Wo Missbrauch beginnt

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2011, Thema: Gewalt und Missbrauch, Seite 16. Interview mit Alexander Unterberger (Gewaltpädagoge); geführt von: Johann Tausch. Behinderte Menschen (1/2011)
Copyright: © Behinderte Menschen 2011

Inhaltsverzeichnis

Information

BEHINDERTE MENSCHEN, die Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten ist das Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Alle zwei Monate bringt es Fachwissen zu einem Schwerpunktthema. Dazu gibt es Reportagen, Meldungen, Buchbesprechungen, Fortbildungstipps und Kommentare. Produziert wird die Zeitschrift von der Reha-Druck, einer Druckerei in Graz, in der behinderte Menschen Ausbildung und Arbeit finden. Probeexemplare, Geschenkabos und Schnupperabos können auch online angefordert werden: www.behindertemenschen.at

Wo Missbrauch beginnt

Behinderte Menschen: Wie würden Sie aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrung Gewalt und Missbrauch definieren?

Gewalt und Missbrauch sind im Grunde nicht voneinander zu trennen. Beides sind Begriffe für denselben Umstand. Jeder Missbrauch ist eine Form von Gewalt. Die Definition ist schwierig, solange man nicht dem Opfer die Position einräumt festzulegen, was es als Missbrauch/Gewalt erlebt. Deshalb würde ich sagen, Gewalt ist das, was jemand als Gewalt erlebt. Übergeordnet gilt allerdings, dass Missbrauch jede Handlung ist, die das Befriedigen eines eigenen Bedürfnisses zum Zweck hat, ohne dabei auf die Bedürfnisse des Anderen Rücksicht zu nehmen.

Behinderte Menschen: Wann beginnt Ihrer Meinung nach Missbrauch?

Missbrauch beginnt nicht, wo einer einen schlägt! Gewalt beginnt da, wo jemand sagt: „Ich liebe dich, du gehörst mir!“ So sagt es ein Sprichwort und ich finde das sehr treffend. Wenn es um das Thema Missbrauch geht, denken wir sofort in Extremen bzw. in den Bildern, die wir durch die Medien vermittelt bekommen. Dies ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Missbrauch beginnt zum Beispiel da, wo jemand einen Menschen die Meinung über sein Verhalten sagt, um sich selber besser zu fühlen. Unspektakulär aber wahr. Sexueller Missbrauch ist hier keine Ausnahme.

Auch hier geht es um das Befriedigen von Bedürfnissen. Motiv dieser Form von Gewalt ist nicht die Sexualität, wie oft fälschlich behauptet, sondern die Gewalt wird in sexualisierter Form ausgelebt. Die Verletzung sowie die Erniedrigung stehen im Vordergrund und nicht die Sexualität. Es wird das Opfer in einen hilflosen Zustand versetzt, damit sich der Täter primär das Bedürfnis nach eigener Stärke und Sicherheit und manchmal auch Nähe erfüllen kann.

Behinderte Menschen: Wie erleben die Opfer Gewalt und Missbrauch und wie reagieren sie psychosozial? Gibt es hier aus Ihrer Sicht eine „geschichtliche“ Entwicklung, d.h. haben die Opfer in der Vergangenheit anders auf die Missbrauchshandlungen reagiert?

Wie Opfer Gewalt und Missbrauch erleben, ist sehr vielfältig. Für viele Opfer wird der Missbrauch normal. Demütigung, Hilflosigkeit und Angst gehören zu den meistbeschriebenen Erlebnissen. Eine geschichtliche Entwicklung gibt es tatsächlich. In der Vergangenheit haben Betroffene oft gar nicht erst versucht, den Missbrauch und die Gewalt nach außen zu tragen. Heute erleben wir Gott sei Dank, dass Opfer viel eher ihre Erlebnisse erzählen. Wahrscheinlich auch deshalb, weil wir allgemein sensibler reagieren und Opfer auch schneller angesprochen werden, wenn sich der Verdacht ergibt, jemand könnte Missbrauch oder Gewalt erleben. Die gesellschaftliche Toleranz zu diesem Thema ist stark gesunken.

