Erfahrungen aus dem Alltag in einem Behindertenheim

Der versperrte Weg in die Selbstständigkeit

Autor:in - Horst Schreiber
Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2011, Thema: Missbrauch und Gewalt, Seite 49. Behinderte Menschen (1/2011)
Copyright: © Behinderte Menschen 2011

Information

BEHINDERTE MENSCHEN, die Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten ist das Fachmagazin im deutschsprachigen Raum. Alle zwei Monate bringt es Fachwissen zu einem Schwerpunktthema. Dazu gibt es Reportagen, Meldungen, Buchbesprechungen, Fortbildungstipps und Kommentare. Produziert wird die Zeitschrift von der Reha-Druck, einer Druckerei in Graz, in der behinderte Menschen Ausbildung und Arbeit finden. Probeexemplare, Geschenkabos und Schnupperabos können auch online angefordert werden: www.behindertemenschen.at

St.-Josefs-Institut in Mils, 1980

An der Jahreswende 1979/80 trat Brigitte Wanker im Alter von 22 Jahren eine Hilfspflegerinnenstelle im Pflegeheim des von den Barmherzigen Schwestern geführten St.-Josefs-Institut in Mils an. Die offizielle Bezeichnung des Hauses lautete „Pflegeanstalt für Geistesschwache“. So wie die Klosterschwestern und sonstigen Angestellten verfügte auch Wanker über keine Fachausbildung. Sie war eigentlich gelernte Weberin und mit der Absicht angetreten, ihre handwerklichen Fähigkeiten zu nutzen, um die Kreativität der Kinder zu fördern. Am Institut waren zu diesem Zeitpunkt 210 Personen aller Altersstufen untergebracht, von Kleinkindern bis zu alten Menschen. Rund ein Drittel waren Kinder, die über das Jugendamt oder von ihren Angehörigen eingewiesen wurden. Alle Insassen wurden als „geistig Schwerstbehinderte“ geführt, obwohl die Gruppen sehr heterogen zusammengesetzt waren. Viele Kinder und Jugendliche im St.-Josefs-Institut kamen aus schwierigen Familienverhältnissen und hatten bereits längere Heimkarrieren hinter sich.

„Harte Liebe“

In den Genuss von konsequenten und zielgerichteten Therapien kamen die wenigsten. Der Heimalltag, den Brigitte Wanker kennenlernte, war bis ins Detail vorgeplant und in ein enges zeitliches Korsett gepresst. Dies übte Druck auf die Betreuerinnen aus, der Pflege und den Tätigkeiten Vorrang einzuräumen, die den reibungslosen Ablauf des Anstaltsbetriebs garantierten. Der unverantwortbar schlechte Betreuungsschlüssel verhinderte eine individuelle Förderung, ein liebevolles, respektvolles Verhältnis und einen kindgerechten Umgang. Brigitte Wanker hatte für 24 schulpflichtige Buben Sorge zu tragen. Bestimmte bereits die starre, menschenunfreundliche Binnenorganisation über Betreuerinnen und Betreute, kamen noch die mangelhafte Ausstattung, die Überforderung des Personals durch Unterqualifikation und der Geist der klösterlichen Härte hinzu.

Brigitte Wanker begegnete einer für sie völlig fremden Welt, in der die Selbstverleugnung der menschlichen Bedürfnisse des Geistes, des Körpers und der Gefühle nicht eine Verirrung darstellte, sondern eine eingeforderte Lebensführung. Die Pflicht zur Bedürfnislosigkeit und das Abtöten der Empfindungen war oberstes Gebot für die Ordensfrauen. Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr so leben zu müssen, hinterließ Spuren und prägte die Persönlichkeit von Menschen, die in ihrer Selbstverleugnung ständig für andere da sein sollten, aber nicht einmal über eine professionelle Sachkompetenz verfügten. Brigitte Wanker hörte die Schwestern und die Mutter Oberin von „harter Liebe“ und „Zucht und Ordnung“ reden und sah sie danach auch handeln. In diesem Sinne könnte man von Opfern sprechen, die mit Unerbittlichkeit gegen Kinder mit speziellem Förderungsbedarf vorgingen, ohne dies zu begreifen, ohne dies emotional überhaupt nachvollziehen zu können. Zärtlichkeitswünsche der Kinder galten als Unbotmäßigkeit, Störung des Anstaltsbetriebes und als Gerissenheit, weil das schmeichelnde Kind auf diese Weise seinen Vorteil suche und eine Bevorzugung gegenüber den anderen. Die Buben wurden misshandelt, erniedrigt, ihrer Würde beraubt und zu unselbstständigen „Deppen“ erzogen. Resultat war, dass sie, sofern es ihnen möglich war, ihrerseits die anderen Kinder schlugen oder nach dem Vorbild der Schwestern schimpften. Mehrmals täglich wurden sie in Zweierreihen frisiert, adjustiert und im Rudel aufs Klo geführt. Bei geringen Vergehen setzte es sofort Schläge. Wer den Teller nicht leerte, wurde unter die kalte Brause gestellt oder so lange abgeduscht, bis der letzte mit Erbrochenem vermengte Rest des Essens hinuntergewürgt war. Widerstand musste gebrochen, die Willigkeit zur Einordnung und Anpassung schlagkräftig gefördert werden. Lehnte sich ein Bub auf oder zerstörte er etwas mit oder ohne Absicht, wurde er, sofern Duschen und Schläge ins Gesicht unzweckmäßig erschienen, in eine Zwangsjacke gesteckt. Sie konnte auch zur Arbeitserleichterung genutzt werden, wenn allzu viele Kinder in den großen Gruppen gleichzeitig zu versorgen waren. Für Abwechslung sorgten Spaziergänge, natürlich in Zweierreihen, auf den immergleichen ausgetrampelten Pfaden dieser kleinen, von der Umgebung abgeschotteten Welt, die sich selbst genügte. Zum Spielen oder für die Hausaufgabenbetreuung musste Brigitte Wanker die 24 Buben in einem einzigen Raum beschäftigen. Spielsachen waren rar, der Lärm und die Langeweile groß. Sie versuchte mit Theaterspielen und Basteln ein klein wenig entgegenzuwirken. Zeitweise, insbesondere aber wenn es regnete und kein Spaziergang durchgeführt werden konnte, musste Wankers Gruppe auf den neun Meter langen und zwei Meter breiten vergitterten Balkon. In diesem „Drahtverhau“ oder „Balkonkäfig“ verbrachten die 24 Buben zwei Stunden. Einige von ihnen waren solch beengte Verhältnisse schon gewohnt; denn sie lagen oft – aus welchen Gründen immer – angegurtet in ihren Betten.

