozialer Ungleichheit geht Bourdieu von drei relational miteinander verbunden Ebenen, die jedoch analytisch voneinander unabhängig sind, aus:

  • der Struktur sozialer Ungleichheit (Klassen, deren Position im sozialen Raum durch das Kapital bestimmt ist),

  • dem Habitus (meist Klassenhabitus) von Gruppen und einzelnen Personen (sozialstrukturell bedingter „Geschmack“)

  • dem Lebensstil, der Praxis des Handelnden (vgl. Dangschat 2009: 314)

Bevor wir uns nun dem sehr komplexen Modell des sozialen Raums widmen, sollen hier kurz die Begriffe: Struktur, Habitus, und Praxis ausgeführt werden.

Struktur

Wie bereits ausgeführt, werden die Positionen sozialer Klassen in der Struktur der Gesellschaft durch die Verfügungsmöglichkeiten über jeweilige Ressourcen oder Kapitalsorten bestimmt. Als Kapitalsorten unterteilt Bourdieu folgende:

  • „Ökonomisches Kapital (Einkommen, Besitz, Vermögen),

  • kulturelles Kapital (Bildungstitel (institutionalisiert), kulturelle Güter (objektiviert) sowie kulturelles Wissen, Geschmack, Fertigkeiten und Benehmen (inkorporiert),

  • soziales Kapital (institutionalisierte soziale Beziehungen) und

  • symbolisches Kapital (Ansehen, Prestige, Charme als Kommunikation der eingesetzten anderen Kapitalien in den sozialen Feldern, und damit der Position).“[3] (Dangschat 2009: 316)

Kapitalsorten können gegeneinander eingetauscht werden, sie sind in unterschiedlicher Weise an Personen gebunden und können teilweise in andere Kapitalien umgewandelt werden. Die Transformationsarbeit ist je nach Kapitalsorte unterschiedlich. Wesentlich ist hier, dass Bourdieu den Kapitalbegriff ausweitet und aufzeigt, dass dieser nicht nur in der Ökonomie vorkommt. Für ihn ist Kapital akkummulierte Geschichte, akkummulierte Arbeit und kommt in Form von Materie, einverleibter und verinnerlichter Form vor (vgl. Fröhlich 2003: 2) Sie stellt „Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes“ dar und gleicht „Trümpfen in einem Kartenspiel“ (Bourdieu 1985:10). Bourdieu beschränkt sich jedoch in der Darstellung des sozialen Raums auf das Kapitalvolumen insgesamt und auf die Anteile an kulturellem und ökonomischem Kapital. Die Möglichkeit der Aneignung der verschiedenen Kapitalsorten wird von Merkmalen sozialer Ungleichheit beeinflusst (vgl. Dangschat 2009: 316). So sind auf der Ebene der horizontalen Ungleichheit Behinderung, Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Herkunft zu nennen, sie ziehen sich quasi „quer“ durch alle Gesellschaftsschichten und haben Auswirkungen auf die vertikalen Ungleichheitsformen, wie Vermögens-, Einkommens-, Bildungs- und Berufsschichten (vgl. Maschke 2007: 299). Aufgrund von Umfang und Struktur des Kapitals unterscheidet er drei verschiedene Klassen: die herrschende Klasse, sie unterteilt sich in zwei Gruppen und durch eine „Teilung der Herrschaftsarbeit“ in ökonomische und intellektuelle Herrschaft. Während die erste Gruppe zur Gruppe der „herrschenden Herrschenden“ (Unternehmer, sie verfügen über ökonomisches Kapital) gerechnet wird, wird die letztgenannte Gruppe zur Gruppe der „beherrschten Herrschenden“ (Intellektuelle, sie verfügen über Kulturkapital) gezählt. Die Mittelklasse und das Kleinbürgertum stellt die zweite soziale Klasse dar, sie haben inner halb des sozialen Raums die ausgeprägtesten Mobilitätsprozesse. Als beherrschte Klasse wird die Volksklasse bezeichnet, sie stellt die dritte Klasse dar. Innerhalb des Sozialraum- Modells unterscheidet Bourdieu zwischen einem Raum der sozialen Positionen (objektive ökonomische, kulturelle und soziale Bedingungslagen) und einem Raum der Lebensstile („subjektive“ symbolische, gruppen- und klassenspezifische Merkmale der Lebensführung). Diesen drei großen sozialen Klassen können wiederum drei Geschmacksformen zugewiesen werden, die deren Lebensstil konstituieren (vgl. Schwingel 2009: 110f.,115). Nach Bourdieu muss Geschmack immer als etwas Gesellschaftliches betrachtet werden, es ist nie etwas Individuelles und ebenso kein persönlicher Verdienst (vgl. Treibel 2006: 233). Die obere Klasse stellt den legitimen Geschmack als Geschmacksform, der aus Luxus und Freiheit geboren wird. Er legitimiert und präferiert die Werke der (herrschenden) Kultur. Der Geschmack des Kleinbürgertums ist der mittlere („prätentiöse“) und zweite Geschmack, er zeichnet sich dadurch aus, dass die Werke bereits leichter zugänglich sind. Als dritte Geschmacksform nennt Bourdieu den populären („illegitimen“) Geschmack, der aufgrund mangelnder ökonomischer sowie kultureller Ressourcen, eine „Entscheidung für das Notwendige“ (Geschmack am Notwendigen) darstellt. Diese Werke und Praktiken (Volksmusik und Groschenromane) werden von den kulturellen Legitimationsinstanzen nicht sanktioniert (vgl. Schwingel 2009: 116).

Habitus

Als zentrale Kategorie in Bourdieus Theoriekonzept fungiert der Habitus. Mit dem Begriff Habitus überwindet Bourdieu die „Dialektik von objektiven und einverleibten Strukturen“ (Bourdieu 1979: 164ff.), d.h. die künstliche Spaltung zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Im Habitus des Menschen kommt das zum Vorschein, was ihn zu einem gesellschaftlichen Wesen macht, die Prägung, die er durch die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Gruppe erfahren hat, und die Zugehörigkeit zu dieser selbst. Der Habitus ist das Bindeglied zwischen der gesellschaftlichen Eingebundenheit und der Geschichte sowie dem konkreten Verhalten von Individuen. Geprägt wird er durch Verinnerlichung und hier vor allem durch die familiäre Sozialisation. Er ist somit relativ dauerhaft[4] (vgl. Treibel 2006: 226).

„Der Habitus bewirkt, dass die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils.“ (Bourdieu 1987: 278)

Der Habitus ist somit strukturierte Struktur (Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen) sowie strukturierende Struktur (Praxis und Wahrnehmung organisierende Struktur; vgl. Bourdieu 1987: 279). Durch Rückkopplung mit der Praxis kann dieser zwar verändert, aber nie vollständig verlassen werden. Die Ordnung der Gesellschaft wird mit den subjektiven Praktiken von Gruppen und Personen in Relation gesetzt und in „diesem dialektischen Spannungsverhältnis aus Disposition und Position werden die sozialen Felder bestimmt, gegeneinander abgegrenzt und in ihnen um gesellschaftliche Rangplätze gekämpft.“ (Dangschat 2009: 317)

Abbildung 1. Modell des Sozialraumes

Modell des Sozialraums: Ökonomisches und Kulturelles Kapital nach
                        Kapitalvolumen

Quelle: Schwingel 2009: 108

Praxis

Bourdieu bezeichnet mit der Praxis tägliche feldabhängige Handlungsroutinen. Diese beziehen sich auf spezifische sozial-räumliche Situationen, die weder strukturfunktionalistisch determiniert sind noch den Menschen als frei handelndes Individuum ansieht. In Abhängigkeit der Klassen und des „erworbenen Sinnes“ bestimmen die einzelnen Felder den Spielraum. Individuen verhalten sich nicht voraussetzungsvoll zueinander, sondern sie handeln in den von ihnen selbst und ihren Vorgängern produzierten Kampf- und Gravitationsfeldern in denen sie (vgl. Dangschat 2009: 318) „ihre Geschichte und Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes stets mit sich herumtragen – in Form einverleibter Dispositionen, Bewegungen, Haltungen ihrer Körper, die Hinweise auf soziale Positionen und Distanzen sowie die einzuhaltenden Verhaltensweisen bzw. Distanzstrategien geben.“ (Fröhlich 1994: 34)



[1] Als bekannte Beispiele dieser Spaltung innerhalb der Soziologie können die Gegensatzpaare Lebenswelt und System, Individuum und Gesellschaft, Interaktionismus und Funktionalismus, Mikro- und Makrosoziologie u.a. genannt werden (vgl. Schwingel 2009: 42).

[2] Bourdieu verwendet für den Begriff „sozialen Raum“ häufig synonym den Begriff des „Feldes“.

[3] Das symbolische Kapital wird bei Bourdieu nicht immer betont und kommt auch in dem zentralen Aufsatz zur Kapitaltheorie von Bourdieu nicht vor. Bourdieu spricht oft synonym vom sozialen und symbolischen Kapital. Da die Ausführungen von Dangschat der immer dominanter werdenden Bedeutung vom symbolischen Kapital gerecht und diese auch von Bourdieu betont wird, dient diese Aufteilung der Kapitalsorten hier als Grundlage.

[4] Ein mehrfacher Kritikpunkt an Bourdieu richtet sich an diese starre Konzeption vom Habitus, da sie ein Individuum zu sehr festschreibt und somit kaum Veränderungen herbeigeführt werden können. Darum wird oft auf die Unterscheidung vom primären und sekundären Habitus hingewiesen.

Charakterisierung der sozialen Klassen anhand des bourdieuschen Sozialraum-Modells

Nach diesen Ausführungen zum theoretischen Konzept des sozialen Raums von Pierre Bourdieu können wir nun den sozialen Raum entlang einer vertikalen und horizontalen Achse, gemäß den Kriterien soziale Laufbahn, Kapitalstruktur und Kapitalvolumen konstruieren (vgl. Schwingel 2009: 106).

Unter Berücksichtigung des Raums der sozialen Positionen und dem Raum der Lebensstile erhalten wir in einem zweiten Schritt ein sehr viel komplexeres Bild. (s. Abb2)

Abbildung 2. Raum der sozialen Positionen und Raum de Lebensstile

Raum der sozialen Positionen und Raum der Lebensstile anhand der
                     Achsen kulturelles/ökonomisches Kapital sowie Gesamtkapital

Quelle: Bourdieu 1989: 357.

Es lässt sich nun festhalten, wodurch soziale Klassen im Rahmen des Sozialraum- Modells von Bourdieu charakterisiert sind. Eine soziale Klasse wird in theoretischer und empirischer Hinsicht aufgrund ihrer objektiven (sozialen, kulturellen, ökonomischen und laufbahnspezifischen) Lebensbedingungen, der durch die Praxis (durch Inkorporation dieser Existenzbedingungen in ästhetischer, normativer und kognitiver Form) hervorgegangenen Habitusform und durch ihren spezifischen Lebensstil (Objekte der Lebensführung sowie gewählte Praktiken) bestimmt. Aus diesen resultiert die Distinktion, die eine Klasse positiv oder negativ auszeichnet. In diesen alltäglichen Distinktionsbeziehungen manifestiert sich eine symbolische Macht. Bourdieu bezeichnet eine Macht, sei es eine politische, ökonomische, kulturelle oder sonstige, als eine Macht, die sich Anerkennung verschafft. In der Soziologie wird diese auch als „legitime Macht“ bezeichnet (vgl. Schwingel 2009: 116f.)

Der Kampf um die Aneignung des Raums

Wie bereits oben ausgeführt kommt es im Raum zu Kämpfen um die Plätze und Orte des Sozialraums und um deren vermittelte Profite. Betrachtet man die räumlichen Profite, so können diese die Form von Lokalisierungs-Profiten annehmen, die wiederum in zwei Kategorien eingeteilt werden können:

  • situationsspezifische Erträge, diese gehen mit der Verfügung über knappe und erstrebenswerte Güter (z.B. Gesundheits- und Kultureinrichtungen, Bildungseinrichtungen etc.) einher.

  • positions- und rangspezifische Profite, diese gehen mit einem Verfügungsmonopol und einer distinguierenden Eigenschaft einher, sind prestigeträchtige und aus den „feinen Unterschieden“ resultierende symbolische Profite.

Die geographischen Entfernungen können über eine räumliche bzw. zeitliche Metrik und aufgrund vom zeitlichen Aufwand und den Zugangsmöglichkeiten zu öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln gemessen werden(vgl. Bourdieu 1993b: 120).

„Die Macht über den Raum, die vom Kapital in seinen verschiedenen Formen verliehen wird, ist dementsprechend immer zugleich auch Macht über Zeit.“ (Bourdieu 1993b: 120)

Räumliche Profite können aber auch die Form von Besetzungs- und Dichte-Profiten (Verfügung über physischen Raum wie z.B. Parks, große Wohnungen etc.) annehmen (vgl. Bourdieu 1993b: 120).

„Die Fähigkeit, den Raum zu beherrschen, hauptsächlich basierend auf der (materiellen oder symbolischen) Aneignung der seltenen (öffentlichen oder privaten) Gütern, die sich in ihm verteilt finden, hängt vom Kapitalbesitz ab. Das Kapital erlaubt es, unerwünschte Personen oder Sachen auf Distanz zu halten und zugleich sich den [...] erwünschten Personen und Sachen zu nähern. Die Nähe im physischen Raum erlaubt es der Nähe im Sozialraum, alle ihre Wirkungen zu erzielen, indem sie die Akkumulation von Sozialkapital erleichtert, bzw. genauer gesagt, indem sie es ermöglicht, dauerhaft von zugleich zufälligen und voraussehbaren Sozialkontakten zu profitieren, die durch das Frequentieren wohlfrequentierter Orte garantiert ist.“ (Bourdieu 1993b: 120).

Für Kapitallose heißt das, dass sie gegenüber den gesellschaftlich begehrten Gütern auf Distanz gehalten werden. Nach Bourdieu sind sie „dazu verdammt, mit den am wenigsten begehrten Menschen und Gütern Tür an Tür zu leben. Der Mangel an Kapital verstärkt die Erfahrung der Begrenztheit: er kettet an einen Ort.“ (Bourdieu 1993b: 121) Die Aneignung des Raums und der Kampf um diesen kann individuelle Formen annehmen, die Bourdieu in intra- und intergenerationelle räumliche Mobilität unterteilt, wie zum Beispiel, dass Akteure unterschiedlichen Alters zu einem bestimmten Zeitpunkt über die gleiche Position verfügen und sich in benachbarten (wenn auch vielleicht nur vorübergehend) Wohngebieten befinden. Jedoch ergibt sich aus der räumlichen Annäherung von im Sozialraum sehr entfernt stehenden Akteure noch keine gesellschaftlicher Annäherungseffekt. Über den Erfolg bei den Kämpfen entscheidet das verfügbare Kapital (vgl. ebd.: 121f ).

Zusammenfassend wird in der Soziologie Raum als physischer, sozialer und angeeigneter (physischer) Raum sowie als kognitiv angeeigneter Raum (nach Dangschat/Frey) gedacht. Bedeutungsvoll an Bourdieus Konzept ist u.a. die Herausarbeitung von den unterschiedlichen Kapitalsorten, die zur Raumproduktion (ökonomisches und politisches Kapital) bzw. Raumaneignung (soziales und kulturelles Kapital) benötigt werden und das sichtbar machen von der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit. Im nächsten und abschließenden Schritt soll auf den Sozialraum in der sozialen Arbeit eingegangen werden und mit ihm rückt nun ein anderes Verständnis von Raum in den Mittelpunkt der nachstehenden Betrachtungen. Im Fokus des Raumes steht nun der Mensch bzw. sein Sozial- und Raumverhalten. Die anschließenden Ausführungen sollen einen kurzen Ausblick auf das derzeitige Raumverständnis geben und Fragen zur Zukunft des Raums beantworten. Der Raumbegriff unter lag im Laufe der Zeit einem ständigen Wandel und er erreichte große Popularität. So spricht man heute vom Lebensraum, d.h. der Raum wird als Kommunikations-, Handlungs- und Orientierungsraum erfahren. Es geht um die Ausdehnung von reellen zu virtuellen Räumen, die mit neuen Kommunikationsmedien (Internet, Telefon etc.) immer größere Reichweiten erzielen. Im Zentrum steht die Gestaltung und dieser Prozess betrifft die Lebenswelt.

Der Sozialraum in der sozialen Arbeit

Der Sozialraum wird nun fernab von Bourdieu auch „als Wohnort, Interaktionsraum und Infrastruktur für den Alltag, aber auch in seinen symbolischen Qualitäten als Heimat, Möglichkeitsspielraum und Identitätsvermittler“ (Früchtel et al. 2010: 16) verstanden. Auch wenn Integration und Segregation andernorts erzeugt wird, so wird sie doch an den individuellen Wirkzonen des Raums sichtbar. Diese Wirkzonen werden beeinflusst von Verkehrswegen, infrastruktureller Ausstattung, Mietpreisen, kommunalen Ordnungen etc. (vgl. Früchtel et al. 2010: 16). Raum kann als „relationale (An)Ordnung von Menschen und sozialen Gütern“ (Löw 2001: 224) definiert werden. Wenn man sich nun Gedanken über den Raum machen will, so sind verschiedene Bestandteile des Raums, wie soziale Güter und Menschen und deren Beziehung zueinander, zu berücksichtigen. Dieser Raum entsteht durch das Platzieren von sozialen Gütern und der Zusammenfassung von Menschen und Gütern über Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprozesse (vgl. Früchtel et al. 2010: 199). In der sozialen Arbeit ist der Sozialraum ein von Menschen individuell definierter Raum. Dieser kann ein geografischer (z.B. Stadteil, Gemeinde etc.) oder ein individueller (kann dem geografischen Raum entsprechen) Sozialraum sein (vgl. Gillich 2006: 104). (s. Abb.3)

Abbildung 3. Der soziale Raum

Der soziale Raum als sich überschneidende Ellipsen: Das
 Bewusstsein
                     (subjektive Sichtweise), Das Sein (materielle
 Wirklichkeit), in der Mitte
                     Die Lebenswelt

Quelle: Gillich 2006: 105.

In der sozialen Arbeit geht es nun darum, Räume zu öffnen anstatt sie zu beschreiben, sie zu dekonstruieren und neu zu organisieren und ihre Konstruiertheit zu erkennen. Zentral sind

„die Prozesse, in denen Räume entstehen, die Effekte, die von diesen Aufteilungen ausgehen, die Interessen und Konstruktionspläne, die dahinter stehen, und die Frage, wer die Akteure dabei sind und wie sie zu beeinflussen sind.“ (Früchtel et al. 2010: 200)

Fügen wir jetzt zu den Menschen und ihren individuellem Raum sowie dem geografischen Raum noch handlungsleitende Prinzipien hinzu, so kommen wir zum Begriff der Sozialraumorientierung. Hier stehen die Prinzipien der Ressourcenorientierung, konsequenten Beteiligung, Kooperation, Aktivierung und Vernetzung im Mittelpunkt, deren Ausgangspunkt der Organisation von Unterstützung die von den Menschen definierten Räume darstellen. Somit beruht sozialräumliche Arbeit auf dem Prinzip der Lebensweltorientierung. (s. Abb.4)

Abbildung 4. Lebensweltorientierung

Der soziale Raum als sich überschneidende Ellipsen: Das
 Bewusstsein
                     (subjektive Sichtweise), Das Sein (materielle
 Wirklichkeit), in der Mitte
                     Die Lebenswelt

Quelle: Gillich 2006: 106

Resümee

Bourdieus theoretische Konzepte und seine Ausführungen zum sozialen Raum haben nach wie vor einen zentralen Stellenwert in den Sozialwissenschaften. Sie zeigen gut auf, wie wichtig es ist Räume zu öffnen, zu dekonstruieren und neu zusammen zu setzen. Betrachtet man in diversen Sozial- oder Behindertenberichten (in Österreich herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und den verschiedenen Sozialabteilungen der Länder) den Zugang von Menschen mit Behinderung zu den verschiedenen Kapitalsorten, so wird Behinderung als horizontale Ungleichheit bestätigt und Menschen mit Behinderung werden im sozialen Raum am Zugang zu den Kapitalien behindert. Um Menschen mit Behinderung die Teilhabe an kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapital „ohne Barrieren“ zu ermöglichen, muss fernab von punktuellen PR-Kampagnen oder zeitgenössischen Sozialkampagnen Inklusion forciert werden. Unter anderem wäre eine „echte“ Einbindung von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt[5] notwendig. Für das Anstreben einer Chancengleichheit und zur möglichen Akkumulierung von verschiedenen Kapitalien ist dieser Schritt unabdingbar. Für den Auftrag an die soziale Arbeit heißt das, dass der/die SozialarbeiterIn im unterschiedlichen Ausmaß als LobbyistIn, NetzwerkerIn, UnterstützerIn etc. auftreten muss. Räume sind zu schaffen, zu verdichten und auszudehnen. Vorhandene Ressourcen, Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen müssen gefördert und aufgebaut werden. Hierzu ist eine Analyse des Sozialraums unumgänglich und notwendig.



[5] In Österreich beträgt die Beschäftigungsquote der Gesamtbevölkerung ohne behinderte Personen im engeren Sinn 67%, die der Behinderten im weiteren Sinn 55% und die der Behinderten im engeren Sinn 34%. Die Beschäftigungsquote der behinderten Menschen im engeren Sinn ist somit um die Hälfte niedriger als die der Nichtbehinderten (vgl. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2009: 19f.).

Literatur

Bourdieu, P. (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

Bourdieu, P. (1985): Sozialer Raum und Klassen. Lecon sur la lecon. Ffm.

Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

Bourdieu, P. (1989): Sozialer Raum, symbolischer Raum. In Dünne, J./ Günzel, S. (2006, Hg.): Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

Bourdieu, P. (1991): „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“. In: Wentz, M. (Hg.): Stadt-Räume, Campus Verlag, Frankfurt/Main, New York.

Bourdieu, P. (1993a): Sozialer Sinn. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

Bourdieu, P. (1993b): Ortseffekte. In Bourdieu, P. et al. (2010, 2.Auflage): Das Elend der Welt. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.

Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (2009, Hg.): Behindertenbericht 2008. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Wien.

Dangschat, J. (2009): Symbolische Macht und Habitus des Ortes. Die „Architektur der Gesellschaft“ aus Sicht der Theorie(n) sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu. In Fischer, J./ Delitz, H. (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Transcript Verlag, Bielefeld.

Fröhlich, G. (2003): Handlungsressourcen. Kapitalsorten bei Pierre Bourdieu. Erziehung heute (e. h.) Vol. 4/2003.

Früchtel , F./Cyprian, G./Budde , W. (2010, 2. Auflage): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen. VS Verlag, Wiesbaden.

Gillich, S. (o.J.): Sozialraumorientierung als Standard in der Arbeit mit Jugendlichen auf der Straße. Downloadbar unter: www.bundesarbeitsgemeinschaft-streetwork-mobile-jugendarbeit.de/.../gillich_sozialraum.pdf (24.02.2010).

Lewitzky, U. (2005): Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Transcript Verlag, Bielefeld.

Löw, M. (2001): Raumsoziologie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

Maschke, M. (2007): Behinderung als Ungleichheitsphänomen – Herausforderung an Forschung und politische Praxis. In Waldschmidt, A./ Schneider W. (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Transcript Verlag, Bielefeld.

Schwingel , M. (2009, 6. Auflage): Pierre Bourdieu zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg.

Treibel , A. (2006, 7. Auflage): Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. VS Verlag, Wiesbaden.

Wacquant, L.J.D. (1996): Auf dem Wege zu einer Sozialpraxeologie. In: Bourdieu, P./Wacquant, L.J.D.: Reflexive Antrophologie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main

Der Autor

Portrait Martin Böhm

Mag. Martin Böhm

martin_boehm@gmx.at

Mag. Martin Böhm ist Soziologe und Dipl. Behindertenpädagoge lebt in Linz. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der pro mente austria/ pro mente praevention – Institut für seelische Gesundheitsförderung und ist Lehrbeauftragter für Soziologie am Ausbildungszentrum für Sozialbetreuungsberufe der Caritas für Menschen mit Behinderungen in Linz. Mag. Martin Böhm ist Mitglied des Netzwerkes „Innovative Bildungsräume. Bildungs- und Innovationsforschung“ (IBR – www.liqua.net/ibr/) des Linzer Institutes für qualitative Analysen (LIquA), des Kunstkollektivs qujOchÖ – experimentelle Kunst- und Kulturarbeit und des Redaktionsteams der KUPF-Zeitung (Kulturplattform OÖ).

Quelle

Martin Böhm: Behindert im sozialen Raum. Die Bedeutung des Modells des sozialen Raums von Pierre Bourdieu für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Erschienen in: Behinderte Menschen 2/2010, S. 51-61

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 03.06.2015

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