Behinderte Menschen: Welche Aspekte in der Persönlichkeit oder im Umfeld lassen einen Täter zum Täter werden? Warum haben es Täter so leicht, lange Zeit nicht entdeckt zu werden?

Mit vielen Statistiken hat man in den letzten 20 Jahren versucht, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, welche eigene Geschichte einen Täter zum Täter werden lassen. Leider mit sehr mäßigem Erfolg. Was man allerdings sagen kann ist, welche Persönlichkeitsmerkmale ein Mensch haben muss, um Gewalttäter sein zu können. Es klingt vielleicht etwas eigenartig: Nicht jeder Mensch ist fähig, Gewalttäter zu sein. Es braucht eine Menge an Grundvoraussetzungen zur Täterschaft. Einige Grundfähigkeiten von Tätern sind: Die Fähigkeit sich emotional abzustellen, ein ausgeprägtes Isolationsverhalten in Krisen, Angst, sich zu zeigen bzw. die Fähigkeit sich anders darzustellen als man ist, die Gabe, Verantwortung abzuschieben. Gewalttäter und Missbraucher erkennt man von außen nicht. Es liegt im Inneren, was einen Menschen zum Täter macht. Nicht umsonst hört man oft, „also dem hätte ich das nicht zugetraut“. Denken sie nur an die Beschreibungen von Amokläufern. Das sind nie die wilden „Rowdys“, die im Pausenhof Wirbel machen, es sind eher die ruhigen Einzelgänger, die zumeist als höflich und freundlich und etwas zurückgezogen beschrieben werden.

Warum Täter so lange unentdeckt bleiben, liegt wohl einerseits daran, dass sie eben nicht an einem äußeren Merkmal erkannt werden können und zum anderen darin, dass Opfer aus Angst oder Scham sehr lange schweigen.

Behinderte Menschen: Im letzten Jahr war medial oft vom Missbrauch in pädagogischen Institutionen oder Internaten zu hören. Warum kommt es Ihrer Meinung nach hier zu Missbrauch, wo liegt das Besondere in diesen Settings?

Vorab möchte ich festhalten, dass es in pädagogischen Einrichtungen nicht häufiger zu Gewalt und Missbrauch kommt als in anderen Lebensbereichen, gar nicht zu sprechen von der Familie. Die meisten Missbrauchs- und Gewaltdelikte geschehen in der eigenen Familie. Für beide Settings gelten dieselben Faktoren. Beides ist ein in sich geschlossenes System und bietet eine Art Schutzrahmen für den Täter, da sich die Opfer stets in einer Art Abhängigkeitsverhältnis zum Täter befinden.

Behinderte Menschen: Gibt es präventive Möglichkeiten, Missbrauch und Gewalt gar nicht erst aufkommen zu lassen bzw. so zu kanalisieren, dass daraus keine negativen Folgen entstehen?

Natürlich gibt es Möglichkeiten, präventiv gegen Missbrauch und Gewalt anzugehen. Solange sich die Aufmerksamkeit allerdings auf den Opferschutz konzentriert, werden wir stets nur die Folgen bereits geschehener Taten lindern können. Opferschutz braucht Täterarbeit. Um weitere Opfer zu vermeiden, muss das Hauptaugenmerk auf die Täter gerichtet werden. Dies wiederum ist sehr schwierig, da der Täter zuerst selbst erkennen muss, dass er Täter ist. Ein besonderes Verhalten von Tätern macht allerdings eben genau das schwierig. Täter versuchen stets, die Verantwortung für das eigene Handeln dem Opfer unterzujubeln. Sie können sich das in etwa so vorstellen: „Der hat mich provoziert! Die hat mich so unter Druck gesetzt!“, sind typische Formulierungen, aber auch Aussagen wie: „Dann ist mir die Hand ausgerutscht! “, gehören in diese Kategorie. Im Falle sexueller Übergriffe hören wir auch oft Argumente wie: „Die hat das ja selber gewollt!“ Oder: „Wenn sie sich so aufreizend anzieht, kein Wunder!“ All dies ist nichts anderes als das Abgeben von Verantwortung. Irgendwie ist dann das Opfer schuld, zumindest mitschuld.

Behinderte Menschen: Was kann ich tun, wenn ich merke, „ich bin Opfer/ich bin Täter‘‘, wie und in welcher Weise kann ich Hilfe und Therapie in Anspruch nehmen?

Bundesweit hat sich inzwischen ein Netz von gewaltberatenden Einrichtungen entwickelt. Im Grunde können Sie heute in beinahe jeder Region Österreichs relativ leicht Gewalt-Beratung oder Gewalttherapie in Anspruch nehmen. Voraussetzung ist aber eben, dass sie die eigene Gewalttätigkeit als solche wahrnehmen. Sehr gute Informationsstellen sind Familienberatungsstellen und Männerberatungseinrichtungen. Die sind bestens informiert und können Ihnen oftmals sogar direkt weiterhelfen oder Sie anderenfalls an Fachleute weitervermitteln.

Behinderte Menschen: Welches „Handwerkszeug‘“ brauchen Menschen in helfenden Berufen, um nicht Opfer oder Täter zu werden? Welchen Beitrag leisten Sie in Ihrem Institut dazu? Welchen gesellschaftlichen Wandel bräuchten wir, dass mit diesem Thema offener und zielorientierter im öffentlichen Leben umgegangen werden kann?

Das Tolle ist, dass das Handwerkszeug für beide Seiten hilfreich ist. Wer gut auf seine Grenzen achten kann, sich zeigen kann mit all seinen Eigenarten und nicht bloß mit einer besonders positiven Auswahl seiner Eigenschaften, wer seine Gefühle mitteilen kann, wer darauf achten kann, andere durch sein Tun nicht ohnmächtig zu machen, der ist auf dem besten Weg weder Täter noch Opfer zu sein.

Wir am Institut Unterberger halten im Jahr ca. 20 Seminare für Einrichtungen und Betriebe zum Thema Umgang mit Gewalt und Aggression. Bisher sind die Rückmeldungen grandios und wir hören stets, dass unsere Vorschläge wirksam sind. Weiters beraten wir Teams im Umgang mit gewalttätigen und aggressiven Klienten in direkter Fallsupervision. Der Ausbildungslehrgang Gewaltprävention/ Gewaltpädagogik bildet in unserem Angebot die fachliche Ausbildung zur Arbeit mit gewalttätigen Klienten in den Arbeitsfeldern Sozialpädagogik, Behindertenarbeit und im Bereich der Psychosozialen Dienste. Wir bieten ebenfalls Beratung für Gewalttäter an. Gesellschaftlich bräuchte es einfach gesagt eine Haltungsänderung. Gewalt ist in unserer Gesellschaft noch immer legitim. Die Haltung müsste sich dahingehend ändern: Gewalt ist nicht okay, egal aus welchem Grund.

Portrait von Alexander Unterberger

Alexander Unterberger bietet mit einem kompetenten ReferentInnen-Team seit Jahren anerkannte und hochqualitative Lehrgänge zur Sozialpädagogik, Gewaltprävention/Gewaltpädagogik, Erlebnispädagogik und Trainer-Tiergestützte Sozialpädagogik an. Darüber hinaus rundet ein attraktives, und an Themen vielfältiges, Seminarprogramm das Angebot des Institutes ab: www.institut-unterberger.at

Quelle

Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2011, Thema: Gewalt und Missbrauch, Seite 16. Interview mit Alexander Unterberger (Gewaltpädagoge); geführt von Johann Tausch.

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Stand: 10.08.2015

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