Im St.-Josefs-Institut gab es keine Teambesprechungen und auch keine Supervision. Der Reflexion des Erziehungsgeschehens wurde kein Platz eingeräumt. Von Tag zu Tag mussten sich die Schwestern und Brigitte Wanker durchschlagen und unhinterfragt die Tradition des Hauses weiterführen. Die Überforderung war kein Thema. Investitionen in eine Ausbildung sowieso nicht. Die junge Frau fühlte sich ausgeliefert, macht- und hilflos, mitschuldig, all dies ansehen zu müssen und nichts dagegen tun zu können. Ihr Entsetzen teilte sie mit der einen oder anderen Angestellten. Sich mit der Heimleitung anlegen und den Arbeitsplatz gefährden, wollte niemand. Brigitte Wanker kontaktierte ihre Vorgängerin, die ebenfalls längst etwas gegen die untragbaren Zustände im Heim unternehmen wollte. Die Kollegin erzählte ihr, dass sie bereits mit einer Fürsorgerin des Jugendamtes darüber gesprochen hatte, dass diese jedoch keine Möglichkeit sah, einzugreifen. Eine Intervention des Vaters von Brigitte Wanker bei der Heimleitung blieb ergebnislos. Sie selbst begab sich zum Leiter des Innsbrucker Jugendamtes, der sie anschrie und sie aufforderte, ihre tagebuchartigen Aufzeichnungen zu verbrennen.

Nestbeschmutzerin und Kommunistin

Daraufhin kündigte Brigitte Wanker schweren Herzens, da sie keine Veränderungsmöglichkeiten mehr sah. Im kritischen Fernsehmagazin „Teleobjektiv“ berichtete sie 1980 jedoch über ihre Erfahrungen im St.-Josefs-Institut in Mils. Daraufhin geriet Wanker ins Visier der Verantwortungsträger und der „Tiroler Tageszeitung“, die eine Kampagne in Form von LeserInnenbriefen gegen sie einleitete. Die SchreiberInnen zeigten sich empört, dass die sich selbst aufopfernden Schwestern in den Schmutz gezogen würden. Landeshauptmann-Stellvertreter Fritz Prior protestierte beim Generalintendanten des ORF in Wien und drohte Brigitte Wanker, dass sie in Tirol nie mehr an einer Landesstelle unterkommen würde. Bernhard Praxmarer, Dekan von Hall und einer der angesehensten Kleriker Tirols, beschimpfte sie als Kommunistin und linke Emanze, die für ihre Aufdeckung Geld bekommen hätte. Das gerichtliche Vorverfahren wurde mangels an Beweisen rasch eingestellt. Brigitte Wanker sah sich gezwungen, Tirol zu verlassen und ging nach Wien, wo sie sich zur Sozialpädagogin ausbilden ließ und in diesem Berufsfeld arbeitete.

„Es war nicht umsonst.“

30 Jahre später zeigten sich Öffentlichkeit, Politik, katholische Kirche und Medien über die systematischen Misshandlungen im St.- Josefs-Institut und anderen Heimen schockiert. Nun wurden die damaligen Ereignisse in Mils nochmals aufgerollt. Die Tiroler Politik versprach, die Aussagen Brigitte Wankers nun ernst nehmen zu wollen, Radio und Fernsehen berichteten österreichweit. Die Generaloberin der Barmherzigen Schwestern verwies zwar zunächst noch darauf, dass der Orden 30 Jahre zuvor umgehend tätig geworden und den Vorwürfen nachgegangen wäre. Gegenüber einer Journalistin der Tiroler Tageszeitung beschuldigte sie Brigitte Wanker sogar nochmals, für ihre Aussagen Geld genommen zu haben. Während das St.-Josefs-Institut nicht in „alten Geschichten herumstochern wollte, bekräftigte Generalvikar Jakob Bürgler der Diözese Innsbruck, dass die Ordensgemeinschaften aufgerufen seien, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Die Generaloberin machte daraufhin einen Rückzug. Es gäbe in Bezug auf die damaligen Vorwürfe „nichts zu beschönigen“, erklärte sie schließlich: „Die Dinge, die nicht in Ordnung waren, wollen wir nicht wegdiskutieren.“ Die Betreuung von Behinderten im „Sozialen Zentrum St. Josef“ sei aber seitdem laufend verbessert worden und es habe ein Umdenkprozess stattgefunden: „Wir haben aus der Kritik gelernt.“ Die Staatsanwaltschaft nahm erneut Vorerhebungen auf, die sie aber wegen Verjährung der Vorfälle wieder einstellte. Außer den Vernehmungsprotokollen waren alle anderen Unterlagen aus dem Jahre 1980 nicht mehr auffindbar. Der Strafakt blieb verschwunden. Eine Einsichtnahme in die historischen Protokolle wurde Brigitte Wanker aus datenschutzrechtlichen Gründen verwehrt. Sie bekam nicht einmal ihre eigene Vernehmung von damals zu Gesicht. Hinsichtlich neuer Vorwürfe von tätlichen Übergriffen und Demütigungspraktiken, die sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ereignet hatten, vermerkte die Staatsanwaltschaft Innsbruck im September 2010, dass diese „zweifelsohne tatbestandsmäßig sind“, aufgrund der Verjährung sah sie sich aber gezwungen, eine Einstellungserklärung abzugeben. Kein einziges ehemaliges Opfer von Behinderteneinrichtungen meldete sich bei den Opferschutzkommissionen der katholischen Kirche oder des Landes Tirol. Bemühungen, mit den SachwalterInnen jener Personen in Kontakt treten zu können, die Gegenstand der genannten Untersuchungen vor 30 Jahren und im Jahr 2010 gewesen waren, scheiterten, weil die Staatsanwaltschaft dies aus datenschutzrechtlichen Gründen verweigerte. Von selbst haben die SachwalterInnen bisher keine Ansprüche auf finanzielle Entschädigungen für ihre Schutzbefohlenen angemeldet. Darüber hinaus gibt es bis heute auch keine Dokumentation des Erlebten und Erlittenen von Menschen in Behinderteneinrichtungen und in der Psychiatrie in Hall in Tirol.

Für Brigitte Wanker selbst war die zunächst wiederum leugnende und gegen sie gerichtete aggressive Haltung der Barmherzigen Schwestern Motivation, auf die Anfrage der Medien positiv zu reagieren und nochmals den Mut zu fassen, den Weg in die Öffentlichkeit zu wagen: „Da ist etwas in mir explodiert, wobei ich mir gedacht habe, ich halte meinen Mund jetzt sicher nicht.“ Erst im Laufe des neuerlichen Aufrollens der damaligen Vorkommnisse wurde ihr bewusst, dass sie „selber zum Opfer und gemobbt worden war“. Nun konnte sie sich ihrer eigenen Verletzung widmen, wahrnehmen, dass sie selbst bedürftig war, und beginnen, mit all dem abzuschließen. Es war ihr möglich, einen ehemaligen Schützling ausfindig zu machen, der damals so gequält worden war. In der Zwischenzeit hatte ihn aber jenes Schicksal ereilt, das so vielen Menschen mit Behinderungen widerfuhr. Er ist stark hospitalisiert und kann nicht einmal mehr lesen und schreiben. Zum Zeitpunkt des Abschieds von Brigitte Wanker war er durchaus noch in der Lage dazu gewesen. Zwar ist es ihr eine Genugtuung, dass jetzt unbestritten ist, was passierte und dass die Täterinnen ihre Schuld spüren müssen. Dennoch widerstrebt es ihr, Missstände zu individualisieren. Ihr Anliegen ist es, die Strukturen aufzudecken, die zu solchen Missständen führen, und die VerantwortungsträgerInnen in die Pflicht zu nehmen, die gerne das kleinste Rädchen zum Sündenbock stempeln. Nun fühlt sie sich trotz einiger negativer Reaktionen nicht mehr alleine und verspürte so etwas wie „Heilung“. Jedenfalls, so Brigitte Wanker: „Es war nicht umsonst.“

Quelle

Horst Schreiber: Erschienen in: Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 1/2011, Thema: Missbrauch und Gewalt, S. 49-52.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.12.2015

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation