Strukturelle und intervenierende Kompensationsstrategien

Autor:in - Aaron Banovics
Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit: angestrebter akademischer Grad Magister der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Mag. rer. soc. oec.) Wien, 2012; Betreuerin / Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Rudolf Forster; Studienrichtung lt. Studienblatt: Diplomstudium Soziologie (sozial-/wirtschaftswissenschaftl. Stud.).
Copyright: © Aaron Banovics 2012

Inhaltsverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit eidesstattlich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne die Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommen Gedanken sind als solche kenntlich gemacht.

Diese Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsstelle vorgelegt oder veröffentlicht.

Bruck an der Leitha, am 7.3.2012

Vorwort

Sie begegnen einem Menschen, einer flüchtigen Bekanntschaft.

Sie grüßen laut: "Guten Tag!"

Die Person geht grußlos an Ihnen vorüber.

Wie denken Sie in dieser Situation über jene Person?

Wie würden Sie über jene Person denken, hätten Sie den Titel dieser Arbeit nicht gelesen?

Die vorliegende Arbeit ist in gendersensibler Sprache verfasst. Mit Hinblick auf die Themenstellung der Arbeit möchte ich jedoch auch den Anspruch erheben, gendersensible Sprache im Kontext verschiedener alternativer Wahrnehmungsformen sichtbar zu machen. Da Menschen mit Sehschädigung je nach Ausprägung der Behinderung keine Schwarzschrift wahrnehmen können, lesen diese Personen Texte in Brailleschrift oder lassen sich Texte via Computersprachausgabe vorlesen.

Universelle gendersensible Sprache muss daher auch in alternativen Formen des Lesens sichtbar sein. Bei den verschiedenen Kurzformen des Gendersplittings ist dies leider regelmäßig nicht der Fall. Der Binnenmajuskel (Binnen-I) wird in der gesprochenen Sprache durch den Glottisschlag kenntlich gemacht. Dieser wird von synthetischer Sprachausgabe wie beispielsweise JAWS hinreichend präzise abgebildet, sodass bei der Verwendung von Screenreader-Software akustisch eindeutig zwischen den Kundinnen und den KundInnen eines Supermarktes unterschieden werden kann. In der Brailleausgabe, sowohl in der 6-Punkt als auch in der 8-Punkt Schrift, stehen ebenfalls adäquate Mittel zur Verfügung, das Binnen-I kenntlich zu machen.

Weniger trennscharf präsentiert sich das Binnen-I für Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung. Diese Personengruppe kann Schwarzschrift ggf. unter Zuhilfenahme von Vergrößerungshilfen und Kontrastverstärkern wahrnehmen, stößt jedoch bei der Unterscheidung der Buchstaben "I", "l" und "i" auf Schwierigkeiten. Während der klein geschriebene "i"-Buchstabe auf semantischem und heuristischem Wege vom kleinen "l" unterschieden werden kann, führt die schlechte Diskriminierbarkeit der beiden Formen des "i" Buchstabens zu einem female-bias. Es ist folglich nicht mehr eindeutig ersichtlich, wann Kundinnen als explizite Gruppe von Frauen angesprochen werden und wann der Begriff "KundInnen" als fakultativer Bezeichner für eine Gruppe von Menschen beiderlei Geschlechts Verwendung findet.

Andere Formen kurzen Splittings führen zur Störung des Leseflusses bei synthetischer Sprachausgabe (Schrägstrich, Gender-Gap etc.) oder der Braille-Ausgabe (spezielle Formatierung des Binnen-I).

Die vorliegende Arbeit ist daher zum Teil geschlechtsneutral verfasst, und wo dies nicht möglich ist, werden beide Genera ausgeschrieben verwendet.

Im weiteren Hinblick auf Sprache erkenne ich an, dass die Bezeichnung als "behinderte Person" einen Menschen auf eine einzige Eigenschaft reduzieren und somit zur Stigmatisierung Betroffener beitragen kann. Doch gemäß der Kernaussage des sozialen Modells von Behinderung ist es die (Konstruktion von) Gesellschaft, welche Menschen mit Behinderung tatsächlich behindert. Jede andere Bezeichnung als "Behinderte" wäre demnach sprachlich diffus und dazu geeignet, diesen hypothetischen Sachverhalt zu verharmlosen.

Es existiert daher eine rege - und unter der zuvor beschriebenen Prämisse gar widersprüchliche - Diskussion über die Frage, wie Menschen mit Behinderung zu benennen seien.

Diesen ideologischen Überlegungen schließe ich mich ausdrücklich nicht an und setze daher die Begriffe "eine sehbehinderte Person", "ein Mensch mit Sehschädigung", "Betroffene" u.a. ausschließlich im Sinne wissenschaftsgerechter, präziser Formulierung ein.

Dagegen ist es mir ein großes Anliegen, Sehbehinderung für sehende Personen sichtbar zu machen. Dieses Sichtbar-Machen ist der erste Schritt zu einer diskursiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sehbehinderung und Blindheit aus der Perspektive der Soziologie.

Daher enthält die vorliegende Arbeit eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Beispielen, die sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel ziehen. Aus der Sicht induktiver Schlussfolgerungen gewiss kritisch zu beurteilen und daher ausdrücklich nicht als Fundament zur Theoriebildung zu verstehen, dienen diese Beispiele dazu, die Leserin und den Leser dieser Arbeit didaktisch in die Gedankengänge und Schlussfertigkeiten einzuführen, welche nötig sind, um gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten sehgeschädigter Personen zu erfassen und schließlich zu analysieren.

Nachdem dieses Vorwort nun bereits zwei Beispiele anführt, wie Sie bei der Formulierung von Texten oder in ganz alltäglichen sozialen Situationen unwissentlich, möglicherweise völlig unbewusst, gewiss jedoch nicht in böser Absicht Exklusionspotential für Menschen mit Sehschädigung schaffen könnten, sollen in der vorliegenden Diplomarbeit Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe hochgradig sehbehinderter und blinder Menschen skizziert und dieser Partizipation förderliche und hemmende Einflüsse untersucht werden.

Danksagung

Besonderen Dank richte ich an meinen Betreuer, Univ.-Prof. Dr. Rudolf Forster, von dem ich durch seine kritisch-reflexive Haltung in der ausgedehnten Entstehungsphase dieser Diplomarbeit viel lernen durfte.

Darüber hinaus gebührt mein Dank Silvia und Martin Oblak, die mich durch ihre Empfehlungen beim Zugang zu meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern unterstützten. Ich bedanke mich bei allen Personen, die sich für die Interviews zur Verfügung stellten. Ohne sie wäre meine Arbeit nicht dieser Form möglich gewesen.

Besonderen Dank richte ich auch an meine Eltern, die mich während der Studienzeit stets unterstützten, sowie an meinen Freundeskreis, insbesondere Mag Alexandra Wiedemann und Gregor Zamarin, die mir in vielen wertvollen Gesprächen Gelegenheit, Zeit und Raum zur Reflexion gaben.

Liste der verwendeten Abkürzungen

bzw. beziehungsweise

bspw. beispielsweise

d.h. das heißt

d.Verf. der Verfasser (Anmerkung)

ebd. ebenda

etc. et cetera

f. folgende Seite

ff. folgende Seiten

ggf. gegebenenfalls

Hrsg. Herausgeber

o.J. ohne Jahresangabe

s. siehe

u.a. und andere

u.ä. und ähnliche

usw. und so weiter

vgl. vergleiche

zit. n. zitiert nach

Einleitung

"Wir wollen nicht länger über Barrieren hinweg getragen werden - etwa mithilfe sozialer Dienste - (...), sondern wir treten dafür ein, die uns behindernden Barrieren zu beseitigen, damit wir uns wie alle Anderen selbstständig und frei in der Gesellschaft bewegen können" (Marquard zit. n. Pätzig/ Graf. 2005: 120)

"If I were able to use the computer [to search for book references d.Verf.], I would most certainly take longer than the librarian [I used to ask for help d.Verf.], and having located the references on the screen, I would still need her assistance to pick them from the shelves! Despite the inconvenience, this machine would almost certainly cause, I would be expected to use it (...)" (French, 1998b: 45)

Zwei Aussagen von zwei Menschen mit Behinderung. Die erste Aussage stammt von Martin Marquard, ehemals Behindertenbeauftragter des Landes Berlin, Deutschland. Die zweite stammt von Sally French, Associate Lecturer an der Open University, Großbritannien. Zwei Menschen mit Behinderung - zwei grundverschiedene Ansichten über die gesellschaftliche Lebensgestaltung mit Behinderung?

Marquard fordert, dass sich Menschen mit Behinderung so barrierefrei wie Nichtbehinderte im Alltag bewegen können sollen. In seiner Aussage kommt eine starke Ablehnung von helfendem Eingreifen, dem Kompensieren einer Behinderung durch andere Menschen - etwa in Form institutionalisierter Sozialdienste - zum Ausdruck.

French hingegen scheint sich an der im Vergleich zu Nichtbehinderten geringeren Unabhängigkeit von anderen Menschen und Institutionen weniger zu stören. Sie denkt pragmatisch, wenn sie meint, sie könne selbst mit technischen Hilfsmitteln nicht so schnell oder effizient arbeiten wie mit der Unterstützung einer anderen Person - im zitierten Falle der Bibliothekarin.

Mit Sally French und Martin Marquard stelle ich zwei Personen vor, denen gesellschaftliche Teilhabe offenbar ein großes Anliegen ist. Doch ihre Strategien dazu unterscheiden sich beträchtlich: Marquard möchte sich in einer Umwelt bewegen, die so gestaltet ist, dass er selbst und ohne fremde Hilfe darin mobil sein kann. Die Forderung an die technische Gestaltung könnte man mit den populären Begriffen Barrierefreiheit oder inklusives Design aus der Bautechnik beschreiben. Für die resultierende Art von Mobilität möchte ich demgemäß den Begriff strukturelle Mobilität verwenden. Im weiteren Sinne - Einschränkungen durch Behinderung werden nicht nur im Kontext räumlicher Mobilität erlebt - möchte ich über diesen Zugang von struktureller Kompensation sprechen.

French dagegen beschreibt eine Situation, welche für sie durch strukturelle Kompensation der technischen Umweltgestaltung nicht befriedigend gelöst werden könnte. Sie würde sich mit dem Gedanken an die Effizienz ihrer Literaturrecherche viel mehr auf die Assistenz einer zweiten Person verlassen.

Für diese Art der Hilfestellung für Menschen mit Sehschädigung möchte ich den Begriff intervenierende Kompensation verwenden.

Mobilität oder eine andere Form von Interaktion mit der Umwelt wird in diesem Falle nicht vorab durch technische Gestaltung ermöglicht, sondern erst durch das Eingreifen, dem Intervenieren einer oder mehreren Personen.

In welchen Lebensbereichen sind Formen struktureller Kompensation und in welchen Bereichen Formen von intervenierender Kompensation im Sinne bestmöglicher Partizipationschancen von Menschen mit Sehschädigung angemessen?

Wie stellt sich dieser Sachverhalt für den Alltag von Betroffenen dar?

Wie gehen Personen mit Sehschädigung mit dem Status Quo um und wie beurteilen sie selbst ihre Partizipationsmöglichkeiten angesichts dieser beiden Faktoren innerhalb der Gesellschaft?

Dies sind die Fragen, auf die ich in der vorausgegangenen Literaturrecherche keine Antworten gefunden habe. Gleichwohl sind es Fragen von höchster Bedeutung: für Betroffene wie auch für Akteure im Feld der Sozialpolitik.

Es liegt daher nahe, den Alltag und die Lage sehgeschädigter Menschen aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive zu untersuchen, zumal es ohne einen profunden Einblick in reale und realisierbare Partizipationschancen Betroffener wenig seriös erscheint, die Lebenssituation von Menschen mit dieser Art von Behinderung verbessern zu wollen.

1.1 Sehschädigung, Sehbehinderung und Blindheit

Die Personengruppe im Fokus meiner Forschungsarbeit zeichnet sich durch das Merkmal Sehschädigung aus.

Das Merkmal Sehschädigung wird, wo es erforderlich ist, in die gesetzlichen Begriffe hochgradige Sehbehinderung und Blindheit ausdifferenziert. Diese sind gemäß BGBl. I Nr. 111/1998 folgendermaßen operationalisiert:

"Als hochgradig sehbehindert gilt, wer am besseren Auge mit optimaler Korrektur eine Sehleistung mit

  • einem Visus von kleiner oder gleich 0,05 (3/60) ohne Gesichtsfeldeinschränkung hat oder

  • einem Visus von kleiner oder gleich 0,1 (6/60) in Verbindung mit einer Quadrantenanopsie hat oder

  • einem Visus von kleiner oder gleich 0,3 (6/20) in Verbindung mit einer Hemianopsie hat oder

  • einem Visus von kleiner oder gleich 1,0 (6/6) in Verbindung mit einer röhrenförmigen Gesichtsfeldeinschränkung hat." (BGBl. I Nr. 111/1998 §4)

"Als blind gilt, wer am besseren Auge mit optimaler Korrektur eine Sehleistung mit

  • einem Visus von kleiner oder gleich 0,02 (1/60) ohne Gesichtsfeldeinschränkung hat oder

  • einem Visus von kleiner oder gleich 0,03 (2/60) in Verbindung mit einer Quadrantenanopsie hat oder

  • einem Visus von kleiner oder gleich 0,06 (4/60) in Verbindung mit einer Hemianopsie hat oder

  • einem Visus von kleiner oder gleich 0,1 (6/60) in Verbindung mit einer röhrenförmigen Gesichtsfeldeinschränkung hat." (BGBl. I Nr. 111/1998 §5)

Die Zuschreibung der Merkmale hochgradig sehbehindert und blind setzen sich gemäß gesetzlicher Bestimmung also aus einem Komplement von Visus und Gesichtsfeld zusammen. Der Visus beschreibt das maximale spatiale Auflösungsvermögen bei bestmöglicher refraktiver Korrektur des Auges und ist daher das Maß für die Sehschärfe im Zentrum des Gesichtsfeldes.

Das Gesichtsfeld beschreibt den Winkel eines Kreissektors, innerhalb dessen Objekte bei geradem, unbewegtem Blick wahrgenommen werden können.

Die Zuschreibung der Merkmale hochgradig sehbehindert und blind ist dabei normativen Charakters. Wenn in der vorliegenden Arbeit Personen als hochgradig sehbehindert oder als blind bezeichnet werden, so erfolgt die Bezeichnung gemäß BGBl. I Nr. 111/1998. Das bedeutet, dass als blind geltende Personen durchaus über einen rudimentär vorhandenen Sehrest zum Unterscheiden von Hell-Dunkel verfügen können. Dennoch gelten sie gesetzlich (und in den allermeisten Fällen auch funktional) als blind.

1.2 Zielsetzung und Ausblick

Mit der vorliegenden Diplomarbeit als Abschluss des Magisterstudiums der Soziologie an der Universität Wien werde ich mich mit Partizipationschancen von Menschen mit Sehschädigung in ausgewählten Lebensbereichen unter dem Einfluss von struktureller und intervenierender Kompensation auseinander setzen. Der Lebensbereich ist zunächst örtlich zu verstehen: der Ort meiner Forschung ist Wien. Großstädte verfügen über ein dichtes Infrastrukturnetz, welches sowohl Chancen als auch Hürden für die Mobilitätserfordernisse und Partizipationschancen Betroffener beinhaltet.

2001 lebten rund 28 Prozent der österreichischen Bevölkerung in Großstädten mit einer Einwohnerzahl größer 100.000.[1] Durch den Urbanisierungsprozess wird die Bedeutung des Lebensraumes Großstadt zukünftig weiter zunehmen.

Zweitens ist der Begriff Lebensbereich als Ort von Lebensentwürfen zu verstehen. Mit diesem Begriffsverständnis werde ich die gesellschaftliche Teilhabe Betroffener von rudimentären Alltagshandlungen bis zur Teilhabe an Erwerbsarbeitsprozessen, der Freizeitgestaltung und kulturellen wie gesellschaftlichem Engagement untersuchen.

Ein kurzer Vorgriff auf das Kapitel Soziologische Zugänge zum Disability Research offenbart, dass die Soziologie bislang leider kaum zur Erforschung von Menschen mit Behinderung im gesellschaftlichen Kontext beigetragen hat. Entsprechend wenig fundiertes Theoriematerial steht daher in dieser Wissenschaftsdisziplin zur Verfügung.

Ich werde daher zunächst die Entstehung und den aktuellen Forschungsstand aus den interdisziplinär ausgerichteten Disability Studies skizzieren und daraus ein Konzept für eine sozialwissenschaftliche Diskursgrundlage für die spezielle Situation von Menschen mit Sehschädigung erarbeiten. Innerhalb dessen werde ich die Begriffe der strukturellen Kompensation und der intervenierenden Kompensation positionieren.

1.3 Zur Bedeutung einer ausdifferenzierten soziologischen Perspektive

Zunächst führt die Institutionalisierungstendenz moderner Gesellschaften, wie sie etwa von Eisenstadt (Eisenstadt 1970) beschrieben wird, zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Lösungen für deren Probleme, die teilweise mit dem stark individuellen Charakter von Behinderung und damit verbundenen Bedürfnissen kollidiert.

Um es mit den Worten von Sally French über ihre durch die Sehbehinderung bedingten Schwierigkeiten an einem College für Sehbehinderte auszudrücken:

"The practice usually adopted is the one that suits the majority, which may make the environment for the minority less suitable than a 'normal' one - a situation, I faced recently when working in a college for visually impaired students." (French 1998a: 21)

Befunde wie dieser von Betroffenen zeigt deutlich die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen Maßnahmen und Tendenzen auf.

Diese könnten dazu führen, dass Lösungen, welche Menschen mit Behinderung zu mehr Partizipationschancen verhelfen sollen, tatsächlich zu einer bedeutenden Verschlechterung der Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe von Betroffenen führen.

Als hochgradig Sehbehinderter geltend sind mir solche Situationen selbst gut bekannt. Ich begegne in meinem Alltag Leitsystemen für blinde und sehbehinderte Menschen, welche mangels Kontrast - dunkle Linien auf ebenso dunklem Boden - zumindest Menschen, die als hochgradig sehbehindert gelten, keine große Hilfe sein können.

Ebenso bekannt sind mir gemäß der ÖNORM B 1600 in rollstuhlgerechter Höhe angebrachte Türöffner, welche sich durch ihre weiße Farbe nicht besonders gut von der weißen Wand unterscheiden lassen.

Die Beispiele mögen zunächst trivial wirken. Doch Entwicklungen wie diese sind in zweifacher Hinsicht kritisch zu beurteilen: Zunächst bedeuten strukturell barrierefreie Lösungen oftmals eine Ausgestaltung der Umwelt, auf die Betroffene unmittelbar keinen Einfluss nehmen können. Mit Frenchs Worten über ihre Zeit an einer Schule für Sehbehinderte und Blinde: "No heed was ever taken at our own suggestions" (French 1998c: 71).

Zweitens kann das Vorhandensein von als barrierefrei etikettierten, tatsächlich aber unzureichenden Strukturen zu dramatischen Konsequenzen für Betroffene innerhalb der Gesellschaft führen. Etwa wenn die individuelle Unterstützungsbedürftigkeit auf dem Wege intervenierender Kompensation im Alltag Betroffener durch andere Personen oder auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht mehr anerkannt wird, indem auf die bereits vorhandenen jedoch unzureichenden Strukturen zur Unterstützung von Menschen mit Sehschädigung verwiesen wird.

Weiters gilt es, die komplexen Interaktionsmuster zwischen Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung und blinden Personen zu analysieren.

Eine Person, die als blind gilt, wird für ihr Umfeld durch ihren Taststock als solche zu erkennen sein. Sodann werden ihr aufgrund dieses Merkmals bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die der allgemeinen Auffassung mit Blindheit verknüpft sind. Die Person wird stigmatisiert, wenn sie auf diese Eigenschaften reduziert wird. Das ist beispielsweise bereits der Fall, wenn eine Person, die als blind gilt, ungefragt über eine Straßenkreuzung geführt wird. Wenn sie dies gar nicht wollte und sich verbal oder physisch zur Wehr setzt, handelt sie der Erwartungshaltung zuwider und ihr Verhalten wird möglicherweise sanktioniert.

Subtiler kann sich soziale Interaktion mit einem Menschen gestalten, der als hochgradig sehbehindert gilt, jedoch keine entsprechenden Erkennungsmerkmale trägt. Geht eine Betroffene oder ein Betroffener grußlos an entfernten Bekannten vorbei, so liegt der Grund für dieses Verhalten in der mangelnden Wahrnehmung bzw. Erkennungsfähigkeit der Bekannten. Gleichfalls kann dieses Verhalten ohne Kenntnis der Sehschädigung als unhöflich interpretiert werden. In diesem Falle wurde eine soziale Norm verletzt und diese Verletzung wird - möglicherweise unbewusst - sanktioniert. French berichtet folgendermaßen über ihre Erfahrungen mit dieser Situation:

"[The neighbors' greetings d.Verf.] rapidly decreased and ceased altogether. Why this happened, I am not sure, but I suspect that my lack of recognition strained the interaction and limited the social reward, they received from the encounter. For my part, my inability to see them approaching meant that I was inevitably jolted abruptly from my thoughts when they did speak, which as well as feeling unpleasant, affected the normality of my response." (French 1998a: 18)

Für die Analyse solcher, hier sehr verkürzt dargestellter Interaktionsprozesse zwischen sehgeschädigten Personen und Personen mit anderen oder keinerlei Beeinträchtigung steht mit der Soziologie sicherlich eine hervorragend geeignete Forschungsdisziplin zur Verfügung. Wenngleich das Thema Behinderung und Gesellschaft eine ausgesprochen interdisziplinär zu verortende Materie darstellt, so kann die Soziologie einen wichtigen Beitrag zur Verständnisbildung und zur Integration von Menschen mit Behinderung[2] und im Speziellen Menschen mit Sehschädigung[3] leisten.

1.4 Menschen mit Behinderung in der Europäischen Union

In der 2002 in der EU-25 durchgeführten Labour Force Survey gab knapp eine von sechs befragten Personen (15,7%) im Alter zwischen 16 und 64 Jahren bekannt, an Behinderung oder an chronischer Krankheit zu leiden. (Dupré/ Karjalainen 2003: 1)

Die Erhebung von Behinderung und chronischer Krankheit beruhte auf einer Selbsteinschätzung der Befragten und so betonten die Autoren, dass trotz sorgfältig durchgeführter Übersetzung der Fragebögen wahrscheinlich kulturelle Umstände für eine residuale Streuung der Ergebnisse aus den einzelnen Ländern verantwortlich waren. In der Tat lieferte das adhoc module on employment of disabled people eine bemerkenswerte Spannweite: Während in Rumänien nur 5,8%, also etwa ein Zwanzigstel der Befragten, eine chronische Krankheit oder Behinderung angaben, war es in Finnland immerhin fast jede dritte Person (32,2%).

In der Betrachtung der Geschlechterverhältnisse finden sich im vorliegenden Datenmaterial weit weniger aussagekräftige Befunde: In einigen Ländern wie Dänemark (21,1%; 18,8%), Frankreich (24,8%; 24,3%), Niederlande (26,4%; 24,5%), Portugal (21,6%; 18,5%), Finnland (33,6%; 30,7%), Schweden (21,7%; 18,2%) und dem Vereinten Königreich (27,8%; 26,7%) gaben mehr Frauen als Männer an, an einer Behinderung und chronischer Krankheit zu leiden, während in den übrigen Ländern Belgien (17,9%; 18,9%), Deutschland (10,3%; 12,2%), Spanien (8,0%; 9,4%), Irland (10,5%; 11,6%), Italien (6,3%; 7,0%). Luxemburg (9,6%; 13,7%), Österreich (11,6%; 14,0%) und Portugal (21,6%; 18,5%) der Anteil von Männern geringfügig überwiegt. Diese auf den ersten Blick und unter der Prämisse von Gleichverteilung von Behinderung und chronischer Krankheit als vernachlässigbar erscheinenden Differenzen dürfen keinesfalls mit den "klassischen" Kategorien genderbasierender Diskriminierung (etwa beim Einkommen, Berufschancen u.a.) verglichen werden, sagt doch die bloße Selbsteinschätzung nichts über etwa wohlfahrtstaatliche Konsequenzen aus.

Tatsächlich finden sich in der Literatur vielfältige Befunde von genderbasierender Diskriminierung im Umfeld von Behinderung und chronischer Krankheit:

"The impact on women is often greater because they earn less and are discriminated against by the benefits system, while service providers generally give a lower priority to their support needs." (Barnes/ Mercer 2010: 140)

Die Autorinnen Mary Jo Deegan und Nancy A. Brooks sprechen sogar von einem double handicap von Frauen mit Behinderung. (Deegan/ Brooks 1985: 1)

Elisabeth Ann Kutza ortet in der starken Ausrichtung von Hilfsprojekten auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und den Einkommensausgleich bei verringerter Erwerbsfähigkeit unter der Berücksichtigung der Arbeitsmarktstruktur weiteres Diskriminierungspotential. (Deegan/ Brooks 1985: 71)

Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit stellen somit eine äußerst heterogene Gruppe dar, welche sich nicht nur aufgrund der vielseitigsten Formen von Behinderung, sondern auch durch ihre unterschiedlichen Biografien und sozialen Hintergründe schwerlich subsumieren lässt.

Tatsächlich entspringen viele der inzwischen nicht mehr gebräuchlichen Klassifikationen aus der Vergangenheit schlicht unterkomplexen Modellen und Rollenvorstellungen. Indes scheint bis zum heutigen Tage nicht klar, wie Behinderung als gesellschaftliches Anliegen angemessen "organisiert" werden kann.

1.5 Menschen mit Sehschädigung in der Europäischen Union

Der Anteil derer, die im Labour Force Survey 2002 angaben, unter einer Sehbeeinträchtigung zu leiden, betrug 2,8% - knapp 3 von 100 Personen innerhalb der EU-25 bezeichneten sich demnach selbst als sehgeschädigt.

Der Anteil der Männer war dabei geringfügig höher als jener Anteil von Frauen (3,0% zu 2,6%). (Dupré/ Karjalainen, 2003: 4)

In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass in der EU-25 knappe 8 Millionen Menschen nach Selbsteinschätzung sehgeschädigt sind.

Damit ist der Anteil an Personen mit Sehschädigung gemessen an allen Menschen mit Behinderung vergleichsweise gering. So schreiben auch die Autoren von Statistics in Focus:

"The most common main types of disability are musculoskeletal problems, especially with the back or neck, legs or feet, followed by heart, blood pressure and circulation problems" (Dupré/ Karjalainen 2003: 4)

Unter den beiden erhobenen Sinnesbehinderungen (Sehschädigung, Hörschädigung) zeigen Einschränkungen des Gesichtssinnes dagegen die höhere Prävalenz.

1.6 Menschen mit Sehschädigung in Österreich

Durch den Mikrozensus Themenschwerpunkt Menschen mit Beeinträchtigung der Statistik Austria aus dem 4. Quartal 2007 stehen für Österreich präzisere Daten über die Prävalenz und Ausprägung von Sehschädigung zur Verfügung.

3,9 Prozent der Befragten gaben hierin an, sehbeeinträchtigt zu sein. Auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet, sind etwa 319.000 Personen von Sehschädigung in Österreich betroffen. (vgl. Leitner 2008)

Die Schwere der Sehschädigung wurde in den Ausprägungen "leicht", "mittel", "schwerwiegend" und "blind" wiederum durch Selbsteinschätzung mit folgendem Fragewortlaut erhoben.

"Handelt es sich um ... Probleme beim Sehen (trotz Brille, Kontaktlinsen oder anderer Sehhilfen)?" (Leitner 2008: 133)

Eine direkte Zuordnung zu den Einstufungskriterien gemäß dem BGBl. I Nr. 111/1998 ist daher nicht möglich. Die Pflegegeldeinstufung durch das Bundesgesetzblatt bedient die medizinische Dimension der Sehschädigung, während die Fragestellung der Statistik Austria die funktionale Komponente der Behinderung erfasst.

Demnach bezeichnen sich hochgerechnet etwa 68.000 Personen als leicht, 146.000 als mittel und 101.000 Personen als schwerwiegend sehbehindert. Ein äußerst geringer Teil der Stichprobe gab an, blind zu sein. Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der österreichischen Bevölkerung sind dies etwa 3.000 Personen. (vgl. Leitner 2008) Zur Realität und Relativität von Behinderung: Grundlagen, Begrifflichkeiten und der aktuelle Forschungsstand



[2] Zur Diskussion des Integrations- und Inklusionsbegriffes s. Kapitel 3.1

[3] Zu den aus soziologischer Sicht relevanten Merkmalen von Sinnesbehinderungen s. Kapitel 2.7.1

2 Zur Realität und Relativität von Behinderung: Grundlagen, Begrifflichkeiten und der aktuelle Forschungsstand

2.1 Die Begriffe "Behinderung" und "Chronische Krankheit"

Mit Weber (Weber 2002) können die Begriffe Behinderung und Krankheit in einen Bezug zueinander gebracht werden.

Krankheit sei ein dynamischer Vorgang. Akute Krankheit führe gemäß Webers Sichtweise nach gewisser Zeit (und fallweise medizinischer Behandlung) zur Genesung. Chronische Krankheiten dagegen erweisen sich als schwerer heilbar, sind von längerer Dauer und "verursachen fast immer bleibende Schäden und führen so zum Tatbestand der Behinderung." (Weber 2002: 18)

Behinderung ist demnach etwas statisches, ein stabiler, pathologischer Zustand, während Krankheit ein dynamischer Prozess ist.

In dieser Gegenüberstellung wird außen vor gelassen, dass Krankheit keine hinreichende Bedingung für Behinderung ist. Ferner folgt diese Begrifflichkeit einer ganz bestimmten Denktradition:

2.2 Das individuelle (medizinische) Modell von Behinderung

Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Behinderung erfolgte gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf ausschließlich medizinischer Basis. Es handelte sich um einen fortlaufenden Prozess zur Grenzziehung zwischen Normalität, Devianz und der Frage, wie individuelle (körperliche) Abweichung zu funktionaler Beeinträchtigung, Behinderung führt.

Die wohlfahrtstaatliche Operationalisierung dieses Modells orientierte sich ausschließlich an der Diagnose, etwa der Anzahl fehlender Gliedmaßen oder eben der funktionalen Einschränkung gegenüber einem medizinischen "Normkörper". (vgl. Barnes/ Mercer 2010: 18f)

Damit wird auch die Problematik des medizinischen Modells offenkundig: es kann keinerlei Auskunft darüber geben, wie sich die funktionalen Einschränkungen auf das Leben und den Alltag Betroffener auswirken.

Das Modell mag damit zwar aus medizinischer Sicht objektiv (im Sinne der Diagnose) sein, aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es jedoch als unterkomplex in seiner Bestandsaufnahme und seinen Dimensionen abzulehnen. Damit erscheint es auch als Basis für die Organisation von Wohlfahrt und sozialpolitischer Intervention gänzlich untauglich.

Eine späte aber bedeutende Erweiterung erfuhr das medizinische Modell durch die Inklusion einer sozialen Dimension. Als wohl prominentestes Beispiel soll hier die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) von 1980 genannt werden:

"In the context of health experience, a handicap is a disadvantage for a given individual resulting from an impairment or a disability that limits or prevents the fulfillment of a role, that is normal (depending on age, sex, and social and cultural factors) for that individual" (Fougeyrollas 1993: 7)

Konzeptuell betont die ICIDH die Manifestation von Behinderung (Impairment) als Folge von Krankheit oder intrinsischer Störung, welche einerseits durch Diagnose objektiviert wird (Disability), andererseits zu sozialer Beeinträchtigung (Handicap) führen kann. (vgl. Barnes/ Mercer 2010: 21)

2.2.1 Historischer Kontext

Das medizinische Modell von Behinderung legt einen exklusiven Fokus auf Norm und Funktionalität bzw. deren Antonyme von Devianz und Dysfunktionalität. Aus einer historischen Perspektive heraus lässt sich diese Ausrichtung wohl am ehesten mit jenen gesellschaftlichen Transformationen erklären, durch welche die Medizin ihren Status als Wissenschaft erlangt hatte.

Mit dem Aufkommen der Industrialisierung und des Kapitalismus als modus operandi von industrialisierten Gesellschaften wurden Menschen mit Behinderung zusehends marginalisiert. Dies soll keineswegs implizieren, dass diese Gruppe zu früheren Zeiten weniger gesellschaftlichem Druck ausgesetzt war. Barnes und Mercer zeichnen ein präindustrielles Szenario, das vor allem von Diskriminierung auf Basis von kulturellen - und damit eher religiösen als ökonomischen Werten geprägt wurde. (Barnes/ Mercer 2010: 15)

Dennoch wurde von Betroffenen erwartet, dass sie so viel zum Haushalt beitrugen, wie es ihnen möglich war - oder andernfalls auf das Betteln angewiesen waren.

Die vorwiegend landwirtschaftliche Arbeit unterlag dabei einem geringen Organisationsgrad, war damit flexibel in Arbeitsweise und Arbeitstempo und ermöglichte in gewissem Maße die Integration von behinderten Menschen in den Alltag. (Ryan/ Thomas zit. n. Barnes/ Mercer 2010: 17)

Die Industrialisierung brachte einen Wandel kultureller Werte zugunsten ökonomischer Faktoren. Normalisierung - sie fand ihren Höhepunkt sicherlich in Winslow Taylors Idee vom Scientific Management - versprach größtmögliche Effizienz und Produktivität.

Für Menschen mit Behinderung, welche den "normalisierten" Produktionsabläufen nicht folgen konnten, blieb nur noch die multiple Marginalisierung - ökonomisch und sozial - als gesellschaftliche Randgruppe:

"What might be ignored or tolerated in the slower and more flexible patterns of agricultural or domestic production became a source of friction and lost income, if not a threat to survival, within the new industrial system" (Barnes/ Mercer 2010: 17)

2.3 Soziale Modelle von Behinderung

So sehr wie das medizinische Modell von Behinderung die Perspektive von Professionalisten repräsentiert, so sind soziale Modelle von Behinderung als Kontrapunkt von Betroffenen zu sehen.

Deren persönliche Erfahrungen im Umgang mit nicht behinderten Menschen, Pflegeeinrichtungen und den Versuchen, mehr Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe zu erlangen, spiegeln nicht die medizinische, sondern die soziale Realität wider.

Shakespeare (Shakespeare 2006: 10f) schreibt über das soziale Modell von Behinderung, dass im Grunde eine Vielzahl von Modellen existiert, die zwar denselben Grundgedanken verfolgen, sich jedoch in ihrer Radikalität - bis hin zur gänzlichen Exklusion der medizinischen Grundlagen von Behinderung und der Neudefinition von Behinderung als Unterdrückung durch die Gesellschaft (Abberley zit. n. Barnes/ Mercer 2010: 77) - unterscheiden.

Während sich beispielsweise im Vereinten Königreich unter dem Einfluss von Behindertenorganisationen wie UPIAS (Union of Physically Impaired against Segregation) und DA (Disability Aliance) die radikalste Ausprägung (vgl. Shakespeare 2006: 11) des sozialen Modells etablieren konnte, stehen die skandinavischen Länder im Zeichen gemäßigter Modelle, welche allerdings auch einen geringeren Einfluss auf die politische Debatte nehmen konnten. (Shakespeare 2006: 26)

Die sozialen Modelle verstehen sich mit ihrem Perspektivenwechsel nicht nur als neues Paradigma. Sie sehen sich in ihrer radikaleren Couleur auch als eine Grundsatzkritik am medizinischen Modell, wie sie von vielen behinderten Aktivistinnen und Aktivisten auf der Suche nach mehr Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Mitwirkung in der Gesellschaft mit Beginn der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts geäußert wurde.

Wenn in weiterer Folge dieses Kapitels vom sozialen Modell von Behinderung die Rede ist, so beziehen sich die Ausführungen stets auf die britische Ausprägung:

"There are two fundamental points that need to be made about the individual model of disability. Firstly, it locates the 'problem' of disability within the individual and secondly it sees the causes of this problem as stemming from the functional limitations or psychological losses which are assumed to arise from disability. These two points are underpinned by what might be called 'the personal tragedy theory of disability' which suggests that disability is some terrible chance event which occurs at random to unfortunate individuals. Of course, nothing could be further from the truth." (Oliver 1990)

Der Kerngedanke des sozialen Modells relativiert die biologisch-medizinische Komponente von Behinderung und konstatiert stattdessen, dass erst die Struktur der Gesellschaft - sozial wie räumlich - für die eigentliche Behinderung verantwortlich zu machen sei.

Damit erfolgt ein Bruch mit der zuvor etablierten Kausalität zwischen funktioneller Einschränkung und Behinderung. Während erstere zwar akzeptiert wird, ist sie nun kein hinreichendes Kriterium mehr für Behinderung.

"(...) many of the problems, which disabled people face are generated by social arrangements, rather than by their own physical limitations" (Shakespeare 2006: 10)

"It is not individual limitations, (...) which are the cause of the problem but society's failure to (...) ensure the needs of disabled people are fully taken into account in its social organization." (Oliver 1990)

Der Anspruch des sozialen Modells ist vor allem ein politischer, wie seine Befürworter betonen. (vgl. Barnes/ Mercer 2010: 33) Doch sein Zuschnitt auf die politische Arena hat diesem Paradigma - zum Teil aus den eigenen Reihen - vielschichtige Kritik eingebracht. Zwar wird dem sozialen Modell quasi eine Katalysatorrolle in der Begründung neuer Forschungsrichtungen, der Disability Studies bzw. des Disability Research, zugestanden, doch sei das Modell nun nicht länger mit dem aktuellen Forschungsstand vereinbar: aus soziologischer Sicht und damit als Theoriegebäude zu unterkomplex und tendenziös (vgl. Barnes/ Mercer 2010: 70), wird bisweilen auch die Trennung von physiologischer Funktionseinschränkung und gesellschaftlicher Behinderung als zu dichotom kritisiert. (vgl. Barnes/ Mercer 2010: 93)

Der Kritik an der Dichotomisierung kann freilich entgegnet werden, dass die Exklusion der physiologischen Ursachen von Behinderung den Blick auf gesellschaftlich konstruierte - und damit auch beseitigbare - Barrieren fokussiere. (vgl. Barnes/ Mercer 2010: 96)

Gerade dies zeigt wiederum die politische Ausrichtung des sozialen Modells, welche es für die Sozialwissenschaft als ungeeignet erscheinen lässt. Wie Shakespeare anmerkt, stellt sich der Forschung oftmals das Problem, zu unterscheiden, ob Barrieren nun aus funktionaler Einschränkung oder aus gesellschaftlicher Konstruktion resultieren. (Shakespeare 2006)

Daneben ist auch vom "Bringing the Impairment Back In" (Higgins 1978) die Rede.

Die Argumentation beruht darauf, dass nicht zutreffend sei, dass sich Menschen mit Behinderung ausschließlich gesellschaftlich konstruierten Barrieren ausgesetzt sähen. So schreibt etwa French, dass keine wie auch immer geartete sozialkonstruktivistische Manipulation Barrieren, die sich aus ihrer Sehbehinderung ergeben, beseitigen können:

"However, various profound social problems that I encounter as a visually impaired person, which impinge upon my life far more than indecipherable notices or the lack of bleeper crossings, are more difficult to regard as entirely socially produced or amendable to social action.(...) Such problems include my inability to recognize people, being nearly blinded when the sun comes out, and not being able to read nonverbal cues or emit them correctly" (French, 1998: 17)

Shakespeare spricht in diesem Zusammenhang von einer barrierefreien Utopie und führt weitere Beispiele gegen eine solche Möglichkeit ins Feld. (vgl. Shakespeare 2006: 45)

Nichtsdestotrotz ist das soziale Modell nunmehr fest in der Tradition des Diskurses über Behinderung verankert. (vgl. Barnes/ Mercer 2010: 36)

Das Paradigma der sozial konstruierten Barrieren hat beispielsweise in die neue International Classification of Functioning (ICF), welche die ICIDH im Jahr 2001 ablöste, Einzug gehalten. ICF stellt den Versuch der WHO einer Synthese zwischen dem medizinischen Modell und dem sozialen Modell dar und bricht damit mit der linearen Kausalität nach ICIDH:

"(...) ICF takes into account the social aspects of disability and does not see disability only as a 'medical' or 'biological' dysfunction. By including Contextual Factors, in which environmental factors are listed ICF allows to records [sic!] the impact of the environment on the person's functioning." (WHO o.J.)

2.4 Das skandinavische Modell

Parallel zu den angloamerikanischen Entwicklungen der sechziger und siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich auch im skandinavischen Raum eine Denkschule entwickelt, die dem medizinischen Modell kritisch gegenüber steht.

Grundsätzlich bestehen dabei bemerkenswerte Parallelen zum (britischen) sozialen Modell von Behinderung. Das skandinavische oder "relationale" Modell muss in seiner Multidimensionalität jedoch als ungleich komplexer bezeichnet werden.

Zunächst unterscheidet das relationale Modell nicht zwischen "impairment" und "disability" - die Unterscheidung ließe sich sprachlich nicht befriedigend abbilden. (Arnardóttir/ Quinn 2009: 12f)

Stattdessen entfaltet sich das skandinavische Verständnis von Behinderung gemäß Tøssebro entlang der drei Dimensionen soziales Umfeld ("person-environment mismatch" Arnardóttir/ Quinn 2009: 13), Kontext und einer relationalen Komponente.

Während die Dimension "soziales Umfeld" eine im Vergleich zum sozialen Modell etwas neutralere Sicht auf das Anpassungsproblem von Individuum (mit Behinderung) und seinem Umfeld legt, entscheidet der Kontext einer sozialen Situation darüber, inwieweit Barrieren durch Behinderung entstehen. So würden die von French genannten Barrieren qua nonverbaler Kommunikation in einer face-to-face Situation für eine sehbehinderte Person durch ein Telefongespräch weitestgehend vermieden werden.

Die relationale Komponente operationalisiert Tøssebro (zit. n. Arnardóttir/ Quinn 2009: 13) am Beispiel kognitiver Behinderung: Deren Bestehen wird an einem Grenzwert der Messgröße Intelligenzquotient festgemacht, der in Europa des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen 50 und 85 schwankte und je nach gewähltem Grenzwert zwischen 0,5% und 15% der Bevölkerung eine kognitive Behinderung zuwies.

Tøssebro weist damit auf die Beliebigkeit hin, mit der Kriterien von und für das Vorliegen einer Behinderung (sozial) konstruiert werden.

Man könnte die relationale Komponente daher auch als konstruktivistische Rahmung der beiden übrigen Dimensionen soziales Umfeld und Kontext interpretieren.

Die Dimensionierung von Behinderung mag zunächst etwas trivial erscheinen, doch sei an dieser Stelle auf die Kritik von Barnes und Mercer (2010: 26) hingewiesen: Die Integration von Menschen mit Behinderung in gering qualifizierte Berufe stellt angesichts des Trends zu Technologie- und Bildungsberufen ein institutionalisiertes "person-environment-mismatch" dar. Die situative Dimension kann demnach als digital divide (Barnes/ Mercer 2010: 117) bezeichnet werden und findet, als konstruktivistische Rahmung, unter der Prämisse der Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderung statt.

Insofern entpuppt sich das skandinavische Modell auch aus soziologischer Sichtweise als vielversprechender theoretischer Unterbau für die weitere Arbeit, bringt es doch die Verknüpfung des Individuums mit der Mikroebene (soziale Situation und Kontext), der Mesoebene (größeres soziales Umfeld) und der Makroebene (institutionalisiertes Normenverständnis) der Gesellschaft zum Ausdruck.

In diesem Zusammenhang betonen Arnardóttir und Quinn zwar die Berücksichtigung der komplexen Interaktion von individuellen und Umweltfaktoren, weisen andererseits jedoch auf die noch geringe theoretische Ausbildung und die Schwierigkeit der wohlfahrtstaatlichen Operationalisierung des skandinavischen Modells hin. (vgl. Arnardóttir/ Quinn 2009: 13)

2.5 Disability Research - auf der Suche nach einer Disability Theory

Begründet durch den Ursprung dieser neuen, interdisziplinären Forschungsrichtungen im angloamerikanischen Raum und der Tatsache, dass die deutschsprachige Literatur zu diesem Thema aktuell bestenfalls rudimentär ausgebildet ist, sollen zur Skizzierung der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatten die international gebräuchlichen Begriffe DisabilityResearch und Disability Studies verwendet werden.

Wie bereits in Kapitel 2.3 über das soziale Modell von Behinderung dargestellt, fand dessen Reduktionismus und die politisch motivierte Bewegung von Betroffenen in den 1960er und 1970er Jahren zunächst wenig Anklang in der Domäne der Sozialwissenschaften.

Frühe Formen von Disability Research beschränkten sich vor allem auf die punktuelle Untersuchung von Barrieren und Benachteiligungen, etwa in den Bereichen Bildung, Arbeit oder Transportwesen. Was jedoch fehlte, war ein theoretischer Rahmen zur systematischen Erfassung:

"The social model does not explain what disability is. For an explanation, we would need a social theory of disability." (Finkelstein zit. n. Barnes/ Mercer 2010: 33)

Mehr noch kritisieren manche Autoren, dass das soziale Modell von Behinderung aufgrund der Exklusion der biologischen Komponente des Prozesses nicht imstande sei, adäquat auf die Bedürfnisse von Behinderten einzugehen:

"I do not believe that the 'social model' has really engaged with the real issues facing the vast majority of disabled people, and (...) it has not produced a cogent approach which can serve the real practical needs of disabled people, or indeed the research community" (Bury zit. n. Thomas 2002: 43)

In einem Versuch um eine theoretische Rahmung erweiterte Carol Thomas (1999 zit. n. Scott/ Ward 2005: 123) das soziale Modell und systematisierte die Konsequenzen von Behinderung.

Zunächst bringt Thomas "impairment", also die funktionale Einschränkung in Form von "impairment effects" wieder in das Modell ein. Sie folgt damit der Argumentation, dass Behinderung von Betroffenen bereits unabhängig vom Bestehen sozial konstruierter Barrieren tagtäglich erfahren wird - etwa in Form von Schmerzen oder Beschwerden.

Weiters unterscheidet Thomas zwischen "barriers of doing" und "barriers of being". Mit ersterem meint sie jene Barrieren, welche kausal Aktivität und Mobilität einschränken - Barrieren also, die Menschen mit Behinderung auf indirekte Weise an gesellschaftlicher Partizipation einschränken oder sie gar gänzlich an der Teilhabe hindern. Barrieren dieser Gattung finden sich vorrangig in öffentlicher und privater Bausubstanz im allgemeinsten Verständnis.

Für diese Arten von Barrieren möchte ich daher den Begriff "Umweltbarrieren" vorschlagen. Der Begriff lässt nämlich im Vergleich zum geläufigen Terminus "Zugangsbeschränkungen" offen, ob es sich tatsächlich um eine "Beschränkung" handelt, die mit genügend hohen individuellem Aufwand überwunden werden kann, oder ob gar eine vollständige "Hinderung" vorliegt, die nach einer entsprechenden Neu-Konzeption der betroffenen Materie verlangt.

Mit "barriers of being" beschreibt Thomas diskriminierendes Auftreten von einzelnen Individuen oder, in kumulierter Form, der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung. Sie versteht darunter sowohl direkt abwertendes Verhalten, wie etwa Verspotten oder Verhöhnen, als auch übermäßige, unangebrachte Fürsorge, Gönnerhaftigkeit - also grundsätzlich all jene Verhaltensweisen, die Menschen mit Behinderung einen speziellen (Außenseiter-) Status verleihen und so ihre Teilnahmechancen innerhalb der Gesellschaft mindern. Für diese Art von Barrieren möchte ich den Begriff Gesellschaftsbarrieren vorschlagen. Im Gegensatz zu den Umweltbarrieren entfalten sie ihre abträgliche Wirkung in Bezug auf das Partizipationsvermögen direkt.

2.6 Disability Studies als Forschungsdisziplin

Die Disability Studies, als "Verwissenschaftlichung" - oder Vehikel - der Behindertenbewegungen ab den 1970er Jahren spannen ein interdisziplinäres Feld auf: in der theoretischen Rahmung bisweilen segmentiert, im Erklärungsanspruch oftmals fragmentiert - insbesondere, was die Debatte um die Relation von impairment und disability anbelangt. Demzufolge erscheint es in der gebotenen Prägnanz an dieser Stelle schwierig, einen konsistenten Überblick über das Forschungsfeld zu bieten, ohne dabei in eine eklektizistische Vorgehensweise zu verfallen.

Grundsätzlich kann mit Simi Linton über die Disability Studies festgestellt werden, dass sie eine doppelte Funktion erfüllen. Zum einen geht es darum, den akademischen Diskurs über Behinderung anzuregen, zum anderen soll - wie von den Befürwortern des sozialen Modells von Behinderung angedacht - sozialer Wandel stimuliert werden. (vgl. Simi Linton 1998: 1) Auf die theoretischen Konsequenzen einer solchen Ausrichtung von "single issue Forschung", etwa im Hinblick auf das Wertfreiheitspostulat soll in dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Die Debatten dazu wurden und werden bereits an anderer Stelle und in vielerlei verschiedenem Kontext ausführlich geführt.

Die Strategien, mit denen die beiden Ziele der Disability Studies erreicht werden sollen, können mit Geoff Mercer folgendermaßen formuliert werden:

"(E)rstens die Ablehnung des individuellen Modells von Behinderung und seine Ersetzung durch ein soziales Modell; zweitens zur Unterstützung der politischen Kämpfe behinderter Menschen, die Konzentration auf einen nicht-neutralen Forschungsansatz bzw. die Ablehnung von Objektivität und Neutralität als Kriterien der Wissenschaftlichkeit; drittens die Umkehrung der traditionellen Hierarchie von Forschern und Beforschten bzw. der sozialen Beziehungen im Forschungsprozess; viertens Methodenpluralismus." (Mercer 2002 zit. n. Dederich 2007: 18)

Mark Priestley schreibt dagegen, dass zwar die die Erfahrungen und der Aktivismus von Menschen mit Behinderung zweifelsohne das Fundament der Disability Studies bilden, er betont jedoch im gleichen Absatz, dass die Disability Studies die simplizistische Dichotomie von individuellem und sozialem Modell von Behinderung überwinden müssen. Priestley legt Wert darauf festzustellen und zu systematisieren, welcher Zugang zu Behinderung welche Aspekte und Domänen besonders in den Vordergrund treten lässt. Diese, sich zum Teil überlappenden Domänen benennt Priestley mit Körper, Identität, Kultur, Sozialstruktur. (vgl. Priestley 2003: 18f)

Priestley schlägt vor, anhand dieser Typologie nicht nur bisherige Forschungsarbeiten zu analysieren, sondern stellt sich auch die Frage, wie diese vier Domänen miteinander in Interaktion treten und so die "Alltagserfahrung Behinderung" bilden.

Schließlich fordert Paul Abberley, Disability Studies müssten sich auch der tatsächlichen sozialen Produktion von Behinderung widmen. (Abberley zit. n. Thomas, 2002: 52)

Mit seiner Argumentation entkräftet er das Paradigma von physiologischer Funktionseinschränkung als Teil des Biologischen, indem er meint, dass etwa durch Verkehrs- und Arbeitsunfälle, Kunstfehler und vielem mehr in den modernen Gesellschaften tagtäglich Behinderung geschaffen würde. Ähnlich argumentiert auch Jörg Kastl (vgl. Kastl. 2009: 35), der diese Form von gesellschaftlicher Produktion von Behinderung am Beispiel Tschernobyl als eine Dimension von Behinderung benennt.

2.7 Soziologische Zugänge zum Disability Research

"The most common response of modern social theory to the disabled person's enquiry "What about me?" is silence." (Abberley, 1998: 80)

"Apart from influential works by Erving Goffman (1959, 1964) and Irving Zola (1982, 1988), sociology has contributed surprisingly little in terms of systematic theory and research to the study of disability." (Turner, 2001: 252)

"However, currently, there is no single sociology of disability or health and illness" (Llewellyn et al. 2008: 252)

Die Liste von Literaturbefunden über die Nichtexistenz einer dedizierten Soziologie der Behinderung ließe sich an dieser Stelle nahezu beliebig fortsetzen. Viel wichtiger, als die Untiefen der Wissenschaft zu beklagen, erscheinen mir jedoch an dieser Stelle zwei Fragen angebracht:

Erstens, warum existiert trotz einer Blüte und Vielfalt an Spezialisierungen innerhalb der Soziologie keine theoriefundierte Soziologie der Behinderung?

Zweitens, wie kann sich eine soziologische Arbeit zum Thema Behinderung dennoch am theoretischen Rahmen der Soziologie orientieren?

Der ersten Frage sind offenbar auch Pamela Abbott, Claire Wallace und Melissa Tyler in An introduction to sociology: feminist perspectives (2005) nachgegangen. Sie lehnengrundsätzlich die Argumentation ab, dass behinderte Menschen per se eine Minderheitdarstellten, sondern betonen viel mehr, dass behinderte Menschen in der Arbeitswelt und imakademischen Umfeld im Besonderen unterrepräsentiert seien, während das Feld von nichtbehinderten Kolleginnen und Kollegen aus Berührungsängsten gemieden wird. (Abbott et al.2005: 76) Eine ähnliche, jedoch generalisierte Argumentationsweise findet sich bei Lupton.(Lupton 1994 zit. n. Barnes/ Mercer 2010: 68)

Zur zweiten Frage stellt Paul Abberley pragmatisch fest:

"For while a theory may make no explicit reference to disabled people, we may derive implications from its general approach and analysis of social existence". (Abberley 1998: 80)

Dieser Aussage kann ich mich nur anschließen. Eine solche wäre schließlich mit den Worten Jörg-Michael Kastls nichts anderes als "im weitesten Sinne die wissenschaftliche Befassungmit Zusammenhängen zwischen Behinderung, sozialem Verhalten und sozialenVerhältnissen". (Kastl, 2009: 42)

2.7.1 "Sonderfall" Sehschädigung

Im Zusammenhang mit der sozialen Realität von Behinderung möchte ich in Bezug auf Sehschädigung aus drei Gründen von einem "Sonderfall" sprechen: Zunächst handelt es sich bei einer Sehschädigung nicht um eine körperliche, sondern um eine Sinnesbeeinträchtigung, also eine Form funktionaler Beeinträchtigung, welche direkten Einfluss auf die Art und Qualität der Wahrnehmung von Betroffenen nimmt.

Setzt man Wahrnehmung an den Anfang des Interpretation (des Wahrgenommenen) - Reaktion Prozesses, so ergeben sich damit weit reichende Folgen für das Sozialverhalten von sehgeschädigten Menschen.

An früherer Stelle zitierte ich dazu, gleichsam als Kritik am sozialen Modell von Behinderung, French, die über ihre Schwierigkeiten mit der nonverbalen Kommunikation berichtet.

Zweitens wird der Sehsinn in der Literatur, vor allem in der Heilpädagogik gemeinhin als der wichtigste Sinn des Menschen betrachtet. (vgl. zusammenfassend etwa Irimia 2008: 16) Einschränkungen in diesem Bereich zeichnen sich also durch eine besondere Qualität in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe und das Entstehen - nicht die Konstruktion - sozialer Barrieren aus.

Drittens handelt es sich bei vielen Ausprägungen von Sehschädigung um eine versteckte Form von Behinderung. Abgesehen etwa vom Tragen eines Taststocks oder spezieller Kennzeichen ist das Vorhandensein einer Sehschädigung für die Umwelt nicht unmittelbar ersichtlich.

Je nach Qualität der Sehschädigung muss eine solche auch noch nicht einmal aus dem Verhalten der sehbehinderten Person ersichtlich sein - etwa dann, wenn die Behinderung sehr selektive Auswirkungen hat.

French berichtet etwa, dass sie bei Tag und vor allem bei Sonnenlicht fast vollkommen blind ist, während sie in der Dämmerung vergleichsweise besser sieht. Das Zusammentreffen von Selektivität und versteckter Behinderung führt daher auch im sozialen Umfeld zu erheblichen Irritationen. (vgl. French, 1998: 18)

Eine soziologische Interpretation von Sehbehinderung muss daher diese drei Aspekte systematisch in Betracht ziehen, miteinander verknüpfen, indem etwa die Frage gestellt wird, wie sich (aus der Sicht des sozialen Umfelds) "unerwartete" Interpretationen von Betroffenen, und (aus der Sicht Betroffener) "unerwartete" Interpretationen aus deren Umfeld auf die Kommunikation auswirken.

Um die Selektivität von Sehbehinderung zu erfassen, muss eine soziologische Herangehensweise ferner gemäß dem skandinavischen Modell von Behinderung einen starken Kontextbezug herstellen. Dieser Kontextbezug ist zweidimensionaler Natur: Zunächst einmal meint der Begriff einen situativen Kontext - in manchen Situationen kommt einer vorliegenden Sehbehinderung eine größere Bedeutung zu als in anderen.

Zweitens muss der Begriff auch einen sozialen Kontext erfassen: Das soziale Nahfeld Betroffener ist mit der Behinderung vertraut, sodass absehbar weniger diskrepierende Interpretationen vorliegen als im sozialen Fernfeld Betroffener.

2.8 Zusammenfassung: Ein Entwurf über den soziologischen Diskurs von Sehschädigung.

In den vorangegangenen Kapiteln skizzierte ich Modelle zur Darstellung und Interpretation von Behinderung im gesellschaftlichen Kontext. Ich diskutierte dabei die verschiedenen Forschungsstandpunkte und deren Implikationen und elaborierte schließlich die spezielle Dynamik von Sehbehinderung.

Aus diesen Ausführungen können nun mehrere konkrete Ansprüche an eine soziologische Auseinandersetzung mit den Partizipationsmöglichkeiten sehgeschädigter Menschen abgeleitet werden, die an mancher Stelle zuvor bereits explizit benannt wurden.

Um Behinderung einen gesellschaftlichen Bezug zu verleihen, ist es zunächst gemäß meiner Interpretation des skandinavischen Modells sinnvoll, Behinderung und ihre Konsequenzen auf der Mikroebene, auf der Mesoebene und auf der Makroebene der Gesellschaft zu betrachten.

Als Ausgangspunkte können hier die von Thomas benannten barriers of doing und barriers of being herangezogen werden: Umweltbarrieren, also barriers of doing kann in derDenktradition des sozialen Modells mit struktureller Kompensation begegnet werden, indemdie Barrieren beseitigt werden. In der Denktradition des skandinavischen, relationalenModells können diese Barrieren jedoch auch durch intervenierende Kompensation - es seidamit etwa die Möglichkeit, selektiv Assistenz zu erhalten gemeint - umgangen werden. Diessetzt jedoch wiederum die entsprechende Bereitschaft intervenierender Personen voraus,sodass intervenierende Kompensation erst stattfinden kann, wenn barriers of being, dieGesellschaftsbarrieren, nur gering ausgeprägt sind.

Strukturelle Kompensation kann auf gesellschaftlicher Meso- und Makroebene gestaltet werden, während intervenierende Kompensation grundsätzlich auf allen drei Ebenen stattfinden kann.

Thomas' barriers of being, die gesellschaftlichen Barrieren, wirken einerseits in Form von Ressentiments und vorurteilsgeleitetem Verhalten der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung, andererseits muss diese Art von Barrieren noch um die bereits vorgestellte spezielle Interpretationsdynamik von Sehschädigung erweitert werden.

Die Wirkungsweisen von gesellschaftlichen Barrieren müssen also ebenfalls auf allen drei Gesellschaftsebenen untersucht und ihre Effekte beschrieben werden.

Darüber hinaus ist zu betrachten, inwieweit und unter welchen Umständen diese Strukturen zu asymmetrischen Beziehungen zwischen Menschen mit Sehbehinderung und Nicht- Behinderten führen und welche Konsequenzen daraus resultieren.

Der soziologische Diskurs über die Partizipationschancen von sehbehinderten und blinden Menschen sollte daher zusammenfassend folgende Anknüpfungspunkte beschreiben können:

Abbildung 1: Lokalisation der Aspekte von Sehbehinderung im gesellschaftlichen Kontext

Innerhalb dieses Diskursvorschlags möchte ich nun mit der vorliegenden Arbeit die Beziehung der beiden Begriffe "strukturelle Kompensation" und "intervenierende Kompensation" zueinander und deren jeweilige Konsequenzen auf ausgewählte Partizipationschancen von sehbehinderten und blinden Menschen untersuchen.

3 Partizipation, Mobilität und Technologie im Kontext von Sehschädigung

Nach der theoretischen Rahmung werde ich nun näher auf die Bedeutungen hinter den Begriffen Partizipation, Aktivität, (räumliche) Mobilität und, in enger Verwandtschaft dazu, Technologie eingehen.

Es soll dabei geklärt werden, welchen Einfluss Mobilität auf gesellschaftliche Teilhabe nimmt, wie diese durch Technologie moderiert wird und welche Konsequenzen sich daraus für sehgeschädigte Menschen ergeben können. Denn unbestreitbar ist "Mobilität" durch die technische Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts quasi zur Prärequisite gesellschaftlicher Teilhabe geworden.

3.1 Zum Verhältnis von Inklusion und Integration

Um den Begriff der gesellschaftlichen Teilhabe zu (er)fassen, werden in der Literatur im Kontext von Behinderung oftmals die Begriffe Inklusion und Integration gebraucht. Kastl setzt Formen gesellschaftlicher Partizipation in Anlehnung an die Typologie sozialer Reaktionen nach Dieter Neubert und Günther Cloerkes mit dem Ausmaß an sozialer Inklusion in Zusammenhang.

Partizipationschancen steigen demnach mit dem Ausmaß der sozialen Inklusion von einem partiellen Rollenverlust, der Einschränkung von Partizipationschancen in Teilbereichen des Lebens, hin zu einem auf Kompetenzzuschreibungen basierenden Sonderrollen-Status, wie etwa die Arbeit in Behindertenwerkstätten, die als Ersatz zu den Strukturen der Arbeitsmärkte geschaffen wurden.

Darüber hinaus nennt Kastl noch die beiden Ausprägungen Quasi-Normalität und emische Normalität. Im Zustand der Quasi-Normalität herrschen zwar keine systematischenRollenkonzepte mehr vor, dennoch könne es individuell und vereinzelt zur Diskriminierungkommen. Im Falle von emischer Normalität hingegen besteht kein Unterschied mehr in denPartizipationschancen auf Basis des Vorhandenseins von Behinderung. (vgl. Kastl 2009:177f)

Abbildung 2: Partizipationschancen von Menschen mit Behinderung in Zusammenhang mit dem Ausmaß ihrer sozialen Inklusion. (Kastl, 2009: 174)

Als historisches Beispiel von emischer Normalität benennt Kastl eine isoliert lebende, nordamerikanische Inselbevölkerung des 18. und 19. Jahrhunderts auf Martha's Vineyard. Die genetisch bedingte hohe Prävalenz von Gehörlosigkeit von bis zu 25% führte nach einer Studie der amerikanischen Kulturanthropologin Ellen Groce dazu, dass selbst Hörende dieser Gesellschaft von Geburt an die Gebärdensprache erlernten und darin auch (als Hörende) untereinander kommunizierten, während sie die Gehörlosigkeit in Interviews, die Groce führte, nicht als Behinderung identifizierten. (vgl. Kastl 2009: 169)

Dies wurde freilich dadurch begünstigt bzw. überhaupt erst ermöglicht, dass die Gemeinde auf Martha's Vineyard kaum über weitere Segregationsmerkmale verfügte - schon gar nicht über solche, die eine Inklusion a priori unmöglich erscheinen lassen.

Wie etwa sollte eine sehgeschädigte Person in dieser Gesellschaft über weitere Distanzen per Gebärdensprache kommunizieren? Welchen Status hätte ein solcher Mensch innerhalb dieser Gesellschaft?

Martha's Vineyard kann also nicht als Beleg für das soziale Modell von Behinderung angenommen werden, wie etwa Gill Green (Green 2009: 25) schreibt, sondern wirft vielmehr die Frage auf, ob Inklusion mit zunehmender Heterogenität durch daraus entstehende Inklusionskonflikte schwieriger zu vollziehen wird.

Eine interessante Umdeutung des graduellen Inklusionsbegriffes verfolgen Markus Pätzig und Andreas Graf, wenn sie schreiben, es ginge dabei "um die geschärfte Wahrnehmung derUnterschiede und deren Folgen mit dem Ziel einer bereits im Vorfeld greifenden Vermeidungvon Ausgrenzungseffekten." (Pätzig/ Graf 2005: 109) Mehr noch:

"Der wesentliche Kern der sozialen Inklusion ist demnach das Schaffen von Bedingungen, die Allen gerecht werden, und nicht das nachträgliche Wiedereingliedern von Benachteiligten über Kompensationsleistungen." (ebd.)

Dieser Inklusionsbegriff stellt nicht das Individuum ins Zentrum, sondern fragt vielmehr, ob dessen Umwelt potentiell Inklusion zulässt - und falls ja, in welchem Maße. Es wird jedochkeinerlei Aussage darüber getroffen, ob Inklusion tatsächlich stattfindet, denn es ist für dieAutoren lediglich von Bedeutung, ob die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Sie folgendamit dem Leitgedanken des Universal Designs, nämlich:

"(t)he design of products and environments to be usable by all people, to the greatest extent possible, without the need for adaption or special design." (Centre for Universal Design, 1997 zit. n. Shakespeare 2006: 44)

Gegen diese graduelle Begrifflichkeit von Inklusion wendet sich eine Argumentationslinie, die sich auf Niklas Luhmann und seine Begrifflichkeiten aus der Systemtheorie stützt. Sie beruht auf der Grundannahme, dass Inklusion als "(...) die Chance zu verstehen [sei], dasseine Person in einer Gesellschaft soziale Berücksichtigung findet." (Luhmann zit. n. Heinig 2008: 98)

In dieser Begriffsbesetzung, so argumentiert Kastl, ist Inklusion ein rein dichotomes Merkmal und als Gegenteil von Exklusion zu verstehen. (vgl. Kastl 2009: 177) Der Gebrauch des Inklusionsbegriffes als kontinuierliches Spektrum mit den Ausprägungen "keine Inklusion"und "Vollinklusion" erfülle demnach "in der aktuellen fachlichen und politischen Diskussiondie Funktion eines Platzhalters für eine Art ideale Einbeziehung behinderter Menschen in dieGesellschaft." (Kastl 2009: 177) zumal es "den Integrationsbegriff ab[löse] (Hinz). Diesersetze eine Zweigruppentheorie voraus, während eben bei Inklusion eine Anerkennung derprinzipiellen Heterogenität aller erfolge." (ebd.)

Dieser Begriffsverwendung steht Kastl ob ihrer "reichlich individualistischen Sichtweise" (Kastl 2009: 178) sehr kritisch gegenüber und plädiert daher für eine parallele Verwendung der Begriffe Inklusion und Integration. So könne Inklusion etwas darüber aussagen, ob eine Person überhaupt als Teil ihrer Gesellschaft angesehen werden kann, oder nicht (Exklusion), während erst der Begriff der Integration etwas über das Ausmaß an Partizipationschancen des Einzelnen aussagt:

"Während sich Integration als graduell abgestuft denken lässt, also ein Mehr oder Weniger enthalten kann, sind die Begriffe Inklusion/Exklusion laut Luhmann nur binär zu gebrauchen, wenn sie wirklich auch für strukturelle Ausschluss und Einschlussprozesse und nicht für graduelle Beteiligung bzw. Ungleichheit gebraucht werden." (Kastl 2009: 179)

Eine solche Argumentation findet sich ferner auch bei Anne Waldschmidt (2007), Karsten Exner (2007), Maren Lehmann (2004) und Frank Hillebrandt (2004). Kastl fasst die systemtheoretisch motivierte Debatte treffend zusammen, indem er schreibt: "Man kanninkludiert sein, aber schlecht integriert". (Kastl 2009: 179)

Ich möchte ebenfalls den Weg der Trennung von Inklusion und Integration wählen, zumal der Untersuchungsgegenstand nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem, in Kastls Worten, "politischen" Inklusionsbegriff und den dahinter stehenden Fragen, welche bereits im Einführungskapitel umrissen wurden, verlangt.

Unter dem Vorzeichen von Integration erscheint jedoch Kastls Tabelle der Partizipationsgrade und der damit verknüpften Bedeutung in der Gesellschaft als probates Mittel, um die Lage Betroffener prägnant zu charakterisieren.

3.2 Mobilität als ein Schlüsselfaktor zu gesellschaftlicher Integration

Wenn das Ausmaß von gesellschaftlicher Integration die Partizipationschancen von einzelnen Personen und Gruppen beeinflusst, in welcher Weise wirkt sich dann Alltagsmobilität auf die Integration in modernen europäischen Gesellschaften aus?

Pätzig und Graf schreiben dazu:

"Mobilität lässt sich mit der Chance Einzelner oder Gruppen, an der Teilnahme am Verkehr, also der Bewegung im Raum, zur Mobilitätschance zusammenfassen und ist Grundvoraussetzung zur Teilhabe an gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozessen." (Pätzig/ Graf 2005: 112)

Gleichzeitig muss jedoch betont werden, dass nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft dieselben Mobilitätschancen realisieren können, werden diese doch von zahlreichen Einflussgrößen, Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Faktoren, Raumgeographie und anderem beeinflusst.

Auch das Vorliegen einer Behinderung führt zur Beschränkung von Mobilitätschancen. So schreibt Katja Friebel, dass "(i)nsbesondere Menschen mit seelischen, körperlichen odergeistigen Beeinträchtigungen bislang durch die Gestaltung des öffentlichen Raumes, die sichan den Anforderungen eines Durchschnittsmenschen orientiert, benachteiligt und dadurchvon ihrer Teilhabe an der Gesellschaft behindert (werden)." (Friebel, 2008: 23) Während Anne Graefen in ihrer Untersuchung über den Gebrauch von GPS-Navigationsgeräten durch sehgeschädigte Menschen gleich zu Beginn anmerkt: "Orientierung und Mobilität stellen fürsehgeschädigte Personen komplexe und schwierig zu erlernende Kompetenzen dar." (Graefen, 2008: 3)

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass es sich bei der räumlichen Mobilität einerseits um eine Prärequisite gesellschaftlicher Partizipation handelt, Mobilitätschancen jedoch andererseits aufgrund verschiedener Einflüsse höchst ungleich verteilt sind.

Mit Blick auf sehgeschädigte Personen kann bei der Verteilung von Mobilitätschancen sogar von einer doppelten Benachteiligung ausgegangen werden: Mobilität an sich sowie Orientierung, die Planung und stetige Kontrolle von Mobilität.

3.2.1 Zum Verhältnis von Mobilität, Technologie und Behinderung

In der sozialwissenschaftlichen Literatur (vgl. bspw. Tully/ Baier 2006: 41ff) wird die Entwicklung der Mobilität eng an die Entwicklung von Technik geknüpft. Die Technik ist es, die immer größere Mobilität ermöglicht, doch ist es der Mobilitätsbedarf (z.B. durch Ausdifferenzierung), der die Gesellschaft neue Technologien zur Mobilitätsfrage entwickeln lässt.

Um diesem sich anbahnenden Henne-Ei Problem zu entrinnen, kann natürlich durchaus im Sinne Shmuel Eisenstadts (vgl. Eisenstadt 1970) argumentiert werden, dass die Domäne der Technik bislang stets zur Institutionalisierung taugliche Lösungen für die Mobilitätsfragen der Gesellschaft angeboten hat. Durch Technik wird also der (gesellschaftliche) Zwang zur Mobilität erst ermöglicht. Wie leicht könnte man in Anlehnung an Martha's Vineyard eine technikferne Gesellschaft geringer Mobilitätszwänge ersinnen, in der sehgeschädigte Personen den Status emischer Normalität genössen? Wohl aber mit der Einschränkung, dass vielleicht keine andere Art von Behinderung sinnvoll integrierbar wäre!

Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Technik Mobilität auch vereinfacht. Diese Vereinfachung gilt sowohl für die Gesellschaft im Allgemeinen (z.B. Navigationssysteme im PKW) als auch für Menschen mit speziellen Bedürfnissen im Besonderen (z.B. Niederflurtransportmittel).

Darüber hinaus gibt es noch viele Szenarien, in denen Menschen mit Behinderung ohne deren unmittelbare Berücksichtigung von technischen Entwicklungen profitieren.

Der bevorstehende Einsatz leistungsstarker Straßenbeleuchtung auf LED-Basis etwa kommt Menschen mit gewissen Ausprägungen von Sehschädigung insofern zu Gute, als dass damit eine bessere Ausleuchtung[4] als auch eine höhere Lichtqualität[5] gegenüber den aktuell weitläufig verwendeten Natriumdampflampen erzielt wird.

Ebenso wurde es erst durch computergestützte Texterkennung möglich, sehgeschädigten Personen Texte in adaptierter Darstellung zugänglich zu machen.

Im Falle der Straßenbeleuchtung steht jedoch eher der Wunsch nach geringeren Energiekosten und ausgedehnten Wartungsintervallen im Vordergrund, während die Entwicklung automatisierter Texterkennung ebenfalls mehr wirtschaftlichen Interessen denn den Interessen Sehgeschädigter diente.

Ebenso können sich technische Entwicklungen auf verschiedene Formen von Behinderung bereichernd oder beschränkend auswirken. Die Erfindung des Telefons und dessen weitere Verbreitung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mögen zwar sehgeschädigten und anderwärtig mobilitätseingeschränkten Menschen zugute gekommen sein, gleichzeitig stellte diese Entwicklung für hörgeschädigte Personen eine eklatante Benachteilung dar, welche auf dem Sektor der Telekommunikation in dieser Form erst ansatzweise in den 1990er Jahren durch den SMS-Dienst des GSM-Mobilfunknetzwerkes und besser mittels Videotelefonie über leistungsfähigere 3G-Netzwerke im anbrechenden 21. Jahrhundert kompensiert werden konnte.

Der Einsatz von Technik ist daher ein sehr ambivalentes Sujet. Technik kann Menschen mit speziellen Bedürfnissen einschränken (z.B. Mobilitätszwang), ihnen aber auch den Alltag erleichtern (z.B. "barrierefreie" Gebäudeplanung).

Daneben kann der Einsatz von Technik jedoch auch nicht-intendierte, negative Folgen für einzelne Personengruppen haben, wenn er sich im gesellschaftlichen Alltag so sehr manifestiert wie das Telefon. Gleichfalls können weitere technische Entwicklungen auf demselben Pfad diese Effekte reduzieren oder gar aufheben.

3.3 Strukturelle und intervenierende Kompensation - zwei Lösungen für das Integrationsdefizit?

Kommen wir nun zu den bereits in der Einleitung benannten Begriffen zurück. In Anlehnung an Thomas' barriers of doing als Restriktion von Mobilität und Aktivität (vgl. Kapitel 2.5) benannte ich die beiden Kompensationsmöglichkeiten der strukturellen und der intervenierenden Kompensation.

Strukturelle Kompensation liegt dann vor, wenn die räumliche Umwelt so gestaltet ist, dass sich Menschen mit Behinderung - mit den Worten Martin Marquards aus der Einleitung - wie alle Anderen selbstständig und frei in der Gesellschaft bewegen können. Strukturelle Kompensation erfordert also eine technische Manipulation der Umwelt, um sie so zu gestalten, dass sie dem vollständigen Spektrum der Heterogenität von Behinderung gerecht wird. "Barrierefreiheit" und "inklusives Design", wie die Schlagwörter für dieses Konzept lauten, benennen im trivialsten Falle die Gestaltung stufenloser Gebäudeeingänge, Rampen statt Treppen und sprechende Liftanlagen.

In den autobiographischen Ausführungen von French kommt jedoch zum Ausdruck, dass strukturelle Kompensation offenbar den Wunsch nach selbstständiger und unbeschränkter Beweglichkeit in der Gesellschaft nicht erfüllen kann - es kommt zu Zielkonflikten, denn:

"How, for example, do we resolve the conflict between visually impaired people, who need public buildings, such as supermarkets and health clubs, to be brightly lit, and those, who need the lighting to be dim, or those who need yellow stripes on steps and those, who need them black or white?" (French, 1998: 21)

Manche Probleme scheinen auf dem Wege struktureller Kompensation schlicht nicht befriedigend lösbar, ja geradezu kontraproduktiv zum Integrationsgedanken zu sein. In den bereits zitierten Worten Frenchs:

"The practice usually adopted is the one that suits the majority, which may make the environment for the minority less suitable than a 'normal' one - a situation, I faced recently when working in a college for visually impaired students." (ebd.)

Manche Barrieren können also eher durch das unterstützende Eingreifen einer anderen Person umgangen werden. Für diese Form verwende ich demgemäß den Begriff der intervenierenden Kompensation.

Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch eine dritte Form von Kompensation genannt werden: um mich besser in der Umwelt zurecht zu finden, trage ich oftmals ein GPSGerät zur ungefähren Positionsbestimmung und als Orientierungshilfe - beispielsweise in Städten - mit mir, da ich mit den Wegbeschreibungen anderer Personen, welche sich stark an komplexen visuellen Details orientieren, wenig zurecht komme.

Nachts benutze ich überdies eine Taschenlampe, da mir selbst die meiste innerstädtische Straßenbeleuchtung sowie die Innenbeleuchtung von manchen Gebäuden nicht ausreicht.

In derselben Weise benutzen blinde Personen Taststöcke, Blindenhunde und andere Hilfsmittel, die einen Großteil ihrer Basismobilität ausmachen. Diese Form der Kompensation könnte man daher auch als individuelle Kompensation bezeichnen. Sie stellt eine Anpassung des Individuums an die räumlichen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen dar und steht daher nicht in Konkurrenz zur strukturellen und intervenierenden Kompensation. Daher hat sie auch für die Forschungsarbeit keine größere Bedeutung.

Zurück zu den beiden Formen von struktureller und intervenierender Kompensation muss noch eine wichtige Unterscheidung getroffen werden: Beide können gesellschaftlich institutionalisiert sein oder nicht.

Institutionalisierte strukturelle Kompensation findet ihren Niederschlag beispielsweise in Gesetzen zur Gestaltung des öffentlichen Raums oder in Planungsgrundlagen zum barrierefreien Bauen. Institutionalisierte intervenierende Kompensation findet sich ebenfalls als Umsetzung gesetzlicher Vorschriften, etwa in Form von Special Assistance Teams an Flughäfen innerhalb der Europäischen Union.

Weniger oder nicht institutionalisierte Formen der beiden Kompensationsbegriffe lassen sich beispielhaft am hilfsbereiten Passanten an einer ungeregelten Kreuzung oder am sehbehindertengerecht eingerichteten Arbeitsplatz eines Unternehmens aufzählen.

Beide Formen von Kompensation haben ihre Grenzen, aber auch ihre Notwendigkeiten. Strukturelle Kompensation kann manche Bedürfniskollisionen nicht auflösen und läuft Gefahr, einzelne Gruppen von Menschen mit Behinderung noch stärker zu benachteiligen. Gleichfalls unterliegt strukturelle Kompensation gesamtgesellschaftlichen Kompromissen, wenn es um Ressourcenaufwendung geht:

Ein im städtischen Raum konsequent installiertes Leitsystem zur Orientierung bedeutet für betroffene Personen einen erheblichen Mobilitätsgewinn, verliert seine Wirkung jedoch bei Schneefall und festgetretenem Schnee. Umgekehrt würde das Ausfüllen vertraulicher Daten für eine blinde Person durch Dritte als nicht minder verstörend empfunden.

In beiden Fällen könnte die Situation durch intervenierende Maßnahmen (Begleitperson) bzw. strukturelle Maßnahmen (Computer mit Braille-Ausgabe) gelöst werden.

Darüber hinaus muss für strukturelle Kompensation eine weitere Schranke diskutiert werden: Jene der Funktionalität.

Unlängst betrat ich ein Gebäude, das mit einem Leitsystem für blinde und sehbehinderte Personen ausgestattet war. Dies wurde so realisiert, dass vom Eingang weg am Boden aufgebrachte, erhabene Streifen je nach Kodierung den Weg zu unterschiedlichen Räumlichkeiten wiesen. Vier parallele Streifen etwa führten zu Hörsälen, während drei zueinander parallel verlaufende Streifen Treppenaufgänge markierten. In seiner Kodierung war das System hochgradig informativ, insbesondere was die Erstorientierung im Gebäude anbelangt und die erhaben angebrachten Streifen konnten auch mit dem Taststock gut erfasst werden.

Sehgeschädigte Personen, die keinen Taststock verwenden, konnten das System dagegen nicht nutzen: Die Streifen hatten dieselbe Farbe wie der dunkelgraue Boden und waren damit quasi unsichtbar.

In Gesprächen und Nachbesserungsarbeiten stellte sich heraus, dass einem konstraststärkeren Leitsystem keinerlei Denkmalschutzbedenken oder andere bauliche Hürden entgegen standen, sondern dass schlicht auf die Bedürfnisse hochgradig sehbehinderter Menschen ohne Taststock vergessen wurde.

Beispiele wie diese zeigen, dass strukturelle Kompensation trotz Vorhandenseins prinzipiell besserer technischer Lösungen in ihrer Umsetzung unzureichend sein können. Dies kann selbst dann der Fall sein, wenn sie keinerlei Zielkonflikten ausgesetzt ist. Betroffene verfügen in so einer Situation in aller Regel unmittelbar jedoch über keine Aushandlungsmöglichkeit.

Auch intervenierende Kompensationsfaktoren können per se unangemessen sein, bedingt durch die Interaktion mit einer anderen, für die Intervention zuständigen Person besteht hier jedoch im Gegensatz zu struktureller Kompensation eine direkte Aushandlungschance über die Gestaltung der Maßnahme.

3.3.1 Verschiedene Dimensionen struktureller und intervenierender Kompensation

In der Darstellung der beiden Kompensationsbegriffe brachte ich oftmals Beispiele im Bereich der Mobilität vor, da diese bereits in den entsprechenden Kapiteln als gewichtige Voraussetzung gesellschaftlicher Partizipation identifiziert wurde.

Manche Beispiele für strukturelle oder intervenierende Kompensation lassen sich allerdings nicht mehr dem Mobilitätsbegriff zuordnen - wie etwa Frenchs Schilderungen von ihrer Literaturrecherche in einer Bibliothek oder den personal shoppers in großen Supermärkten Großbritanniens.

Der Kompensationsbegriff, wie ich ihn in meiner Arbeit benutze, geht also über die Mobilitätskomponente hinaus und umfasst weitere Aktivitäten, die dann die eigentlichen Partizipationschancen sehgeschädigter Menschen bezeichnen.



[4] Die Lichtmenge, die eine Lichtquelle zur Verfügung stellt, wird als Lichtstrom in der Einheit Lumen (lm) gemessen. Die Verteilung des Lichtstromes auf einer bestimmten Fläche ergibt die Leuchtdichte mit der Einheit Lux (lx) als Lumen pro Quadratmeter (lm/m²). Eine hohe Leuchtdichte erhöht den relativen Umgebungskontrast und kommt somit manchen Arten von Sehschädigung, insbesondere im Falle eingeschränkter Kontrastwahrnehmung, stark zugute.

[5] Die Lichtqualität einer Lichtquelle wird numerisch als Farbwiedergabeindex im Intervall [1;100] ausgedrückt. Er stellt vereinfacht ausgedrückt eine Approximation einer Lichtquelle an das Sonnenlicht (Ra =100) dar. Ein geringer Farbwiedergabeindex führt zu einer selektiven Kontrastverminderung in bestimmten Farbbereichen. So kann es passieren, dass trotz hoher Umgebungsleuchtdichte beispielsweise grüne Gehsteigbegrenzungspfosten im gelben Licht von Niederdruck-Natriumdampflampen (Ra ~5) beinahe unsichtbar werden.

4 Entwicklung des Forschungsdesigns

Gemäß dem Titel der vorliegenden Arbeit verfolge ich in meinem Forschungsdesign zwei Ziele. Zunächst soll untersucht werden, wie Menschen mit Sehschädigung nach eigener, subjektiver Einschätzung in ihrer Lebensumwelt zu Recht kommen. Als Forschungsfrage formuliert:

FF1: Wie kommen Menschen mit Sehschädigung ihrem eigenen Empfinden nach in ihrer Lebensumwelt zurecht und auf welche Barrieren stoßen sie?

Die erste Forschungsfrage hat zum Ziel, ein umfassendes Bild über die gesellschaftliche Situation und das Ausmaß an Partizipation von Personen mit Sehschädigung zu skizzieren. Das Thema Barrieren als Hemmnisse der Partizipation werde ich in der zweiten und dritten Forschungsfrage in Bezug zu den beiden Kompensationsbegriffen bringen und weiter explizieren:

FF2: Bestehen für die Barrieren in der Lebensumwelt sehgeschädigter Menschen bereits Lösungen im Sinne struktureller und/oder intervenierender Kompensation, und wie werden diese Lösungen von Betroffenen eingeschätzt?

FF3: Für welche Barrieren in der Lebensumwelt sehgeschädigter Menschen existieren keine Lösungen? Welche Art von Kompensation (strukturell, intervenierend) würden sich Betroffene in diesen Fällen wünschen?

Zu diesen Leitfragen möchte ich vier weitere systematische Fragestellungen formulieren, welche die Perspektive der Untersuchung ausformen:

Führt die Zunahme an struktureller Kompensation zu einem Rückgang an intervenierender Kompensation?

Falls Kompensation auf struktureller Ebene in einem Gesellschaftsbereich intervenierende Kompensation darin verdrängt, kann dies zur Verschlechterung der Partizipationsmöglichkeiten für sehbehinderte und blinde Menschen führen?

Sind Personen mit Sehschädigung in einem Umfeld von großer struktureller Kompensation weniger bereit, andere Personen um Hilfe zu bitten, selbst wenn sie mit den Formen struktureller Kompensation aus ihrer Sicht nicht angemessen

erscheinen?

Wird Menschen mit Sehschädigung in einem Umfeld von großer struktureller Kompensation weniger Hilfe angeboten, selbst wenn diese aus der Sicht Betroffener nicht angemessen erscheinen?

Die Formulierung der zweiten Frage im Sinne einer strikten wenn-dann bzw. je-desto Beziehung erscheint nicht angemessen. Zwar finden sich in der Literatur wie bereits an anderer Stelle zitiert, Einzelbefunde über einen solchen Bezug, doch kann die Ausbildung von struktureller Kompensation nicht pauschal abgelehnt werden.

Vielmehr soll mit dieser Formulierung die Möglichkeit eröffnet werden, selektiv Bereiche zu identifizieren, in der strukturelle Kompensationsformen eine eher oder überwiegend negative Auswirkung auf die Partizipationsmöglichkeiten Betroffener nehmen.

4.1 Die Auswahl der Forschungsmethode

Die Forschungsfragen legen einen qualitativen Zugang zur Datenerhebung nahe. Zunächst muss unter Berücksichtigung der Heterogenität von Sehschädigung konstatiert werden, dass die Situationen, in denen Betroffene Barrieren und Integrationsdefizite erleben mögen, höchst unterschiedlich ausgestaltet sein können. Es wäre daher vermessen davon auszugehen, ein umfassendes Spektrum an Partizipationsmöglichkeiten und Ausschlüssen davon durch die Anwendung quantitativer standardisierter Erhebungsmethoden zu erhalten. Die individuelle Ausprägung von Behinderung sowie die individuellen Lebensbiografien Betroffener legen eine offene Gesprächsform als qualitatives Erhebungsinstrument nahe.

Die Wahl der Methode des qualitativen Interviews wird folgendermaßen begründet: Die Forschungsfragen könnten gewiss auch auf anderem Wege operationalisiert werden. So wäre etwa auch ein Szenario im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung denkbar.

Durch meine eigene Sehschädigung kann ich den Anforderungen einer teilnehmenden Beobachtung, insbesondere an die Wahrnehmungskapazität (vgl. Weigand/ Hess 2007: 30) als Einzelperson jedoch absehbar nicht vollumfänglich gerecht werden.

4.1.1 Das Leitfadeninterview

Das Leitfadeninterview wird in der Literatur vom offenen, gering strukturierten narrativen Interview dadurch abgegrenzt, dass das Gespräch durch Leitfragen stärker gesteuert wird und durch diese einen gewissen Grad der Standardisierung und Strukturierung erhält.

Beide Merkmale verbessern die Vergleichbarkeit von verschiedenen Interviews. Zum Einsatz kommt das Leitfadeninterview dann, wenn "konkrete Aussagen über einen Gegenstand Zielder Datenerhebung [sind]." (Mayer 2008: 37)

Mayer unterscheidet weiters das Experteninterview als Subtypus leitfadengestützter Interviewführung, in welchem der Befragte "weniger als Person (wie z.B. bei biographischenInterviews, sondern als Experte für bestimmte Handlungsfelder [interessiert]" (Mayer 2008: 38) Froschauer und Lueger stellen dazu jedoch fest:

"Befragte Personen gelten im Rahmen von qualitativen Forschungsgesprächen immer als ExpertInnen. Sie sind Expertinnen ihrer Lebenswelt, deren lebensweltlicher Wissensvorrat, wie Schütz und Luckmann (1979: 133ff) meinen, an die Situiertheit biographischer Erfahrungen des Subjekts gebunden ist und der Bewältigung alltäglicher Situationen dient." (Froschauer/ Lueger 2003: 36)

Tatsächlich möchte ich meine Interviewpartner vorrangig als Experten ansehen, indem hinsichtlich der Forschungsfragen eine Beurteilung ihrer aktuellen Lage, Barrieren und Partizipationsmöglichkeiten interessiert. Der Themenausschnitt kann von dieser Fragestellung jedoch nicht besonders partikulär gewählt werden, sondern er betrifft möglichst alle Lebensbereiche, in denen sich Betroffene mit ihrer Sehschädigung auseinandersetzen. In diesem Sinne enthalten die Befragungen auch biografische Elemente, denen im Ausmaß der Strukturierung und Offenheit durch die Leitfragen Rechnung zu tragen ist.

Nach Mayring (vgl. Mayring 2002: 66) bestimmt die Offenheit eines Interviews die Freiheitsgrade des Befragten, während das Ausmaß an Strukturierung die Freiheitsgrade des Interviewers bestimmt. Um im Gespräch flexibel auf die Situation eingehen zu können, ist sowohl ein großes Maß an Offenheit in der Befragung vonnöten, als auch gewisses Ausmaß vergleichsweise geringer Strukturierung.

Um diese Ansprüche zu erfüllen, wurde von mir eine Gesprächsform gewählt, die einem Leitfaden aus sehr wenigen vorformulierten Kernfragen folgt und deren Erweiterungsfragen situationsbezogen frei formuliert werden.

Diese Art der Interviewführung wird von Mayring (2002) in Anlehnung an Witzel (1982, 1985) als problemzentriertes Interview, als Gattungsbegriff für alle offenen, halbstrukturierten Befragungsformen benannt:

"Das Interview lässt den Befragten möglichst frei zu Wort kommen, um einem offenen Gespräch nahe zu kommen. Es ist aber zentriert auf eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder zurück kommt. Die Problemstellung wurde vom Interviewer bereits vorher analysiert; er hat bestimmte Aspekte erarbeitet, die in einem Interviewleitfaden zusammengestellt sind und im Gesprächsverlauf von ihm angesprochen werden." (Mayring 2002: 67)

Diese Interviewform scheint für das vorliegende Forschungsvorhaben am besten geeignet zu sein, zumal mit den theoretischen Konzepten struktureller und intervenierender Kompensation gleichsam die Leitbegriffe etabliert wurden, entlang derer Partizipation stattfinden kann. Die Ausgestaltung im Einzelfall kann jedoch großer Variation unterliegen, welche mit einer Interviewform geringeren Offenheitsgrades nicht zu erfassen wäre.

Indem ich mich selbst als Sehgeschädigter - als eine Person in derselben Situation wie meine Interviewpartner - zu erkennen gebe, kann die Anforderung an das problemzentrierteInterview nach "eine[r] möglichst gleichberechtigten, offenen Beziehung" (Mayring 2002:69) vermutlich besser erfüllt werden, als dies Sozialforschern ohne Sehschädigung in einersolchen Situation möglich wäre. Dadurch ist ein offeneres, reflektiertes Antwortverhalten undsomit eine höhere Qualität der Forschungsergebnisse zu erwarten. (vgl. ebd.)

4.1.2 Operationalisierung der Forschungsfragen: Konstruktion eines Leitfadens für die problemzentrierte Interviewführung

In diesem Kapitel sollen nun die Leitfadenfragen für die problemzentrierte Gesprächsführung in den Lebensbereichen Arbeit, Freizeit und Alltagsbesorgungen und der Prärequisite räumliche Mobilität gemäß den Forschungsfragen entwickelt werden.

Die Auswahl der Lebensbereiche wird folgendermaßen begründet: Die Auswirkungen und Einschätzungen von struktureller und intervenierender Kompensation auf sowie durch Betroffene lässt sich auf vielen Kommunikations- und Handlungsebenen erheben.

Im Sinne der Angemessenheit und der Gegenstandsnähe als zwei wichtige Gütekriterien qualitativer Sozialforschung (vgl. Mayring 2002) wurden nun die vier Bereiche Mobilität, Alltagsbesorgungen, Freizeit sowie Arbeit als typische Ausprägungen des Alltagslebens (im Gegensatz etwa zu feiner ausdifferenzierten Dimensionen wie politischem Engagement, Rechtsfragen etc.) gewählt.

Weiters betreffen die ausgewählten Lebensbereiche einen Großteil der Bevölkerung. Defizitäre Partizipationsmöglichkeiten in diesen Dimensionen können daher konsistenter mit Sehschädigung in Zusammenhang gebracht werden, als dies in feiner ausdifferenzierten Kontexten wie beispielsweise im Falle politischen Engagements möglich wäre.[6]

Darüber hinaus darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Personen mit Sehschädigung nicht nur individuell gesehen andere Ansprüche (z.B. an die Gestaltung ihrer räumlichen Umwelt) stellen, sondern auch aus ihrer Lage heraus spezielle Erfordernisse an ihr gesellschaftliches Umfeld stellen. Diesem Umstand, sowie dem explorativen Charakter der Forschungsfragen wird durch einen völlig offenen Gesprächsteil Rechnung getragen. Der Interviewleitfaden um die Kernfragen ist im Anhang aufgelistet.

4.1.3 Pilotphase, Datenerhebung und Datenaufbereitung

Zweck einer Pilotphase ist die Prüfung des Erhebungsinstrumentes. Dieses kann, sofern in dieser Phase des Forschungsprozesses methodische Defizite sichtbar werden ggf. angepasst werden.

Die Kontaktaufnahme zu den Interviewpartnern für die Pilotphase vollzog sich zunächst über Blinden- und Sehbehindertenverbände in Wien und wird im Kapitel 5.1 detailliert angeführt. Die Datenerhebung geschah mit dem jeweiligen Einverständnis der Interviewpartner durch Audiomitschnitt.

Als Datenaufbereitung kam die Transkription per literarische Umschrift zum Einsatz, da die Bedeutung der Interviews für den Forschungsgegenstand vor allem auf der inhaltlichen Ebene liegt.

4.1.4 Datenauswertung

Der Auswertung der Transkriptionen geht ein Anonymisierungsschritt voran, in dem Namen durch Pseudonyme ersetzt werden. Darüber hinaus gehende, zur Identifikation der Gesprächspartner geeignete Merkmale, welche für die Forschungsfragen selbst nicht relevant sind, wurden generalisiert.

Die Datenauswertung, im Kapitel 6 dargestellt, beginnt zunächst mit der Positionierung aller Interviewpartner gemäß ihre Präferenzen für strukturelle und intervenierende Kompensationsformen. Basierend auf dieser Verortung werden daraufhin Fallbeispiele ausgewählt, welche die mit der Positionierung verbundenen typischen Eigenschaften verkörpern. Der Auswahlprozess wird in Kapitel 6 detailliert beschrieben.

Die Präsentation der Fallbeispiele erfolgt auf deskriptiver und auf analytischer Ebene, indem die Aussagen der jeweiligen Gesprächspartner kontextualisiert, abstrahiert und generalisiert werden. Wie bereits im Vorwort angekündigt, lege ich aus Gründen der Nachvollziehbarkeit einen großen Fokus auf die ausführliche Wiedergabe konkreter Situationen als Prototypen der Generalisierungen und Abstraktionen.

In den Fallbeispielen werde ich überdies Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten Betroffener in ähnlichen Situationen und Kontexten (bspw. Strategien zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) im Sinne eines kumulativen Vergleiches referenzieren, bei dem ein Fallbeispiel auf jeweils alle vorangegangenen Fallbeispiele bezogen wird.

Basierend auf den Fallbeispielen werden im Kapitel 7 die Forschungsfragen diskutiert und darüber hinaus Erkenntnisse eingearbeitet, welche aus der Feldforschung heraus entstanden sind und nun auf die Theorieebene abgeleitet werden.



[6] Ich beziehe mich hier argumentativ auf die Theorie horizontaler Disparitäten der Lebensbereiche, wie sie von Stefan Hradil zur Erklärung verschiedener sozialer Ungleichheitsfaktoren herangezogen wurde. (vgl. Hradil 2005: 94)

5 Durchführung der Datenerhebung

5.1 Feldzugang und Kontaktaufnahme

Die Beschreibung des Forschungsdesigns legt nahe, dass für einen umfassenden Einblick in die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Sehschädigung eine möglichst heterogene Zielgruppe befragt werden muss.

Die Chancen gesellschaftlicher Partizipation korrelieren schließlich ebenso mit anderen, die Fragestellung der vorliegenden Arbeit nicht interessierenden, dabei jedoch aus methodischen Überlegungen heraus nicht auszublendenden Faktoren wie dem Bildungsstand u.ä.

Aus diesem Grund erscheint es nicht zweckmäßig, Interviewpartner etwa ausschließlich aus einer Blindenwerkstätte zu kontaktieren. Mein Ziel für die erste Kontaktaufnahme war es daher zunächst, möglichst viele Personen anzusprechen, um eine Auswahl der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nach:

  • dem Alter,

  • der Bildung.

  • dem Beruf

  • und dem Geschlecht

  • zu treffen.

Ein Feldzugang, wie er etwa von Girtler (vgl. Girtler 2001) beschrieben wird, kann in Hinblick auf die spezielle Situation von Menschen mit Sehschädigung, sowie der Forschungsanforderung nach einer heterogenen Zusammensetzung des Interviewsamples, jedoch nicht durchgeführt werden.

Erstens stellen sehgeschädigte Menschen zwar eine Minderheit dar, die jedoch keine Gemeinschaft im Sinne einer konsistenten Subkultur darstellen, welche an einem konkreten Ort aufgesucht werden könnte. (vgl. Girtler 2001: 27f) Tatsächlich berichteten viele Betroffene, dass ihr Freundeskreis vor allem aus sehenden Personen bestünde. So beschreibt etwa Tom seinen Freundeskreis folgendermaßen:

"Ich würde sagen, über 90 Prozent [meiner Freunde sind d.Verf.] sehend, aber die Beziehungen zu blinden Menschen sehr tief und innig. (...) Es ist einfach: erstens gibt es mehr Sehende auf der Welt, und zweitens (...) hat sich einfach so ergeben, ich war niemals in einer Blindenschule." (Interview IV, Seite 24)

Diese Beobachtung wird ferner durch die Literatur gestützt, in welcher sich keinerlei Hinweise auf eine Gemeinschaft von Menschen mit Sehschädigung finden. Betont wird vielmehr die funktionale Heterogenität und damit auch die potentielle Exklusivität der Natur von Sehschädigung selbst bei ähnlicher physiologischer Einschränkung. So stellt Graefen in Anlehnung an Walthes (2003) fest:

"Menschen mit dem gleichen Sehvermögen können aufgrund ihrer unterschiedlichen und miteinander in Wechselwirkung stehenden Anlage-, Erziehungs- und Umweltfaktoren (z.B. Erfahrung, praktische Intelligenz, intentionale Gerichtetheit, Begriffsbildung, intersensorielle Reizverarbeitung etc.) ihr objektives Sehvermögen höchst unterschiedlich nutzen und erfordern somit an sie angepasste Kompensationsansätze." (Graefen 2008: 5)

Zweitens sind sehgeschädigte Menschen im Alltag nicht immer als solche zu erkennen. In Österreich, wo das Symbol der European Blind Union als Verkehrsschutzzeichen anerkannt ist, und dessen Trägerin oder Träger gemäß der Straßenverkehrsordnung vom Vertrauensgrundsatz ausgenommen ist, entscheiden sich manche der interviewten Personen bewusst gegen das (ständige) Tragen dieser Armbinde. Die Begründungen decken hier ein breites Spektrum bis hin zu ideologischen Betrachtungen ab:

"Ich muss sagen, (...) dass für mich dieses Symbol, das sich von den Kriegsblinden herentwickelt hat, (...) irgendwie psychisch ziemlich belastend ist. (...) Ich trage sie nicht gerne, ich trage sie in der Dämmerung, im Dunkeln und so trage ich sie schon, Ja, im Sommer, wenn ich jetzt kurzärmelig bin, unärmelig bin, trage ich sie auch nicht." (Patricia, Interview VII, Seite 5)

Auch der Tragekomfort der bestehenden Ausführung der Schleifen wird bemängelt, wie etwa Markus ironisch anmerkt:

"Ja, richtig, wobei, wie wir eh vorher schon gesprochen haben, nachdem die Blindenschleifen so super funktionieren, also so bequem zu tragen sind, habe ich mich auf eine beschränkt." (Interview VI, Seite 7)

Daher erscheint es zielführend, mit dem Forschungsanliegen zunächst an die einschlägigen Organisationen und Vereine heranzutreten, um über diese, etwa auf dem Wege interner Rundschreiben, Zugang zu den Mitgliedern zu bekommen.

Doch der Versuch, als Außenstehender Organisationen als Multiplikatoren zu nutzen, um sich einen Feldzugang zu verschaffen, muss als gescheitert betrachtet werden.

Ich versuchte, aufgrund der bereits genannten Hürden eines unmittelbareren Feldzugangs, den Kontakt über Institutionen herzustellen. Auf eine Kontaktanfrage an den österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverband hin meldete sich eine Person, welche bereit war, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen. Die jeweils erbetene interne Weiterleitung an Kollegen und Mitglieder fand in fast allen Fällen nicht statt.

Schließlich erbrachte eine Anfrage an einen weiteren Verein bessere Resultate. Zwei Personen des Vereins willigten zunächst in ein Interview ein und erklärten sich darüber hinaus noch bereit, meine Kontaktanfrage an die Mitglieder des Vereins weiter zu leiten.

Die Resonanz blieb jedoch zunächst aus. Rückmeldungen möglicher Gesprächspartner kamen erst, nachdem meine Kontaktanfrage ein Monat später erneut, diesmal jedoch begleitet von einer persönlichen Empfehlung der bereits zuvor interviewten Personen, die sich auf diesem Wege für das angenehme Gespräch bedankten, verschickt wurde.

In diesem Zusammenhang sei also insbesondere auf die Wichtigkeit der Reputation und der Akzeptanz des Forschers im Feld hingewiesen, wie bei Girtler (Girtler 2004) dargestellt, welche im Zusammenhang mit der potentiell intimen Gesprächsführung (Behinderung im Kontext von zum Teil stark persönlichen Lebensbereichen) eine ausgesprochene Schlüsselfunktion einnimmt.

Ebenso zeigte sich, dass die eigene Sehbehinderung den Feldzugang per se nicht erleichterte, jedoch die damit verbundenen Erfahrungen der Gesprächsführung in den Interviews oftmals sehr zuträglich waren.

So hatte ich in einem Gespräch folgendes über die Vorzüge einer ehemaligen gesetzlichen Bestimmung über das Autofahren mit eingeschalteten Scheinwerfern selbst bei Tage erzählt:

"Ich meine, ich habe das Licht am Tag zum Beispiel auch sehr gut gefunden. (...) Ich konnte sehen: ein Auto, das das Licht aufgedreht hat, fährt. Das heißt, wenn ich jetzt (...) in Wien eine Straße mit einer Reihe parkender Autos überquere, dann würde es mich sehr irritieren, wenn ich (...) nicht mehr davon ausgehen kann, dass ein Auto, das fährt, auch die Lichter aufgedreht hat. Ich würde glauben, da kommt jetzt eine ganze Kolonne auf mich zu!" (Interview I, Seite 9)

Meine Gesprächspartnerin konnte sich mit dieser Schilderung sehr gut identifizieren, da sie in der Vergangenheit augenscheinlich ähnliche Strategien zum sicheren Überqueren von ungeregelten Straßenübergängen ohne Schutzweg angewendet hatte. Meine Erzählung zeigte hr, dass ich mich aus eigenen Erfahrungen heraus gut in ihre Lage zu versetzen vermochte, sodass das folgende Gespräch über räumliche Mobilität auf einem abstrakteren Niveau, mit höherem Informationsgehalt stattfinden konnte.

Die Interviews selbst wurden stets mit persönlichem Kontakt durchgeführt. Es zeigte sich zwar, dass viele meiner Gesprächspartnerinnen und -partner über die entsprechende Ausstattung verfügten, sodass die Gespräche prinzipiell auch etwa via VoIP-Software durchgeführt werden hätten können, jedoch legen auch Menschen, die als blind gelten, mitunter sehr viel Wert auf face to face Gesprächssituationen, wie in zwei Fällen konkret angesprochen wurde:

"Also Social Networking findet statt über E-Mail-Listen, aber am liebsten Face to Face." (Josef, Interview II, Seite 32)

"[Ich bin] trotzdem immer jemand (...), der sagt, physische Treffen wo man persönlich am Tisch sitzt [sind] immer noch besser natürlich." (Georg, Interview VII, Seite 4)

Überlegungen, Interviews fallweise ohne persönlichen Kontakt durchzuführen, begründen sich aus der möglicherweise geringen Mobilität meiner Gesprächspartnerinnen und -partner und den möglichen Vorbehalten, eine fremde Person alleine in die eigene Wohnung einzuladen.

Alle Interviews konnten jedoch wie geplant im direkten Kontakt durchgeführt werden. In fünf Fällen traf ich die Personen auf deren Wunsch hin, und wohl als Resultat der bereits erwähnten Reputation in Form eines Empfehlungsschreibens, in ihrer Wohnung an. Vier weitere Interviews wurden in Cafés und Restaurants durchgeführt und eines am Arbeitsplatz meines Interviewpartners, wobei ich die Wahl stets meinen Interviewpartnerinnen und -partnern überlassen hatte.

5.2 Pilotphase - methodische Anpassungen in der Gesprächsführung

Bereits in den der Pilotphase zeigte sich, dass die Form des problemzentrierten Interviews nicht die beste Methode war, um einen umfassenden Einblick in die Lebenswelten Betroffener zu erlangen. Dies zeigte ich bereits ansatzweise bei der Betonung der positiven Auswirkung meiner eigenen Sehschädigung auf die Gespräche im vorangegangenen Kapitel.

In Bezug auf meine Feldforschung möchte ich daher zwei Einschränkungen dieser Interviewform, wie sie im Kapitel 4.1.1 vorgestellt wurde, diskutieren und meine daraus resultierenden methodischen Anpassungen begründen.

Erstens waren es einige meiner Gesprächspartnerinnen und -partner aus Gründen beruflichen oder außerberuflichen Engagements gewohnt, mit sehenden Menschen über ihre Sehschädigung zu sprechen. Obwohl diese Personen sehr stark über ihre eigene Behinderung reflektieren, hatten sie wohl im Umgang mit nicht sehgeschädigten Menschen erfahren, dass Kommunikation erst dann verständlich wird, wenn komplexe Zusammenhänge auf Kosten des Informationsgehalts elementarisiert und damit für Außenstehende erst verständlich gemacht werden.

Das bloße Ansprechen meiner eigenen Sehschädigung reichte in diesen Fällen offensichtlich ebenso wenig aus, wie häufiges Nachfragen von Details. Wohl aber anekdotenhaft kurze Schilderungen über den praktischen Umgang mit meiner eigenen Sehbehinderung, die sich mit den Erfahrungen meiner Interviewpartnerinnen und -partner zum Teil deckte.

Diese Kongruenzen veranlassten mein Gegenüber oftmals, das Gesagte besser zu elaborieren, wie ich am Beispiel eingeschalteter Scheinwerfer als Indikator für fahrende Autos gezeigt hatte.

Erst im gemeinsamen Gespräch über Behinderung wurde ich also zum "Mit-Betroffenen", mit dem mein jeweiliges Gegenüber auf Augenhöhe kommunizieren konnte.

Zweitens dienten meine Erzählungen über den Umgang mit meiner eigenen Sehbehinderung in einigen Fällen als Reflexionshilfe, um etwa das Gespräch aufrecht zu erhalten, oder aber ein angeschnittenes Thema weiter zu vertiefen.

Erwähnt werden muss ferner, dass ein Gespräch über Behinderung sehr intime Lebensbereiche umfassen kann. Manche meiner Gesprächspartnerinnen und -partner hatten Schwierigkeiten, einen angemessenen Level an Intimität - etwa Sprechen über persönliches Versagen, höchstpersönlicher Befürchtungen und Ängste - zu finden. Auch in diesem Falle war es hilfreich, durch eigene Schilderungen ein entsprechendes Maß an Offenheit und Vertrauen herzustellen.

Methodisch gesehen wurde das problemzentrierte Interview um Elemente der ero-epischen Gesprächsführung erweitert, wie sie von Girtler (Girtler 2004) beschrieben wird:

"[Ero-epische Gesprächsführung bedeutet], die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, dass sie sich geachtet fühlen. Man muss sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen. Erst so lassen sich gute Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle erstellen." (Girtler 2004: 66)

Und insbesondere:

"Charakteristisch für das ero-epische Gespräch, wie ich es verstehe, ist dass der Forscher sich selbst einbringt und nicht durch Fragen den Gesprächspartner in "Zugzwang" bringt. Das ero-epische Gespräch ist somit ein eher feinfühliges und nicht so leicht durchführbares Unternehmen. Es gehören viel Geduld und Gefühl zu diesem." (Girtler 2004: 68)

Im Mittelpunkt steht dabei also der Gedanke, die interviewte Person als Gesprächspartnerin anzuerkennen, und sie nicht nur als Datenlieferanten zu betrachten.

Das Gespräch solle demnach ein Lernprozess auf beiden Seiten bedeuten, also beiden Beteiligten einen Mehrwert bieten.

Neben der forschungsethischen Relevanz führt ein sich an den Gesichtspunkten ero-epischer Gesprächsführung orientierendes Interview durchaus zu besseren Einblicken in die Lebenswelten Betroffener.

Beispielhaft hervorheben möchte ich an dieser Stelle das Treffen mit Eva und Markus in einem Gasthaus. Die Gesprächsatmosphäre hatte ich zu Beginn, wohl aufgrund der Erwartungshaltungen über das bevorstehende Interview als angespannt wahrgenommen. Anstatt sogleich mit dem Interview zu beginnen, und damit vielleicht auf Vorbehalte zu stoßen und entsprechend schlechteres "Datenmaterial" zu erhalten, führten wir daher bei gemütlichem Essen ein anregendes Gespräch über Beruf, Freizeitaktivitäten, Tagespolitisches und andere Smalltalk-Themen, die schließlich, etwa zwei Stunden später im eigentlichen Interviewgespräch mündeten.

Deutlich möchte ich mich an dieser Stelle jedoch von der möglichen Annahme distanzieren, diese Schritte einzig mit Blick auf "gutes Datenmaterial" unternommen zu haben. Zu vielen meiner Gesprächspartnerinnen und -partner pflege ich nach wie vor Kontakt.

Der an dieser Stelle möglicherweise vorgetragenen Kritik an der Objektivität des Forschungsvorhabens möchte ich im Sinne Girtlers (Girtler 2001; 2004) und mit den bereits an früherer Stelle aufgezeigten Mängeln ausschließlich leitfadengestützter Interviewführung in Bezug auf meinen Feldzugang begegnen.

5.3 Methodische Reflektion der Interviewsituationen

Aus den bereits in Kapitel 5.1 benannten Gründen gestaltete sich der Feldzugang zunächst als unerwartet schwierig und konnte erst nach dem Aufbau von Reputation vollständig bewältigt werden.

Die unter dem Einfluss dieser Reputation folgenden Gespräche sind inhaltlich in Hinblick auf das berichtete Erlebensspektrum als auch in Bezug auf die Detailtiefe als sehr gut zu beurteilen. Die Stärken der qualitativen Forschungsmethoden konnten in beiderlei Hinsicht gut eingesetzt werden, sodass in den Gesprächen auf explorative Weise Situationskontexte und Mechanismen erfasst wurden, welche weit über die Theoriebildung hinausgehen. (s. beispielhaft Kapitel 7.2.1 zur Bedeutung individueller Kompensation und deren Syntheseformen).

Kritisch muss dagegen die Sampleauswahl betrachtet werden. Die Wahl der Forschungsmethode bedingt die ausdrückliche Kooperation der Gesprächsteilnehmer, sodass das Interviewsample einem Bias unterworfen ist: Betroffene, welche kein Interesse an einem etwa zweistündigen Gespräch bekundeten, unterscheiden sich möglicherweise systematisch von der Gruppe der interviewten Personen. Dieser Schluss liegt insofern nahe, da das Gespräch ein hohes Maß an Bereitschaft voraussetzt, über die eigene Behinderung zu reflektieren. Diese Bereitschaft steht dabei möglicherweise im Zusammenhang damit, wie gut Betroffene mit ihrer Sehschädigung auf psychischer Ebene umzugehen wissen.

Der Aspekt eines möglichen Sample-Bias soll im Kapitel 8.3 im Zuge der methodischen Kritik an der vorliegenden Arbeit noch von einem weiteren Standpunkt aus beurteilt werden.

6 Datenauswertung - ein Überblick über die Lebenswelten der interviewten Personen

Im folgenden Abschnitt werden nun fünf Fallbeispiele analysiert. Am Beginn der Analysen stehen biografische Informationen und eine kurze Beschreibung der Sehkraft bzw. des Sehkraftverlustes. Es handelt sich hierbei um eine Selbsteinschätzung der Gesprächspartner, welche fallweise um medizinische Beschreibungen ergänzt wurde. Die Selbsteinschätzung der Sehkraft ist für den Alltag Betroffener von großer Bedeutung und wurde daher der Frage nach der augenärztlichen Bestimmung des Sehvermögens vorgezogen.

Das Ergebnis einer solchen wird beispielsweise von Petra als völlig unzureichend und bezogen auf ihren Alltag mit der Sehschädigung unzutreffend bezeichnet. Tatsächlich blendet die Beurteilung des Sehvermögens dem Visus der Messung des Gesichtsfeldes viele Aspekte von Sehschädigung aus, welche im Alltag von Betroffenen eine große Rolle spielen.

So berichten einige Gesprächspartnerinnen, dass sie kontrastreiche Verkehrsmittelbeschriftungen gerade noch lesen können, während die eher kontrastschwache Darstellung auf Displays von einigen modernisierten Straßenbahngarnituren bei gleicher oder größerer Schrift nicht mehr erfasst werden kann.

Obwohl also Kontrastverhältnisse am Alltag mancher Betroffener von großer Bedeutung sind, wird dem Helligkeitskontrast bei der augenärztlichen Bestimmung des Visus keine Bedeutung beigemessen. Er ist im Test keine veränderliche Größe.

Die exakte Fragestellung lautete daher "Wie würden Sie einem sehenden Menschen Ihr Sehvermögen beschreiben?"

Damit steht die explizite Aufforderung im Raum, anstelle von abstrakten (medizinischen) Bewertungen praxisbezogene Beispiele zu benennen, was mit dem jeweiligen Sehvermögen in Zusammenhang mit Erfahrung bzw. kognitiver Leistung noch möglich ist, und was nicht. Tatsächlich bezeichnet etwa Patricia das Zuordnen von Flecken unterschiedlicher Grauschattierung zu Menschen, Litfaßsäulen oder Autos als eine Leistung, die ihr Gehirnerbringt. Zur Diskussion von räumlicher Mobilität muss Sehbehinderung also zunächst kontextualisiert werden. Daher bat ich meine Interviewpartnerinnen und -partner, möglichst detailliert darüber zu sprechen und diese Schilderungen fließen auch entsprechend in die folgenden Fallanalysen ein.

Nach diesem Überblick folgt eine Diskussion der räumlichen Mobilität der jeweiligen Person, welche sich stark an den persönlichen Mobilitätserfordernissen orientiert.

Räumliche Mobilität ist in den folgenden Falldarstellungen ein zentrales Thema, welches für Betroffene mit sehr vielen Integrationsdefiziten im Berufsleben und in der Freizeit in zwei Dimension verbunden ist: Unmittelbar, indem beispielsweise eine Veranstaltung aufgrund von ungelösten Barrieren im öffentlichen Raum oder vor Ort nicht besucht werden kann, sowie mittelbar, wenn etwa der Weg zur Arbeitsstelle mit einer dermaßen hohen psychischen Belastung verbunden ist, dass sie sich auf die Arbeitstätigkeit selbst auswirkt.

Zum Abbau von Barrieren oder zur Minderung der Stressbelastung, die fast alle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner mit räumlicher Mobilität in Verbindung bringen, wird in unterschiedlicher Weise auf strukturelle und intervenierende Kompensationsangebote zugegriffen. Auch diese werden in den Fallbeispielen diskutiert, ebenso wie die Akzeptanz oder Defizite der jeweiligen Kompensationsangebote im Beruf, bei täglichen Besorgungen und in der Freizeitgestaltung.

Abbildung 3: Akzeptanz von struktureller und intervenierender Kompensation

Die fünf Fallbeispiele - Petra, Eva, Verena, Patricia und Josef - wurden ausgewählt, um einen möglichst umfassenden Überblick über die Lebenswelten sehgeschädigter Menschen im Hinblick auf die Forschungsfragen zu geben. Das bedeutet, dass die gewählten Fallbeispiele im Diagramm eine möglichst große Fläche abdecken.

Zur Diskussion der Forschungsfragen und der in den Fallbeispielen ferner aufgeworfenen Fragestellungen und Konzepten werden die Inhalte aus den übrigen fünf Gesprächen im nachfolgenden Kapitel zur Variation, Affirmation oder zur Relativierung (etwa indem von diesen Personen diskutierte alternative Lösungswege aufgezeigt werden) herangezogen. Diese weiteren fünf Gesprächspartner sind im Diagramm grau hinterlegt lokalisiert und aus Gründen der Lesbarkeit etwas nach rechts unten verschoben. Die Verschiebung impliziert jedenfalls keinen gerichteten Trend. Bei diesen, zur Analyse ergänzend herangezogenen Informationen, handelt es sich um Gespräche mit folgenden Personen:

  • David, 23, Student, von Geburt an blind.

  • Tom, 54, verheiratet mit einer sehenden Partnerin, aufgewachsen in den Vereinigten Staaten und seit etwa 20 Jahren in Wien wohnhaft und als selbstständiger Übersetzer tätig. Er ist mit einer hochgradigen Sehbehinderung geboren worden und seit einigen Jahren vollkommen erblindet.

  • Patrick, 40, durch ein medizinisches Leiden seit Jahren hochgradig sehbehindert und behinderungsbedingt in Frühpension. Er war vormals Kellner und Bühnentechniker und lebt zusammen mit seiner sehenden Lebensgefährtin.

  • Markus, 41, Telefonist, von Geburt an als blind geltend und verheiratet mit einer blinden Partnerin.

  • Georg, 35, gilt als blind und wohnt zusammen mit einer sehenden Lebensgefährtin. Er ist als Behindertenbeauftragter tätig.

6.1 Analyse ausgewählter Fallbeispiele

6.1.1 Petra

Petra, 38, mit einem sehenden Mann verheiratet und Mutter von zwei Kindern, studierte Lehramt.

Petras hochgradige Sehbehinderung resultiert aus einem fortgeschrittenen Glaukom, welches seit ihrem 13. Lebensjahr den Sehnerv im Auge zerstört und damit das Blickfeld sukzessive einengte. Petra selbst beschreibt dieses als "Röhrenblick". (Interview I, Seite 1) Auch im zentralen Sehbereich ist ihre Sehkraft mit einem Visus von 0,2 deutlich reduziert. Persönlich erachtet sie jedoch die Reduktion der Sehkraft auf die nominelle Sehschärfe als unzureichend, da damit dem verengten Blickfeld nicht Rechnung getragen wird:

"[Die Visusbestimmung] halt ich für einen Blödsinn, weil ich einfach weiß, (...) wenn ich da hinaufschaue, sehe ich, was da am Kasten oben steht (...), aber ich sehe halt nicht, was neben dem Kasten ist." (Interview I, Seite 1)

Weiters gibt Petra an, dass ihr durch das enge Gesichtsfeld jegliche räumliche Wahrnehmung fehlt - es scheint kein stereoskopisches Sehen möglich zu sein.

Als eine Folge davon kollidiert Petra auf großen Plätzen wie etwa in der Wiener Innenstadt öfters mit anderen Menschen, welche den ihren Weg kreuzen. Petra fügt jedoch hinzu:

"[Wenn] die Leute von allen Seiten kommen, also da gehe ich wie eine Schnecke und bewege dauernd den Kopf hin und her, (...) weil ich sehe es einfach nicht, da ist zum Beispiel (...) der Kinderwagen eine Hilfe, weil man (...) den vor sich herschiebt (...) da kommen die Leute nicht so schnell von der Seite." (Interview I, Seite 2)

Petra gibt an, alleine recht gut im öffentlichen Raum zurecht zu kommen. Sie trägt keine Blindenschleife als Erkennungszeichen: "[Ich] passe auf mich selber - bis jetzt war noch nieirgendwas - gut genug auf, dass das jetzt, glaube ich, vertretbar ist und ich bin auch fürniemand anderen eine Gefährdung." (Interview I, Seite 3)

Ebenso benutzt sie keinen Taststock und orientiert sich nicht an strukturellen Merkmalen wie

etwa dem Blindenleitsystem der Wiener Linien.

Durch ihre geringe Sehkraft kann sie jedoch viele Schilder und Beschriftungen (mit Ausnahme der U-Bahn) nicht lesen. Ebenfalls hat sie Schwierigkeiten, Verkehrsmittel zu identifizieren, um etwa die richtige Buslinie an einer Doppelhaltestelle zu wählen. Die Beschriftung der Busse ist für sie nur unter bestimmten Lichtbedingungen leserlich, Spiegelungen stellen ein Problem dar. Beim Erkennen von Verkehrsmitteln handelt es sich also um eine vorrangig strukturelle Barriere, welcher Petra begegnet, indem sie andere Fahrgäste fragt.

"[Ich] frage entweder jemanden, der neben mir steht, Entschuldigung ist das der 8A? Und wenn die Leute mich anschauen, glaube ich, wissen sie eh, warum ich frage. (...) Ich habe auch Kontaktlinsen getragen, eine Zeit, oder ja, längere Zeit, nicht ständig, und da habe ich lustigerweise dann oft blöde Antworten gekriegt." (Interview I, Seite 4)

Obwohl Petra wie bereits beschrieben keine "klassischen" Erkennungszeichen sehgeschädigter Menschen trägt, wird ihre Lage durch ihre starken Brillengläser von Passanten in dieser Situation offenbar richtig eingeschätzt, sodass sie adäquate Reaktionen im Sinne intervenierender Kompensation erfährt.

Darüber hinaus stellt die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Petra keine weiteren Hürden dar. Zwar meint sie, dass es ihr etwa nicht möglich sei, Fahr- oder Übersichtspläne zu lesen, doch meint Petra dazu:

"[Ich] frage mich durch, schon seit (...) Jahren. Also ich (...) habe immer eine Lupe mit (...), aber bevor ich mich da irgendwo hinstelle und versuche was zu lesen, frage ich." (Interview I, Seite 3)

Wenn Petra mit Wegbeschreibungen von anderen Personen nicht gut zurecht kommt, zumal sich deren Beschreibungen oftmals an nur für sehende Personen erkennbaren Details, wie etwa Straßenmerkmalen oder Schildern orientieren, fragt sie öfters nach.

Im Gesprächsverlauf schildert Petra jedoch auch Situationen, in denen ihre Sehbehinderung und ihre Brille zu Diskriminierungstendenzen im Umgang mit anderen Passanten oder Fahrgästen führen:

"Es kommt darauf an, was jemand sagt und wie schnell man unterwegs ist. (...) Viele Leute sagen ja, können Sie nicht schauen? Und ich sage oft, das liegt nicht am Schauen, sondern am Sehen, ich sehe es einfach nicht besser. Es kommt darauf an, wenn jemand (...) was sehr Dummes sagt, dann ärgere ich mich oder (...) früher habe ich mich auch gekränkt. (...) Jugendliche glauben oft, sie müssen lustig sein und sagen, wie viele Dioptrien (...) haben Sie? 100, haha." (Interview I, Seite 4)

Weiteren strukturellen Barrieren begegnet Petra in Form von Rolltreppen, wenn dazugehörige Lifte außer Betrieb oder überhaupt nicht vorhanden sind. Für sich alleine bezeichnet sie diese zwar als Gewohnheitssache und impliziert damit, dass sie gelernt hat, mit ihrem Sehvermögen Rolltreppen sicher benutzen zu können, doch wenn sie mit einem Kinderwagen unterwegs ist, fühlt sich Petra sehr unsicher. Sie meint dazu: "Also mit einem Kinderwagen auf derRolltreppe ist furchtbar, da krieg ich Schweißausbrüche." (Interview I, Seite 5)

Im Gespräch reflektiert Petra mehrmals darüber, wie sie auf andere Menschen in ihrer Umgebung wirkt. Grundlage dieser Bewertung ist die Annahme, dass ihre Sehbehinderung, oder Indizien dafür wie etwa ihre starke Brille, aus größerer Entfernung nicht immer wahrgenommen werden. Vor allem in Zusammenhang mit ihren Kindern kommt sie dabei zum Schluss, oft als übervorsichtige Mutter eingeschätzt zu werden. Sie begründet dies anhand einer Situation, in der sie mit ihren Kindern auf dem Spielplatz ist:

"[Meine Sehbehinderung] ist was, wo ich weiß, das haben andere nicht. Die sitzen am Spielplatz am Bankerl und schauen ihren Kindern zu. Das kann ich nicht, sondern ich muss immer wirklich relativ nah dahinter sein, wo sicherlich viele sich denken, ich bin irgendwie eine überbesorgte Mami, die da neben dem Klettergerüst steht. (...) [Es] liegt einfach daran, dass ich das dann nicht mehr wahrnehme, weil der irgendwo auf die Seite rennt." (Interview I, Seite 1)

Obwohl sich Petra im Straßenverkehr alleine recht sicher fühlt, da sie ihre Sehbehinderung durch ein hohes Ausmaß an Aufmerksamkeit zu kompensieren versucht, bedeutet das Spazierengehen mit ihren Kindern doch eine gewisse psychische Belastung, denn "mitkleinen Kindern ist es, glaube ich, manchmal jetzt auch nicht ungefährlich, weil die rennenirgendwo hin und ich kann höchstens einem wirklich gescheit nachschauen." (Interview I, Seite 1)

Petra relativiert ihre Aussage jedoch, indem sie feststellt, dass ihr Sohn bereits über ihre Sehbehinderung Bescheid wisse und damit eine Rücksichtnahme durch den Sohn impliziert, die sich beispielsweise darin äußert, dass ihr Sohn Orientierungsaufgaben oder die Identifikation von Verkehrsmitteln übernimmt, ihre Tochter sei dagegen noch zu jung dafür.

Abseits räumlicher Mobilität stößt Petra mehrmals auf technische und gesellschaftliche Barrieren. In ihrer Freizeit besucht sie gerne Kino- oder Theatervorstellungen. In beiden Situationen fühlt sie sich zum Teil unwohl, wenn sie alleine unterwegs ist, weil sie sich bis zu Vorstellungsbeginn nicht sicher sein kann, den richtigen Platz eingenommen zu haben. Im Konzerthaus "findet man ja dann jemanden, der einem hilft, aber wenn ich nicht frage, habeich bis das Konzert anfängt und rundherum alle sitzen, oft das Gefühl, ich könnte falschsein." (Interview I, Seite 12)

Im Kino dagegen "krieg ich immer einen Stress, wenn ich weiß, (...) wir sind etwas spät dran, weil wenn es dunkel wird, ich finde keine Reihe, absolut nicht, und heutzutage findet man ja keinen, der steht und einem da irgendwie weiterhilft." (Interview I, Seite 12)

Im ersteren Fall vermag Petra die Situation kraft intervenierender Kompensation zu meistern, während sie sich im Kino-Szenario eine ebensolche wünschen würde, welche jedoch durch Personalverringerung offenbar nicht mehr gegeben ist: "Da gibt es diese großen Eingängeund dann, den Rest macht man selber." (Interview I, Seite 12)

Petra würde in ihrer Freizeit auch gerne Schwimmen oder Radfahren. Aufgrund ihrer Sehbehinderung ist ersteres nur in einem größeren See - und damit geringerer Kollisionswahrscheinlichkeit mit anderen Badegästen - und letzteres ausschließlich auf dem Tandem möglich. Dagegen betreibt sie gerne Nordic Walking und experimentiert seit einiger Zeit mit einem eBook-Reader, welcher die Schrift auf ein für Petra akzeptables Niveau vergrößern kann, und damit ihren Wunsch nach in größerer Schrift gedruckten Büchern nachkommt. Hörbücher konsumiert Petra dagegen nicht.

Beim Einkaufen, beim Bäcker etwa oder an der Feinkosttheke kritisiert Petra die in den Geschäften untereinander oftmals unterschiedlichen Bezeichnungen für Backwaren, welche ein Auswendiglernen erschweren und sie dazu zwingen, näher nachzufragen:

"[Die] großen Bäckereien in Wien haben für ihre Kornweckerl oder sonstigen Sachen Namen und die heißen bei jedem anders. Und wenn ich zum Felber gehe und sage, haben Sie das mit Sonnenblumen, na, ist das der Felix oder der Korn-Dingsbums (...) Jemand anderer schaut, sieht, wie das heißt, und sagt, geben Sie mir drei Sowieso, und aus irgendeinem Grund ärgert mich das, weil ich dann oft beim Mann [eine Bäckerei d.Verf.] stehe und sage, ich hätte gern ein Knusperstangerl und die sagt, das haben wir nicht, bei uns gibt es nur das, das, das, das (...)" (Interview 1, Seite 7)

Hier beschreibt Petra eine dem ersten Augenschein nach technische Barriere in Form von zu klein geschriebenen - oder zu weit vom Kunden entfernt platzierten - Produktbezeichnungen. In ihrer Aussage geht sie jedoch gar nicht darauf ein, dass größere Beschriftungen vielleicht helfen könnten. Sie kritisiert vielmehr das Festhalten des Verkaufspersonals an einer ausschließlich nominalen Diversität für offenbar ein und dasselbe Produkt, gleichsam eine gesellschaftliche Barriere.

Diese Barriere könnte für Petra schließlich durch Normierung der Produktbezeichnungen auf strukturellem Wege kompensiert werden. Der Wunsch nach Normierung lässt sich auch in Petras Reaktion auf die gegebenen Umstände erkennen:

"[Ich] gehe meistens zu den gleichen zwei Geschäften, weil sie in der Nähe sind und ich weiß nicht, ob mich die kennen, aber es hat noch niemand irgendwas gesagt (...)." (Interview I, Seite 7)

Am Arbeitsplatz wussten manche von Petras Kolleginnen und Kollegen durch die behindertengerechte Arbeitsplatzausstattung - dies war ein großer Computerbildschirm und Vergrößerungssoftware - prinzipiell über Petras hochgradige Sehbehinderung Bescheid. Die Natur von Petras Sehbehinderung sorgte jedoch für Irritationen, welche sie schließlich im Zuge einer Abteilungsbesprechung vor dem Kollegium thematisierte:

Zunächst erfüllte Petra offenbar nicht die Erwartungen des Kollegiums an eine sehbehinderte Mitarbeiterin, woraufhin der geringen Sehkraft geschuldete Einschränkungen nicht mehr mit dieser, sondern mit Petras Charakter erklärt wurden:

"[Wenn] ich jetzt nicht, weiß ich nicht, ungespitzt in jeden Türrahmen renne, sondern mich eigentlich ganz gut zurecht finde und auch in der Arbeit ganz normal funktioniere und [meine KollegInnen] (...) [meine Behinderung] irgendwie nicht mehr bei mir dazu gedacht haben. (...) [Wenn], was dann eben leicht passiert ist (...) jemand weiter weg ist und sagt, na, die Frau Petra ist sich aber auch zu gut zum Grüßen. (...) [Das] sagen sie einem ja nicht selber, (...) irgendwann kriegt man das mit über Dritte." (Interview I, Seite 11)

Diese Erfahrungen führten für Petra jedoch nicht zu sozialem Ausschluss. Vielmehr meint sie im Gespräch relativierend, dass es in jedem Büro "Dumpfbacken" gäbe, welche sich über Frisuren, Kleidung, und bei ihr eben über ihre Sehbehinderung amüsieren würden: "[Ich]glaube, es war wirklich lächerlich, ich bin immer mit allen gut ausgekommen." (Interview I, Seite 11)

Diese Einschätzung kontrastiert Petra jedoch mit einer Erzählung aus ihrer Studienzeit, wo sie in den Hörsälen immer alleine gesessen ist, obwohl sie das Gefühl hatte, sie müsste "damindestens zehn Leute herinnen kennen." (Interview I, Seite 11)

Petra hatte Lehramt studiert, doch sie meint, dass ihr auf dem Weg zur Anstellung als Lehrerin ob ihrer hochgradigen Sehbehinderung wahrscheinlich viel Diskriminierung entgegen gebracht worden wäre. Sie schildert dies am Beispiel einer ebenfalls sehbehinderten, und nunmehr als Volksschullehrerin tätigen Bekannten. Petra selbst wäre gerne Volksschullehrerin geworden - sie meint, sie wäre pädagogisch sicherlich gut dafür geeignet, doch könne sie aufgrund ihrer Sehbehinderung keine Klassenaufsicht haben: "Da muss mansich selber ehrlich sein, ich sehe nur bis in die zweite Reihe ordentlich, also es geht nicht." (Interview I, Seite 14)

Mit ihrer gegenwärtigen Arbeit im staatlichen Umfeld ist sie jedoch sehr zufrieden. Sie schätzt es, neben der Bürotätigkeit auch Seminare halten zu dürfen. Zur Zeit des Interviews befand sich Petra jedoch gerade in Karenz.

6.1.1.1 Zusammenfassung

Petras Restsehvermögen ist, gemessen an den anderen Gesprächspartnern vergleichsweise groß. Sie kommt daher im Alltag recht gut zurecht, was sich etwa darin äußert, dass Petra öffentliche Verkehrsmittel ohne größere Hilfestellungen benutzen kann, und ihre Wege ohne Training zurücklegt.

Die von ihr eingesetzten Hilfsmittel, vor allem zwei Lupen, finden ausschließlich für feinere Details, etwa dem Lesen von Plänen Verwendung.

Dennoch erlebt Petra Einschränkungen in ihrer Berufswahl, bei ihren Freizeitaktivitäten und beim Einkaufen. Mit manchen davon, etwa dass sie keine Anstellung als Lehrerin bekommt, hat sie sich arrangiert, während sie anderen Barrieren vor allem mit intervenierender Kompensation begegnet, indem sie Passanten, Fahrgäste oder Verkäufer anspricht und um Hilfe bittet.

Bestehende strukturelle Maßnahmen zur Kompensation nutzt sie kaum und dort, wo diese nicht ausreichen, zieht sie die Möglichkeiten intervenierender Kompensation vor.

6.1.2 Verena

Verena, 52, ist mit einem sehenden Mann verheiratet, Mutter von drei Kindern und seit 1997 in Frühpension. Ihre Ausbildung absolvierte sie zunächst am Bundesblindeninstitut. Später erlangte sie die Matura in Abendlehrgängen, mit dem Ziel, ein Studium der Translationswissenschaften zu beginnen.

Verenas Restsehvermögen ist sehr gering - früher reichte es allenfalls aus, um große, kontrastreiche Schrift bei guten Lichtverhältnissen zu lesen, die Sehkraft hat jedoch im Verlauf der Zeit weiter abgenommen, sodass Verena den Status Quo nunmehr wie folgt beschreibt:

"[Momentan] ist es so, dass ich so ein bisschen Licht und Schatten (...) sehe, aber es wechselt sehr stark. An manchem Tag ist alles eigentlich ziemlich schwarz und dunkel und (...) an manchen Tagen ist es ein bisschen besser, dass ich (...) erkennen kann, wo eine Straße verläuft." (Interview VII, Seite 1)

Verenas Restsehvermögen fällt damit deutlich geringer aus als jenes von Petra. Vom gesetzlichen Standpunkt aus gesehen, gilt sie als blind.

Im öffentlichen Raum findet sich Verena mit ihrem Taststock nur auf ihr bekannten Wegen zurecht. Im Gegensatz zu Petra ist ihre Sehkraft in aller Regel zu gering, um damit selbst rudimentäre Orientierungsaufgaben zu bewältigen.

Außer den Taststock verwendet Verena jedoch keine weiteren Hilfsmittel, die ihr bei der Orientierung behilflich sein könnten. Auf manchen Wegen kann sich Verena orientieren, da sie sich genügend Anhaltspunkte einprägen konnte, als sie noch über einen größeres Restsehvermögen verfügte. Wenn Verena dagegen ihr noch unbekannte Wegstrecken bewältigen muss, so fragt sie meist andere, ihr bekannte Personen um Hilfe:

"[Wenn] es irgendwie geht, schaue ich halt, dass mir irgendwer hilft. (...) [Wenn] ich weiß, dass ich den Weg öfter gehen werde müssen, auch alleine, dann schaue ich, dass ich mir den halt wirklich erklären lasse und einpräge, weil so, wenn ich nur mitlaufe, also merke ich mir das überhaupt nicht. Das finde ich dann nicht wieder. Ja. Also hauptsächlich von Freunden oder Angehörigen (...)" (Interview VII, Seite 1)

Für den Fall, dass eine solche Hilfestellung nicht bereit stünde, würde Verena auf ein Taxi ausweichen. Hierin lässt sich Verenas Präferenz für intervenierende Kompensationsmöglichkeiten erkennen, von denen sie wiederum institutionalisierte Ausprägungen bevorzugt: Verena gibt etwa an, dass sie gerne Freizeitassistenz in Anspruch nehmen würde, wofür ihr jedoch nach eigenen Angaben aufgrund ihrer Pensionierung keine Förderung mehr zugestanden wird. Die Freizeitassistenz vergleicht sie mit einer Dienstleistung und kontrastiert sie mit dem Gefallen, den ihr Freunde und Angehörige erweisen würden, wenn sie ihr helfen:

"[Die Freizeitassistenz] ist halt vom Gefühl her, wenn man weiß, man hat wen, der wird bezahlt dafür, und das ist halt eine Arbeit, ist es natürlich leichter, zu sagen, ich brauche dich um die und die Zeit als wenn man irgendwen (...) bitten muss." (Interview VII, Seite 2)

In dieser Situation kommt für Verena eine an sich selbst gestellte Erwartung von Reziprozität zum Vorschein. Jedoch ist sie der Meinung, für die Hilfsleistung keine Gegenleistung erbringen zu können, obwohl sie dies gerne tun würde. Daher richtet Verena ihren Tagesablauf oft nach anderen Personen aus, wenn sie diese um Unterstützung fragen muss.

Die Freizeitassistenz dagegen würde eine monetäre - wenn auch vom Staat erbrachte - Gegenleistung bedeuten, sodass Verena die Unterstützung ohne den Gedanken an nicht erfüllte Reziprozität genau dann beanspruchen kann, wenn es für sie am besten erscheint. Dahinter steht für Verena der Wunsch nach Autonomie in der Lebensgestaltung.

Diese Autonomie wird durch die Notwenigkeit eingeschränkt, dass sich Verena verpflichtet fühlt, sich an den Tagesabläufen der sie unterstützenden Personen zu orientieren.

Während also strukturelle bzw. individuelle Kompensation potentiell für ein hohes Maß an Autonomie sorgen könnte, trifft dies auf intervenierende Kompensation offenbar nur dann zu, wenn sie in einem institutionalisierten Kontext - etwa einem Dienstleistungsvertrag - geboten wird, da ihre Verfügbarkeit andernfalls nicht vorhersehbar ist oder wie im zitierten Falle Erwartungshaltungen an reziprokes Verhalten geweckt werden, die nicht immer erfüllbar scheinen, und die dadurch für die hilfsbedürftige Person belastend wirken können.

Strukturelle Kompensation dagegen nutzt Verena nur in sehr eingeschränktem Ausmaß: taktile Streifen an Bahnsteigkanten geben ihr die Sicherheit, nicht auf die Gleise zu stürzen. An Kreuzungen schätzt sie akustische Ampeln und - sofern vorhanden - Leitstreifen, welche über die Straße führen. Dies ist für sie vor allem bei schiefwinkeligen und komplexen Kreuzungsgeometrien wichtig, damit sie sicher den gegenüber liegenden Gehsteig erreicht. Sind Kreuzungen oder andere schwierige Verkehrssituation nicht mit solcherart strukturellen Kompensationsmerkmalen ausgestaltet, so bittet Verena oftmals Passanten, ihr zu mitzuteilen, wann beispielsweise die Ampel grün zeigt.

Öffentliche Verkehrsmittel, insbesondere U-Bahnen und Straßenbahnen, bieten für Verena zu wenig strukturelle Kompensationsmaßnahmen. Sie kritisiert vor allem die schlechte Auffindbarkeit der Türen, von denen sich Verena wünschen würde, dass sie an der Haltestelle automatisch aufgingen, oder zumindest einen Signalton von sich gäben, um den Einstieg leichter zu finden.

Darüber hinaus kritisiert Verena das leise Fahrgeräusch moderner Niederflur- Straßenbahngarnituren, welche folglich im Verkehrslärm schwer wahrnehmbar sind, was ein Unfallrisiko beim Überqueren von Straßen darstellt. Überdies sind die Straßenbahnen dieser Bauart ohne weitere akustische Signale auch beim Einfahren in Haltestellen kaum wahr zu nehmen - eine Einschätzung, die von mehreren Gesprächspartnern geteilt wird.

"Bei der Straßenbahn ist es so, dass die neuen, (...) die Niederflur, zwar angenehmer zum Einsteigen sind. (...) [Doch bei] den Haltestellen, die oben auf der Straße sind und wo die Schienen in der Mitte von der Fahrbahn sind, hört man die oft schlecht, die Straßenbahn. Die höre ich oft erst, wenn die Türe aufgeht, dass da eine Straßenbahn ist." (Interview VII, Seite 6)

In diesem Falle hatte also der technische Fortschritt in der Fahrwerkskonstruktion von Straßenbahnen die nicht intendierte Folge, dass sich blinde und sehgeschädigte Menschen größeren Unannehmlichkeiten und Risiken ausgesetzt sehen, die Verena als "ziemlicheStresssituationen" (Interview VII, Seite 5) beschreibt.

Auch für Verena stellen die elektronischen Anzeigen der Liniennummern wie für Petra eine Barriere dar, da sie durch den geringeren Kontrast im Vergleich zu den älteren Ausführungen, einer aufgemalten Liniennummer mit Hintergrundbeleuchtung, für sie nicht mehr wahrnehmbar ist.

In solchen Fällen wendet sich Verena an Passanten oder an die Fahrer, um zu fragen, welche Linie sie fahren. Doch fügt sie hinzu:

"Manchmal muss man sie auch dreimal fragen, bis sie überhaupt reagieren. Die [Fahrer d.Verf.] sind so versunken in irgendwas." (Interview VII, Seite 5)

Dieses nachdrückliche Einfordern von Auskunft bildet einen auffälligen Kontrast zum Fragen nach Unterstützung im Freundes- und Verwandtenkreis, dem Verena die Möglichkeit der Freizeitassistenz vorziehen würde. Die Ursache liegt wohl darin, dass Verena, durch ihren Blindenstock als hilfsbedürftig erkannt wird und ihr gleichfalls oft unpässliche, oder gar völlig unerwünschte Hilfestellungen angeboten werden:

"[Es gibt] halt auch Leute, die glauben, sie wissen, wie sie einem helfen und stülpen das eigentlich direkt über, wie sie helfen wollen. Da muss man sich direkt wehren dagegen." (Interview VII, Seite 5)

Weiters scheint sich die Norm der Reziprozität für Verena in diesen Sozialkontakten schon beinahe beiläufig zu erfüllen, sodass sie sich selbst nicht mehr in der Rolle einer Bittstellerin sieht, sondern beispielsweise durch ihr Zuhören eine anerkannte Gegenleistung erbringt:

"Und (...) manchmal hat man das Gefühl, dass einem Leute helfen, weil sie einfach mit wem reden wollen. Also die erzählen einem dann zwischen zwei U-Bahn-Stationen die halbe Lebensgeschichte. (...) Ja, aber das macht in dem Sinne nichts." (Interview VII, Seite 4)

Andererseits erzählt Verena auch von Menschen, die ihrem Empfinden nach Berührungsängste haben und sehr unsicher im Umgang mit blinden Personen sind, wie sie am Beispiel eines kurzen Gesprächs in einer Straßenbahn erörtert:

"Also eine [Dame] hat mich einmal in der Straßenbahn niedersetzen lassen. Die war ganz lustig, und dann hat sie gesagt beim Aussteigen: ‚Auf Wiedersehen und einen schönen Abend! Aber kann ich Ihnen das überhaupt wünschen?' habe ich gesagt: ‚Warum nicht?' Also die hat irgendwie das Gefühl, man kann gar nicht irgendwas Schönes haben, weil man nichts sieht!" (Interview VII, Seite 4f)

Für Verena steht in dieser Schilderung die Berührungsangst sehender Personen im Mittelpunkt. Bezogen auf ihr eigenes Leben befindet sie die Aussage als unzutreffend.

Im Umgang mit Passanten und Fahrgästen resümiert Verena schließlich, dass sie, wenn sie sich mit ihrem Blindenstock im öffentlichen Raum bewegt, stets ausreichend Unterstützung erhält. Sie berichtet über keine außerordentlich negativen Erlebnisse und relativiert Unannehmlichkeiten, wie etwa das Aufdrängen von Hilfeleistung.

Grundsätzlich bevorzugt Verena die Möglichkeiten intervenierender Kompensation, auch wenn sie diese für intensivere Aufgaben, etwa das Erlernen neuer Wege, lieber in einem stark institutionalisierten Rahmen in Anspruch nehmen würde.

Dadurch, dass sie etwa im Gegensatz zu Petra mit dem Blindenstock unterwegs ist, wird sie von Passanten schnell als blinde Person und damit assoziiert als hilfsbedürftig erkannt, sodass ihr oftmals Hilfe angeboten wird, ohne dass Verena explizit danach gefragt hätte. Von beleidigenden Kommentaren, wie sie Petra mit ihren sichtbar hochbrechenden Brillengläsern widerfahren, berichtet Verena nicht.

Durch ihre auf intervenierende Kompensation ausgerichtete Mobilitätsstrategie produziert Verena in der Fremdwahrnehmung - das Annehmen von Hilfeleistungen entspricht der Erwartungshaltung einer Person, welche diese Unterstützung anbietet - keine Irritationen und sieht sich daher auch nicht jenen Konflikten ausgesetzt, die an späterer Stelle thematisiert werden sollen.

Das Einkaufen übernehmen meist sehende Familienmitglieder, doch geht auch Verena selbst manchmal alleine einkaufen. Wie fast alle meiner Gesprächspartnerinnen und -partner bedauert sie das Aussterben kleiner Greißlereien, welche quasi als höchst institutionalisierte Form intervenierender Kompensation beim Einkaufen angesehen werden können.

Verena hat keinen Greißler in ihrer Wohngegend und ist daher auf Selbstbedienungsmärkte angewiesen. Sie beschreibt bei dieser Art des Einkaufens eine Reihe von Problemen und Schwierigkeiten: während die Auswahl von Obst und Gemüse - beim Abwägen bittet Verena an der Kassa um Hilfe - auch mit Tast- und Geruchssinn gut bewerkstelligt werden kann, fragt Verena bei der Auswahl von sonstigen Produkten andere Kunden. Im Gespräch erwähnt Verena auch, dass ihr das häufige Umschlichten des Warensortiments "auf die Nerven [geht]und das habe [sie] auch schon ein paar Mal deponiert." (Interview VII, Seite 11)

Hier bringt Verena zum Ausdruck, dass es für sie mühsam ist, stets die neue Lage von Waren, die sie täglich einkauft, zu erlernen. Ähnlich wie Petra würden ihr Normierung (in diesem Falle: der Warenaufstellung) und Kontinuität dabei helfen sich beim Einkaufen rascher zurecht zu finden. Hier kommt Verena auch wieder auf die persönliche Assistenz zu sprechen, welche beim Einkaufen "schon ganz praktisch [wäre]." (Interview VII, Seite 15)

Verena könnte sich alternativ vorstellen, dass ihr ein Gerät, welches Barcodes lesen könnte, beim Einkaufen behilflich wäre, indem sie auf diese Weise die wichtigsten Produktmerkmale wie Sorte, Preis, Gewicht, Haltbarkeitsdatum feststellen könnte.

Einkäufe über das Internet tätigte Verena noch nicht, denn das macht ihr Sohn für sie. Zwar beginnt sie sich seit kurzem via Screenreader mit dem Internet vertraut zu machen, doch:

"[Ich habe] meistens nicht die Geduld, dass ich so lange drinnen bleibe, bis ich dort bin, wo ich die Information kriege, die ich eigentlich will, weil da kriegt man immer so hundert tausend Werbungen." (Interview VII, Seite 12)

Wenn Verena das Internet nutzt, weicht sie oft auf Webseiten für mobile Endgeräte aus. Diese seien aufgrund des kleinen Ausgabeformats weniger komplex aufgebaut, mit weniger Werbung versehen, und daher übersichtlicher zu navigieren. Nachrichten und andere gesellschaftlich, kulturell und politisch relevanten Informationen bezieht Verena dennoch lieber aus Radiosendungen.

Durch den Verzicht auf häufige Internetnutzung muss Verena auch des Öfteren den Weg zu verschiedenen Behörden nehmen. Fast alle Gesprächspartner betonen, dass viele Behördenwege via Internet erledigt werden können, was für sie eine große Erleichterung darstellen würde. Voraussetzung dafür ist natürlich Erfahrung mit den nötigen Technologien - der Umgang im Web, sowie das Benutzen von blindenspezifischen Ausgabegeräten wie Screenreader-Software und Braillezeile. Diese Voraussetzungen sind bei Verena nicht erfüllt, sodass sie die Behörden oftmals persönlich aufsucht.

An dieser Stelle beschreibt Verena, dass diese Behördenwege früher einfacher waren, als in den Amtsgebäuden noch mehr Portiere im Dienst waren. Diese Person war für Verena die erste Kontaktstelle, der sie ihr Anliegen benennen konnte und ihr dann weitergeholfen wurde. Verena verfolgt diese Strategie weiterhin, doch haben sich durch die Entwicklung der letzten Jahre neue Barrieren für sie ergeben:

"[Bei] der MA7, wo man um die Kulturförderung ansuchen muss, (...) kenne ich die Sekretärin gut und die rufe ich immer an, wenn ich hinkomme und die holt mich dann vom Eingang ab, weil dort haben sie auch keinen Portier mehr. (...) [Da] muss man bei einer Sprechanlage anläuten, also man kommt nicht mehr so einfach rein, (...), das ist halt auch schwieriger, wenn man es nicht sieht. Aber eben dadurch, dass ich die gut kenne, ist das nicht so ein Problem, weil da rufe ich an und die holt mich vom Eingang ab, aber sonst -, ja, weiß ich nicht, ist das natürlich schon schwierig, (...) [da] muss man halt warten, bis irgendwer rauskommt und fragen und dir reinhilft." (Interview VII, Seite 12)

In Bezug auf ihre ehemalige Arbeitsstelle erzählt Verena, dass sie lieber Übersetzerin als Gesprächsvermittlerin und Sachbearbeiterin in einer Beschwerdestelle geworden wäre. Verena hatte dazu geplant, ein entsprechendes Studium zu beginnen und bereits vorab die Matura nachgeholt, doch letzten Endes erlebte sie im Studium zu viele Barrieren, sodass sie es wieder aufgeben werden musste:

"Ich habe es probiert mit Romanistik, aber die haben dann immer die Vorlesungen verlegt und verschoben und wenn man diese Aushänge nicht lesen kann und eigentlich nicht so viel Zeit hat, dass man den ganzen Tag auf der Uni irgendwie herumgeht, ist das ein bisschen mühsam gewesen." (Interview VIII, Seite 22)

Das häufige Verlegen von Vorlesungen läuft dem Erfordernis nach Planbarkeit und Kontinuität zuwider, sodass Verena ihren Studienalltag nicht in einem für sie nötigen Maße strukturieren konnte. Gleichzeitig wurde sie durch die unpassende Form der Aushänge aus dem Kommunikationsprozess ausgeschlossen.

Die Unzufriedenheit im Beruf und die Unmöglichkeit, ihren Wunschberuf auszuüben, haben für Verena schließlich zur Entscheidung geführt, in die Pension zu gehen.

Verena beschreibt in diesem Zusammenhang ein ambivalentes Verhältnis zum technischen Fortschritt.

Sie kann sich mit den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln durchaus vorstellen, dass sie als Übersetzerin hätte arbeiten können. Diese Hilfsmittel gab es damals jedoch noch nicht, und so kommt der Technik in diesem Kontext eine sehr emanzipierende, Autonomie begründende Funktion zu. Andererseits schildert Verena, wie ihr Arbeitsplatz nach ihrer Rückkehr aus der Karenz auf Computerbetrieb umgestellt wurde und damals das Fehlen von Vergrößerungssoftware die weitere Arbeit unmöglich machte. In diesem Zusammenhang kann technische Entwicklung also auch sehr stark exkludierend wirken.

Über ihre damaligen Arbeitskolleginnen und -kollegen berichtet Verena, dass sich viele aufgrund ihrer Sehbehinderung nicht vorstellen konnten, mit ihr zusammen zu arbeiten, und dies auch offen äußerten.

Obwohl keiner der anderen Gesprächspartnerinnen und -partner über derartig offene Diskriminierungserfahrungen in aktuellen Beschäftigungsverhältnissen berichteten, werden in einigen weiteren Fallbeschreibungen diskriminierende Strukturen aufgezeigt, welche zumindest auf einer systemischen Ebene nach wie vor in Unternehmen vorherrschen und dem Integrationsgedanken letztlich im selben Ausmaß zuwider laufen.

In ihrer Freizeit geht Verena vor allem ihrer Tätigkeit in einem Kulturverein nach. Sie ist dort im Moment das einzige blinde Mitglied. Mit den anderen Mitgliedern versteht sich Verena überwiegend gut, kann mit ihnen in Projekten zusammenarbeiten,und fühlt sich durch ihre Blindheit im Großen und Ganzen nicht vom Vereinsleben ausgeschlossen. Jedoch erzählt Verena auch von einigen Personen im Verein, die ihre Einschränkung "selbst nichtaushalten." (Interview VIII, Seite 18)

"[Die Menschen] macht das nervös, zum Beispiel wenn man irgendwo anstößt und das Glas ruckt um einiges weg oder geht zum Tischrand hin. Wenn man ein Messer in die Hand nimmt und man schneidet." (Interview VII, Seite 18)

Solchen Distanzierungstendenzen durch sehende Personen begegnet Verena mit der Organisation bewusstseinsbildender Maßnahmen. Sie erzählt beispielsweise, wie sie einen Töpferkurs für sehende und blinde Menschen angeboten hatte, der in völliger Dunkelheit stattfand. In diesem Setting konnten sehende Personen einen Eindruck von Blindheit erlangen, und "[die sehenden Teilnehmer d.Verf.] fangen eben dann auch an zu fragen (...) - was sievorher vielleicht nicht täten." (Interview VIII, Seite 16)

Mit diesen Fragen meint Verena, dass sich Sehende beim Töpfern im Dunkeln nach anfänglicher Skepsis gut an die ungewohnte Situation anpassen, und sich daraufhin auch mit Problemen von Menschen mit Sehschädigung nunmehr aus deren eigener Perspektive heraus zu beschäftigen beginnen. Bewusstseinsbildung, wie sie Verena unter derartigen Projekten versteht, baut also Berührungsängste von Sehenden gegenüber sehgeschädigten und blinden Personen ab.

Im Verlauf des Interviews erwähnt Verena mehrmals anhand verschiedener Beispiele, etwa wechselnder Regalgestaltung im Supermarkt, dass sie auf Barrieren und Schwierigkeiten für sehgeschädigte Menschen aufmerksam macht. Politisch möchte sie sich jedoch nicht engagieren, da sie zwar gerne konkrete Projekte organisiere und durchführe, jedoch "Sitzungen und Debatten (...) nicht leiden kann." (Interview VIII, Seite 29)

Für Verena findet Bewusstseinsbildung also in sehr konkretem, kontextgebundenen Rahmen statt, wofür sie gerne ihre Freizeit aufwendet. Einen abstrakteren Diskurs darüber lehnt sie jedoch ab.

6.1.2.1 Zusammenfassung

Verena erlangt ihre räumliche Mobilität vor allem auf dem Wege intervenierender Kompensationsformen. Dabei spielt Reziprozität eine große Rolle - Verena fühlt sich, wenn ihr geholfen wird, zu einer Gegenleistung verpflichtet. Bei Passanten oder anderen Fahrgästen erbringt sie diese, indem sie eine gute Zuhörerin ist. Bei Freunden und Verwandten kann Verena jedoch scheinbar keine in ihrer Wahrnehmung adäquate Gegenleistung erbringen, sodass sie sich sehr stark am Tagesablauf anderer orientiert, um nicht zur Last zu fallen. Dies schränkt Verenas Autonomie ein, und sie würde daher gerne Freizeitassistenz als eine stark institutionalisierte Form intervenierender Kompensation in Anspruch nehmen, wo die Gegenleistung vorab ausgehandelt wird und durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen auch erbracht werden könnte.

Trifft Verena vor allem im öffentlichen Raum auf Barrieren und unzureichende Kompensationsmöglichkeiten, so empfindet sie dies als akute Stresssituation.

In ihrem früheren Arbeitsumfeld und in ihrem aktuellen Freizeitumfeld machte und macht Verena des Öfteren Exklusionserfahrungen in dem Sinne, dass sich die Personen von ihr distanzieren, indem sie nicht mit ihr zusammen arbeiten wollen oder dass sie mit Verenas scheinbarer Ungeschicklichkeit, welche in der Fremdwahrnehmung erhebliches Gefahrenpotential birgt, ihrerseits nicht zurechtkommen.

Verena begegnet diesen Exklusionserfahrungen in ihrer Freizeit mit bewusstseinsbildenden Maßnahmen. Diese spielen für Verena eine wichtige Maßnahme zur Reduktion von Exklusionserfahrungen.

6.1.3 Eva

Eva, 40, ist seit ihrer Kindheit als Resultat von Komplikationen eines grauen Stars vollblind und mit einem hochgradig sehbehinderten Mann verheiratet. Ihre Ausbildung absolvierte sie am Bundesblindeninstitut.

Um im öffentlichen Raum mobil zu sein, nutzt Eva einen Taststock, mit dem sie mögliche Hindernisse auf den Wegen ausmachen kann. Jedoch kann sie sich mit dem Taststock wie Verena nur in Bereichen orientieren, welche sie bereits kennt. Für ihr unbekannten Raum oder größere Distanzen nutzt Eva einen Taxidienst. Diesen beansprucht sie jedoch nicht nur aufgrund ihrer Blindheit, sondern weil sie überdies gehbehindert ist, und daher im Sinne von Kompensationsstrategien von Menschen mit Sehschädigung nicht ausschließlich als intervenierende Kompensation betrachtet werden kann. Dennoch versetzt diese Situation Eva in eine Lage größerer Autonomie, da ihr der Chauffeur zur Verfügung steht, wenn sie ihn benötigt. Folglich muss Eva ihren Tagesablauf weniger stark als Verena an anderen Menschen ausrichten, auf deren informelle Hilfe sie angewiesen wäre.

Indes ist Eva eine von drei interviewten Personen, welche keine klare Präferenz für eine der beiden Kompensationsformen zeigt. Sie nutzt sehr gerne strukturelle Kompensationsangebote wie taktile Leitsysteme oder akustische Ampelanlagen, doch wo diese nicht vorhanden sind, wählt sie intervenierende Kompensationsmöglichkeiten, anstatt zu versuchen, auf dem Wege individueller Kompensation, zum Beispiel durch den Einsatz eines GPS-Geräts ans Ziel zu gelangen.

"Also wenn ich eine Straße nicht kenne (...) ist mir das viel zu stressig, da jetzt drei Ampelphasen (...) abzuwarten und zu erraten, wie die Autos vielleicht (...) fahren könnten. Also da bitte ich einfach jemanden, dass er mich rüberbringt und sage halt ziemlich konkret, in welche Straße." (Interview VI, Seite 4)

Eva betont in diesem Zusammenhang mehrmals, dass es einer gewissen Courage bedarf, andere Personen auf der Straße anzusprechen, und sie um Hilfe zu bitten. Diese Courage des Ansprechens fußt auf drei Schwierigkeiten, welche Eva im Umgang mit intervenierender Kompensation erfährt:

Erstens, kann sich Eva durch ihre völlige Blindheit nicht sicher sein, ob sie tatsächlich eine Person anspricht, so sie diese etwa im Straßenlärm nicht sicher ausmachen kann - es besteht also ein großes Maß an Ungewissheit in der Kontaktaufnahme:

",[Ich] stand eben an der besagten (...) Kreuzung und ich wusste, ich habe irgendwie gefühlt halt, dass da jemand neben mir steht oder ich dachte, da steht jemand neben mir und ich habe halt einfach so rüber gesprochen." (Interview VI, Seite 5)

Zweitens betont Eva genauso wie Verena mehrmals im Gespräch, dass viele Menschen Berührungsängste hätten, insofern, dass sie nicht genau wüssten, wie sie eine blinde Person unterstützen könnten, und dass Eva die angesprochenen Personen damit einer Stresssituation aussetzt:

"Sage ich: ‚Entschuldigen Sie', und der hat halt dann gesagt, ‚Ja, was hätten Sie denn gebraucht?' Sage ich: ‚Ich möchte gerne da rübergehen'. (...) Ich hatte das Gefühl, er ist voll fertig, weil er nicht wusste, wie er mir da jetzt eigentlich helfen soll. (...) Ich habe [ihm] dann eigentlich nicht diesen üblichen Blindengriff erklärt, sondern ich habe dann zu ihm gesagt: ‚Wissen Sie was, nehmen Sie mich bei der Hand und dann gehen wir einfach über die Straße und die Sache hat sich!' Ja, und er war dann drüben so erleichtert, dass er das eigentlich -, dass das eh ganz einfach war, ja, weil er sozusagen gesagt hat, na, kann ich Sie noch weiterbringen oder so, nein, da kenne ich mich jetzt schon aus." (Interview VI, Seite 5)

Aus Evas Schilderung dieser Begebenheit geht hervor, dass der benannte Herr vorab vermutlich noch über keinerlei Erfahrung im Umgang mit sehgeschädigten Menschen verfügte. Seine Feststellung, dass der Anspruch an seine Hilfeleistung nicht besonders hoch sei, er ja geradezu erleichtert darüber war, legt den Schluss nahe, dass er in dieser Situation seine fehlenden Erfahrungen, die für ihn eine Ungewissheit über den weiteren Interaktionsverlauf bedeuteten, durch eine Vorstellung von einer anspruchsvollen Hilfsbedürftigkeit sehgeschädigter Menschen ersetzte, und Eva demgemäß als besonders hilflos wahrgenommen hat.

Die Erleichterung über den tatsächlichen Anspruch drückt er nochmals stärker aus, indem er vorschlägt, Eva weiterhin - möglicherweise bis zu ihrem Ziel - zu begleiten.

Die dritte Hürde beim Aushandeln intervenierender Kompensation liegt für Eva in der Ablehnung der erbetenen Hilfeleistung. Dieser Umstand muss sicherlich im Kontext der zuvor geschilderten Stigmatisierungsprozesse gesehen werden, birgt für Eva jedoch sehr profunde Exklusionserfahrungen: "Man kann davon ausgehen, dass, sage halt ich jetzteinmal, 70% nicht reagieren und 30% reagieren (...)." (Interview VI, Seite 5)

Bemerkenswert an Evas Schilderungen über ihren Umgang mit intervenierender Kompensation ist im Vergleich zu Verena das Fehlen des Wunsches, eine Gegenleistung für die Unterstützungsleistung erbringen zu können.

Als mögliche Erklärung dafür kann Evas ehrenamtliches Engagement in einem Verein betrachtet werden. Ziel dieses Vereins ist neben politischen Anliegen für sehgeschädigte Menschen die Intensivierung des Umgangs von blinden, sehbehinderten und sehenden Personen miteinander und untereinander. Hier muss also davon ausgegangen werden, dass Eva grundsätzlich ebenfalls den Wunsch nach Reziprozität hegt, sie diese Reziprozität jedoch bereits in Form von generalisierter Reziprozität im Zuge der Vereinsarbeit erfüllt.

Unsicherheiten im öffentlichen Raum bedeuten für Eva ein sehr hohes psychisches Belastungsmoment. Sie spricht mehrmals Stresssituationen an. Eine solche erlebt sie, wenn etwa ein Auto auf einem Schutzweg parkt. Eva kann dieses Hindernis zwar mit dem Taststock wahrnehmen und auch erkennen, jedoch kann sie für sich keine "günstige" Handlungsweise ableiten:

"[Ich] bin da total in Stress gekommen, weil ich wusste nicht, wie lange ist das Auto? Kann ich jetzt hinten vorbeigehen, soll ich eher vorne vorbeigehen, wenn ich jetzt hinten vorbeigehe, (...) kann [es] sein, dass man vielleicht irgendein anderes Auto streift. Wie weit komme ich da jetzt in die nächste Straße rein? Also das war für mich ein Mords Stressfaktor. Ich war dann sehr froh, dass dann ein Passant gekommen ist und mir geholfen hat." (Interview VI, Seite 12)

Die Situation, welche Eva hier beschreibt, zeigt gleichermaßen die Grenzen gängiger struktureller Kompensationsangebote auf: Ein taktiles Leitsystem, welches von einem parkenden Auto oder jedwedem anderen Hindernis blockiert wird, kann seine Funktion nicht mehr erfüllen. Ungewissheiten, wie sie Eva beschreibt, treten auf, und diese müssen von Betroffenen in Folge auf andere Weise kompensiert werden. In der zitierten Situation hatte Eva das Glück, auf einen Passanten zu treffen - die strukturelle Kompensation wurde also durch intervenierende Kompensation substituiert.

Einkäufe und andere tägliche Besorgungen erledigt Eva in ihr vertrauten Geschäften. Wie bei allen anderen Gesprächspartnerinnen und -partnern waren das früher insbesondere Greißlergeschäfte.

Eva spricht mehrmals von ihren Stammgeschäften, in denen das Einkaufen für sie leichter ist, weil sie dem Personal bekannt ist, und ihr daher auch rasch bei ihren Einkäufen geholfen wird. Dazu geht Eva mit einer Einkaufsliste direkt zur Kassa und deponiert dort ihre Wünsche. Dies vereinfacht zwar das Einkaufen an sich, jedoch fallen viele Aspekte der persönlichen Warenauswahl - die Entscheidung für eine bestimmten Produktgattung, oder das Entdecken neuer Produkte im Sortiment weg. Genauso wie Verena, würde es Eva in einer solchen Situation schätzen, wenn sie die wichtigsten Merkmale von Produkten - Namen, Gewicht, Haltbarkeitsdatum etc. - mit einem Barcodescanner erfassen könnte, um die Einkäufe mit mehr Autonomie tätigen zu können.

Eva würde in diesem Falle also ein größeres Angebot an struktureller Kompensation wünschen. Gegensätzlich dazu kann Evas Erzählung über ihre Einkäufe in Modeboutiquen aufgefasst werden: Auch hier sucht Eva vor allem ihre Stammboutiquen auf, weil der Einkauf von Bekleidung für sie zusätzlich bestimmte ästhetische Vorstellungen - etwa Schnitt oder Farbe - impliziert, welche in Evas Stammboutiquen geteilt werden, und sie sich entsprechend gut beraten fühlt. "Die wissen genau, was ich brauche. Die wissen ungefähr genau, was ichwill, was mir passt." (Interview VI, Seite 24)

In diesem Falle vollzieht sich die intervenierende Kompensation also im Rahmen einer sehr vertraulichen Kundenbeziehung: Eva muss darauf vertrauen, dass ihre ästhetischen Ansprüche an ihre Bekleidung verstanden und an ihrer statt umgesetzt werden. Während sich auch sehende Menschen durchaus beraten lassen, so haben sie im Gegensatz zu Eva die Möglichkeit, Vorschläge abzulehnen, wenn sie nicht ihren Geschmack treffen.

Eva scheint mit dieser Situation gut zu arrangieren - im Gegensatz zu ihrem Wunsch nach mehr struktureller Kompensation in Supermärkten äußert sie in diesem Szenario nichts dergleichen. Falls Eva für sie unbekannte Modeboutiquen aufsucht, so tut sie dies stets mit sehender Begleitung.

Eva geht einer Vollzeitbeschäftigung im öffentlichen Dienst nach. Am Computer arbeitet sie mittels Screenreader und Braillezeile. Daneben bittet sie ihre Kolleginnen und Kollegen bei der Auswahl der passenden Formulare für Antragstellende fallweise um Unterstützung.

Eine weitere Strategie Evas besteht darin, möglichst viel auswendig zu lernen, um den für blinde Menschen aufwändigeren Rechercheprozess abzukürzen. Sie spricht darüber, wie sie die telefonischen Durchwahlen ihres Kollegiums "sowieso alle im Kopf [hat]" (Interview VI, Seite 25) und weiters schildert Eva:

"[Die] sämtlichen Informationen, die wir einfach am Telefon auch zusätzlich geben können, die versuche ich mir auch, wenn es neue Sachen sind, immer wieder zu merken und immer wieder durchzulesen, wenn es was Neues ist." (Interview VI, Seite 25)

Neben struktureller (technische Arbeitshilfen) und intervenierender Kompensation (Unterstützung bei der Auswahl der richtigen Formulare) bedeutet die Arbeit für Eva auch sehr viel individuelle Kompensation durch Auswendiglernen oftmals benötigter Informationen.

Über besondere Diskriminierungserfahrungen berichtet Eva dabei nicht - ebenso wenig wie im Parteienverkehr.

Stattdessen berichtet sie von einer Kollegin, welche beobachtet, wie Parteien oft vergebens versuchen, im Gespräch Blickkontakt mit Eva herzustellen.

"Dann schalten sie meistens natürlich, denken schon, dass es da mit der Visualität irgendwas hat. (...) Also die Leute sind halt einerseits total aufmerksam und total teilweise bewundernd. Ja, oder wie man immer das nennen mag, das ist für sie total ungewohnt." (Interview VI, Seite 25)

Obwohl Eva hier über für sie sehr positive Erfahrungen berichtet, so spricht sie dem Umgang von sehenden Menschen mit sehgeschädigten Personen erneut etwas "Ungewohntes" zu. Dass sie darin jedoch im Gegensatz zur Situation im öffentlichen Raum keinen Stress erlebt, liegt daran, dass sie Situation zumindest für Eva eine bekannte mit wenig Unsicherheiten ist: Sie kennt die Räumlichkeiten, sie hat die wichtigsten Informationen auswendig gelernt, und sie hat Arbeitskolleginnen und Kollegen, die ihr fallweise aushelfen können. Überhaupt scheint Eva mit ihrem sehenden Kollegium nach der Reduktion von Unsicherheiten ein sehr gutes Arbeitsklima zu pflegen:

"Also -, ich möchte die Arbeit (...) nicht missen, weil es mir einfach taugt. Ja. Es taugt mit meinen Kolleginnen, also taugt es mir auch sehr, war natürlich am Anfang auch für beide Seiten schwierig, weil ich bin dort hingekommen und sie haben eigentlich nicht wirklich hundert prozentig gewusst, wie sie mit mir umgehen sollen und ich habe halt auch einen neuen Arbeitsplatz, neue Leute, neue Umgebung, neue Anlage, neue Bedienungssachen, alles halt, alles neu, ja, war für mich völlig ungewohnt und alles." (Interview IV, Seite 26)

Ihre Arbeitsleistung führt Eva dagegen vor allem auf den Stand der Technik zurück - ohne Screenreader-Software und eine Braillezeilenausgabe am Computer wäre die Arbeit für sie nicht denkbar. Damit bestätigt sie Verenas Vermutung darüber, dass durch technologischen Fortschritt Tätigkeiten für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen abseits klassischer Berufsbilder wie dem der Telefonistin bzw. des Telefonisten denkbar sind.

Eva unternimmt in ihrer Freizeit viel mit ihrem Mann gemeinsam, wobei sie feststellt, dass vieles nicht möglich wäre, wenn sie beide blind wären:

"[Mein Mann] ist da halt schon, muss ich sagen, eine sehr große Unterstützung, weil er halt auch viel vom Optischen trotzdem auch noch abfangen kann." (Interview IV, Seite 31)

Der Sehrest ihres Mannes reicht zur groben Orientierung aus, sodass sie gemeinsam ohne weitere Unterstützung Nordic Walking betreiben, wobei ihr Mann mit Musik voraus geht, und Eva ihm folgt.

Auch beim Schwimmen in öffentlichen Bädern verwenden sie ähnliche Strategien, wobei das Paar dem Personal in ihrem Stammbad bereits bekannt ist, sodass auch die Badeaufsicht verstärkt auf sie beide Acht gibt.

Eva und ihr Mann unternehmen darüber hinaus gerne Reisen, vor allem in asiatische Länder. Dabei zeigt sie jedoch auch die von ihr empfundenen Grenzen des Reisens für sehgeschädigte und blinde Menschen auf:

"Was halt eher nicht so geht, ist, sage ich ganz ehrlich, also das würde ich mir halt nicht so trauen, glaube ich, ist so eine landesinnere Reise irgendwo in Thailand, nur [mein Mann] und ich alleine." (Interview VI, Seite 32)

Die Grenzen dieses Individualtourismus manifestieren sich für Eva vor allem in der fehlenden Infrastruktur, und damit auch in der mangelnden Verfügbarkeit struktureller Kompensationsangebote, obwohl sie gleichzeitig aufgrund der von Eva wahrgenommenen Sensibilisierung der Bevölkerung Südostasiens mehr Möglichkeiten für intervenierende Kompensation erkennt:

"[Die Einwohner] gehen irgendwie selbstverständlicher [mit Behinderung] um. (...) Es [gibt] eigentlich kaum (...) Leute, die einem nicht helfen, die wirklich sagen nein oder einfach weitergehen. [Der] Prozentsatz ist schon größer, die [mir da] helfen, als (...) in Wien. Das muss man schon sagen, (...) die wissen zwar jetzt nicht speziell mit der Blindheit was zum anfangen, aber der sieht halt, aha, der sieht nichts, also muss ich ihm halt das oder das zeigen. Das ist so (...) ja, instinktiv eigentlich." (Interview VI, Seite 10)

Zur Reiseplanung suchen Eva und ihr Mann stets ihr Stammreisebüro auf, bei dem sie sich gut aufgehoben fühlen, weil auf ihre Bedürfnisse nach behindertengerechtem Reisen eingegangen wird. Eva schildert in diesem Zusammenhang auch einige Diskriminierungserfahrungen aus der Vergangenheit - etwa die Weigerung, eines Busfahrers, das Paar mit auf die Reise zu nehmen, weil keine sehende Begleitperson anwesend war. Ähnliches passierte Eva und ihrem Mann in einem Hallenbad in Wien, wo man ihnen den Eintritt ohne Begleitperson nur widerwillig gewährte. In beiden Fällen wurde angeführt, dass keine Verantwortung für die Sicherheit der beiden sehgeschädigten Personen übernommen werden wollte.

Weiters engagieren sich Eva und ihr Mann in ihrer Freizeit in einem Verein, der wie bereits bei der Diskussion von Reziprozitätserwartungen neben politischen Interessen der Gemeinschaft von Sehbehinderten und Blinden gemeinsame soziale Aktivitäten von sehenden, sehgeschädigten und blinden Menschen fördern möchte.

6.1.3.1 Zusammenfassung

Eva zeigt keine klare Präferenz für strukturelle oder intervenierende Kompensationsmaßnahmen, auf die sie in ihrem Alltag angewiesen ist. Sie schildert am Beispiel eines auf einem taktilen Leitsystem parkenden Autos die Grenzen gängiger struktureller Maßnahmen, erwähnt gleichfalls jedoch Berührungsängste, welche Barrieren bei nicht institutionalisierter Form intervenierender Kompensation wie beispielsweise Passanten aufbauen.

Durch ihre Vereinstätigkeit und deren integrativem Ansatz setzt sich Eva im Gegensatz zu allen anderen interviewten Personen häufiger mit den Bedürfnissen anderer Betroffener, und damit natürlich auch latent mit ihrer eigenen Beeinträchtigung auseinander. Dies kommt im Gespräch stark zum Ausdruck, indem Eva oftmals von Sensibilisierung, von Bewusstseinsbildung spricht - letzten Endes Prozesse, welche intervenierende Kompensation fördern, wie sie selbst am Beispiel ihrer Urlaube in Südostasien skizziert. Dabei erkennt Eva jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit struktureller Maßnahmen an, wie sie am selben Beispiel erläutert.

Strukturelle Maßnahmen sind es schließlich, welche Eva eine Vollzeitbeschäftigung abseits klassischer Blindenberufe wie ihr Mann Masseure, Telefonisten und Korbflechter bezeichnet, ermöglichen.

Von Diskriminierungs- und Exklusionserfahrungen spricht Eva in zweierlei Zusammenhängen: Unmittelbarer Diskriminierung, etwa dem Versuch, sie von einer Busreise auszuschließen oder Hilfe zu verweigern, scheint sie mit einer gewissen Distanz zu begegnen. Eva spricht über diese Exklusionserfahrungen, indem sie meint, dass "man [mit denErfahrungen] natürlich reifer wird" (Interview VI, Seite 23), diese Situationen also gelassener erleben kann.

Darüber hinaus erlebt Eva unerwartete Barrieren als mittelbare Diskriminierung im öffentlichen Raum als etwas sehr Belastendes. Dieser Stress, der aus Unbestimmtheitspotentialen resultiert, wird durch eine erlebte Gefahrenlage noch zusätzlich verstärkt, wie Eva am Beispiel des auf dem taktilen Leitsystem parkenden Autos beschreibt.

6.1.4 Patricia

Patricia, 38, verheiratet mit einem sehenden Mann, ist blind. In ihrem Studium der Literaturwissenschaften hat sie den Doktorgrad erworben.

Patricia beschreibt ihr Restsehvermögen als Hell-Dunkel Wahrnehmung auf einem Auge, während sie auf dem anderen völlig schwarzsichtig ist. Patricia ist bereits mit einer schweren Sehschädigung geboren worden, sodass sie ihr Sehvermögen mit "einem Raum, in dem es soganz viel Wasserdampf gibt, also wie früher in den Waschküchen oder in einem Badezimmermit ganz viel Wasserdampf, wenn da ganz wenig Beleuchtung drinnen ist" (Interview VII, Seite 1) vergleicht.

Die Funktionalität ihres Sehvermögens reduziert Patricia aktuell auf das Erkennen von Menschen als graue Silhouetten bei Sonnenschein im Freien. Demgemäß benutzt sie im öffentlichen Raum seit acht Jahren einen Taststock zur Orientierung. Zudem wartete Patricia zum Zeitpunkt des Interviews auf ein GPS-Gerät zum Testen. Das bedeutet für Patricia, dass sie im Moment wie Verena oder Eva noch keine unbekannten Wege alleine gehen kann. Durch die Verwendung der GPS-Unterstützung erwartet sie sich ein höheres Maß an Autonomie im öffentlichen Raum. Unbekannte Wege bewältigt Patricia fallweise via Taxi, was als intervenierende Kompensationsstrategie angesehen werden kann. Damit erhält sie ähnlich wie Eva ein höheres Maß an Autonomie als es vergleichsweise von Verena beschrieben wird.

Unbekannte Wege, welche Patricia absehbar öfters benutzen wird, lernt sie, indem sie die Strecke mit einer Vertrauensperson öfters begeht. Das Gehen erfordert für Patricia dabei ständige Aufmerksamkeit. Sie benennt darin zwar keine explizite Einschränkung, doch stellt sie fest, dass es für sie dennoch "ein großer Unterschied [wäre], weil [sie] offenbar früher[als Patricia noch besser gesehen hat, d.Verf.] oft an andere Dinge gedacht habe." (Interview VII, Seite 3)

Grundsätzlich würde sich Patricia im öffentlichen Raum mehr akustische Ampeln wünschen, von denen auf den von ihr benutzten Wegen nur sehr wenige installiert sind. Insbesondere Kreuzungen mit komplexen Verkehrsflüssen wären für sie ähnlich wie für Verena andernfalls nicht zu bewältigen:

"Diese Kreuzung, die kann man nicht überqueren ohne Sehen, weil es Linksabbieger gibt und die Straßenbahn, die sich das freischaltet und so." (Interview VII, Seite 9)

Es gibt also Situationen im öffentlichen Raum, welche Patricia nicht ohne Kompensationsleistungen bewältigen kann. Strukturelle Kompensation, wie sie akustische Ampelanlagen darstellen, birgt für sie jedoch zusätzliches Stresspotential, wenn sie nicht normiert ist:

"Also bei den Ampeln finde ich es schwierig, [da] die ja unterschiedlich chiffriert sind. Also manche haben ja nur so ein lauteres Knackgeräusch, wenn es Grün wird, und manche haben einen anderen Sound. Wenn man jetzt nicht so oft auf diesem Weg unterwegs ist, finde ich das schwierig, (...) dass man sich immer erinnert: Aha, wie ist denn das jetzt, worauf muss ich denn jetzt warten?" (Interview VII, Seite 9)

Diese Normierung bezieht Patricia nicht nur auf die innere Konsistenz struktureller Kompensation, sondern auch in Bezug auf die Außenwirkung, da die angebotenen Kompensationsmöglichkeiten andernfalls zu Konflikten mit nicht Betroffenen führen können, wie Patricia anhand des taktilen Leitsystems erklärt:

"Genau da oben an der U3 Endstation Ottakring gibt es ja eigentlich (...) auch eine Blindenleitlinie, nur leider wurde sie vom Architekten mit (...) diesen runden Kopfsteinpflastern gestaltet, und das wird natürlich nicht erkannt. (...) Ich kann es schon tasten, aber die Sehenden erkennen es nicht und die stellen ihre Marktstandln darüber (...) oder ihre Autos sozusagen und dann komme wieder ich und sage, das muss aber frei bleiben, weil das ist mein Blindenleitsystem." (Interview VII, Seite 9)

Im öffentlichen Verkehr vermisst Patricia vor allem Durchsagen via Außenlautsprecher an den Haltestellen. Ein besonderes Gefahrenpotential stellen hier ähnlich wie für Verena Mittelspur-Straßenbahnhaltestellen dar, bei denen die Fahrbahn bis zur Mitte überquert werden muss, sobald die Straßenbahn einfährt, weil kein Bankett vorhanden ist, auf dem Fahrgäste die Straßenbahn abwarten können.

"Also es gibt etliche solche Stationen, die ich immer wieder benutze, und das sind dann auch noch Stationen, wo man eine Fahrbahn überqueren muss, um zur Straßenbahn zu gelangen. Das heißt, wenn man sich jetzt [in der Linie geirrt hat d. Verf.] oder wenn es einem nicht gelungen ist, einen Passanten zu erwischen, (...) ja, dann muss man eben über die Straße, dann erfährt man, dass das falsch ist und dann muss man wieder zurück, wenn die Straßenbahn schon losfährt und die Autos auch schon losfahren wollen." (Interview VII, Seite 4)

Durch eine Durchsage, welche Linie gerade in die Haltestelle einfährt, könnte Patricia das Nachfragen beim Fahrer und damit fallweise die erneute Überquerung der Fahrbahn bei fließendem Verkehr vermeiden.

Grundsätzlich sieht Patricia die gängigen strukturellen Kompensationsangeboten wie akustische Ampeln oder taktile Leitsysteme nur als Hilfsmittel zur Reduktion von Unbestimmtheit und Gefahrenpotentialen, doch die Möglichkeit einer Raumorientierung und damit auch das Zurücklegen von unbekannten Wegstrecken stellen sie für Patricia nicht dar, "weil es ja dann Abzweigungen gibt." (Interview VII; Seite 9)

In Bezug auf die Organisation des öffentlichen Verkehrswesens kritisiert Patricia ferner die gängige Praxis an Doppelhaltestellen, bei denen die als zweite einfahrende Straßenbahn nicht nochmals am Haltestellenkopf stehen bleibt. Patricia ist sehr verärgert darüber, weil sie stets vorne am Haltestellenkopf einsteigt, um die Fahrerin oder den Fahrer nach der Linie zu fragen. Somit kann sie eine weitere einfahrende Straßenbahn nicht wahrnehmen und versäumt sie, wenn diese nicht nochmals hält.

In dieser Angelegenheit ist Patricia "seit Jahren (...) in Korrespondenz mit den Wiener Linien", welche ihr stets schreiben: "Das funktioniert wunderbar, und es gibt eh diese Dienstanweisung und sie werden ihre Fahrer wieder daran erinnern." (Interview VII, Seite3)

Patricia erläutert, diese Diensteinweisung besage, "dass die Fahrer, wenn sie jemanden mit Taststock (...) oder Schleife sehen, sagen müssten, welche Linie sie sind, und das ist [ihr] jetzt in den acht Jahren, seitdem ich mit dem Stock gehe, genau dreimal passiert." (Interview VII,Seite 3)

Daneben erwähnt Patricia noch ein Ärgernis in Form von Hundekot auf den Straßen. Als noch unangenehmer empfindet sie dabei "die Kommentare, die man manchmal zu hören kriegtsozusagen, dass man ihnen eh nur ausweichen müsste." (Interview VII, Seite 3)

In der Regel schätzt Patricia jedoch, dass ihre Sehbeeinträchtigung von ihrem Umfeld gut wahr genommen wird, wobei der Taststock ein markanteres Zeichen darstellt als die Armbinden, welche sie früher benutzt hat.

Patricia erwähnt in diesem Zusammenhang oft, dass sie ihr, ähnlich wie im Falle Verenas, an Haltestellen unaufgefordert, jedoch ebenso ohne vorheriges Nachfragen, Hilfe aufgedrängt wird. Sie beschreibt diese Situation folgendermaßen:

"[Die Leute] sagen gar nichts, sie fassen mich am Arm. (...) Im ersten Augenblick reagiere ich immer gestresst, weil mich jemand angreift, den ich vorher nicht gesehen habe." (Interview VII, Seite 5)

In einer solchen Situation lehnt Patricia die Hilfestellung generell ab. Sie erklärt, falls sie sich schnell genug fassen kann und entsprechend Zeit ist, dass sie mit der Art des Geführtwerdens nicht zurecht kommt, "wenn jetzt jemand mich nimmt und sich sozusagen bei mir einhängt" (Interview VII, Seite 5)

Im Gegensatz zu Eva möchte sich Patricia als Geführte nämlich gemäß dem Blindengriff "(...) festhalten, [sich] einhängen oder (...) den Arm ergreifen oder die Hand auf die Schulterlegen." (Interview VII, Seite 5)

Mit dieser Form der Ablehnung sorgt Patricia teilweise für Irritation, indem sie die Erwartungshaltungen hilfsbereiter Personen nicht erfüllt. Patricia versucht dem mit höflichem, sachlichem Auftreten zu begegnen, resümiert jedoch:

"Also ich bemühe mich dann eh immer, mich recht dafür zu bedanken und sage dann eh immer, dass das ganz toll ist, dass sie so aufmerksam sind und so nett sind und so, aber wenn das jetzt so in der ersten Reaktion nicht rüberkommt, dann sind die [Personen] schon gekränkt." (Interview VII, Seite 6)

Die Tatsache, dass Eva in dieser Situation auch ohne Blindengriff geführt werden kann, ja auf dessen Erklärung sogar bewusst verzichtet, um die helfende Person nicht zu überfordern, beugt dieser Verletzung von Erwartungshaltungen, welche Patricia mit ihrer Reaktion auslöst, vor.

Jedoch erwähnt Patricia auch Begegnungen mit Menschen, die "das sozusagen ganz sachlich [nehmen], also als Information, die sie bisher nicht hatten und aha und mhm und nicht gewusst, nicht daran gedacht, so, aber das können sie sich vorstellen oder werden sie bedenken oder so." (Interview VII, Seite 5)

Abgesehen von der aus Patricia Wahrnehmung heraus falschen Herangehensweise der Helfenden stört sie sich jedoch nicht weiter an der unaufgeforderten Hilfeleistung. Oftmals, so berichtet sie, kommt sie mit den Helfenden ähnlich wie Verena ins Gespräch. Auch Patricia betont mehrmals im Interview, dass es Berührungsängste aus Erfahrungsmangel seitens der sehenden Bevölkerung gäbe - nicht nur ihr gegenüber, wie sie anhand folgender Erzählung schildert:

"[Wenn mich die Personen] dann irgendwie kennen lernen, dann sagen sie so Sachen wie, ja, ich weiß nicht, wie ich das machen soll, dort, wo ich wohne, da gibt es einen jungen Mann, der geht mit dem Taststock und ich frage mich immer, soll ich ihm helfen oder soll ich ihm nicht helfen, dann sage ich, naja, dann fragst du ihn halt einmal." (Interview VII, Seite 6)

Die Ursache verortet Patricia darin, dass (seh-)behinderte Menschen gesellschaftlich weiterhin als separate Gruppen betrachtet würden und dass es daher vielen Personen an Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen mangelt, gepaart mit der Angst, etwasFalsches zu tun, also der Erwartungshaltung der Person mit Behinderung nicht zu entsprechen.

"(...) [Dieses] einfache ich weiß nicht, was ich tun soll, ich weiß nicht, braucht der jetzt Hilfe und dann: (...) Diesen kleinen Schritt, den man sonst immer macht, dass man sagt, dann frage ich halt, das traut man sich nicht, weil man schon das Gefühl hat, man könnte was falsch machen - ja, (...) man tritt irgendwie in ein Fettnäpfchen," (Interview VII, Seite 7)

Wenn Patricia selbst aktiv nach Unterstützung sucht, was sie immer dann tut, sobald ihr strukturelle Kompensationsangebote nicht mehr ausreichen, macht sie durchwegs positive Erfahrungen.

Im Gegensatz zu Eva erlebt es Patricia kaum, dass Menschen eine Hilfestellung verweigern. Eher erfährt sie Nichtreaktionen der Angesprochenen, was jedoch ebenfalls eher selten vorkommt. Dennoch empfindet Patricia die ausbleibende Reaktion als irritierend und belastend, weil "man dann nie weiß, nicht verstanden, keine Zeit, nicht wissen, wie tun." (Interview VII; Seite 8)

Für sie bleibt also die Unsicherheit, ob sie ihre Bitte nochmals wiederholen, anders formulieren soll oder ob sie damit auf grundsätzliche Ablehnung stößt. Sie findet sich damit in einer ähnlichen Situation wie Eva wieder, welche dieses Ansprechen aufgrund der damit verbundenen Unbestimmtheiten explizit als einen Akt von Courage bezeichnet.

Patricia berichtet, dass es für sie daher eine wichtige Erfahrung war, zu bemerken, dass das Ausbleiben einer Reaktion stark in Abhängigkeit zum situativen Kontext steht und damit für sie als Erklärungsmuster auch eine gewisse Entlastung darstellt:

"[Bei einer] Straßenkreuzung oder (...) wenn man auf die Straßenbahn wartet oder so, das sind an sich gute Situationen. (...) Die, die es ganz eilig haben, die gehen eh bei Rot über die Kreuzung und die anderen stehen eh, (...) denen raubt man keine zusätzliche Zeit. Wo es schwierig ist oder schwieriger, ist es zum Beispiel im Supermarkt, also wenn man was einkauft, und beim Billa haben es eh alle eilig und wollen möglichst schnell durch und haben eigentlich schon was anderes zu tun (...)" (Interview VII, Seite 8)

Auf die Frage nach Unterstützung kommt es also Patricias Erfahrungen nach eher zu einer positiven Reaktion, wenn die Angesprochenen selbst gerade warten und im Moment nicht eigene Tätigkeiten und Ziele verfolgen.

Durch diese Barrieren im öffentlichen Raum und durch die Abhängigkeit von den sie unterstützenden Personen fühlt sich Patricia stark in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt in der Form von mangelnder Spontaneität.

Zwar nutzt Patricia gerne strukturelle Kompensationsmöglichkeiten, doch die Effektivität dieser erschöpft sich rasch in mangelnder Verfügbarkeit - so sind beispielsweise nur wenige Ampeln blindengerecht gestaltet - und zweitens in inhärenten Informationslimits: Patricia kann ein taktiles Leitsystem nur auf Wegen benutzen, auf denen sie sich bereits zu orientieren vermag.

Darüber hinaus nimmt sie institutionalisierte intervenierende Kompensation in Anspruch, etwa wenn sie ein Taxi benutzt. Da es sich um eine bezahlte Dienstleistung handelt, wird ihre Verwendung für Patricia planbar - sie muss sich nicht an anderen Menschen orientieren, die ihre Unterstützung nicht immer anbieten können, sodass Patricia ein Gefühl von mangelnder Autonomie verspüren würde.

Zumindest im öffentlichen Raum könnte ein GPS-Gerät auf dem Wege individueller Kompensation einen weiteren Autonomiegewinn für Patricia darstellen.

Bei den täglichen Besorgungen, etwa beim Einkaufen, hilft Patricias Mann. Wie bei fast allen interviewten Personen wird diese Art der Unterstützung innerhalb der Partnerschaft nicht als belastend oder als Reduktion von Autonomie empfunden.

"Also ich bin in einer privilegierten Situation, weil mein Mann ist ein leidenschaftlicher Einkäufer. Das war er früher schon und das hat sich jetzt [mit voranschreitender Erblindung, d.Verf.] halt ein bisschen noch erweitert. (...) Also [zum Einkaufen] gehen wir gemeinsam hin und (...) insofern habe ich dann eben auch Einfluss auf die Kaufentscheidungen." (Interview VII, Seite 12)

Jedoch geht Patricia auch ohne ihren Mann einkaufen. Für kleine Lebensmittelbesorgungen sucht sie einen Supermarkt auf, in dem sie mit der Filialleiterin vorab vereinbarte, dass sie zu bestimmten Zeiten mit weniger Kundschaft vorbeikommt und dann auch Hilfe vom Verkaufspersonal erhält. Ähnlich wie Eva trifft sie dabei durch die vorherige Absprache auf eine quasi-institutionalisierte Form intervenierender Kompensationsleistung. Dem Umstand, dass die Art der Unterstützung, wie im Falle von Petra oder Verena, nicht stets aufs Neue ausgehandelt werden muss, kommt eine Entlastungsfunktion zu. So scheint Patricia im Gegensatz zu Verena beispielsweise auch keine Schwierigkeiten mit Regalwechseln und der Umsortierung von Warenbeständen zu haben.

Bekleidung kauft Patricia dagegen, ähnlich wie Eva, gerne mit einer Freundin gemeinsam, die sie bei der Auswahl beraten kann - sie sieht dies als Zugewinn an Lebensqualität:

"Ich hatte früher nie das Bedürfnis, das zu Zweit zu tun und ich tu es jetzt zu Zweit, [Es] gibt (...) zwei, drei Menschen, mit denen ich das gemeinsam mache und da entstehen schon neue Qualitäten. Das ist dann auch schön (...)" (Interview VII, Seite 3)

Im Beruf berichtet Patricia über zahlreiche Integrationsdefizite. Als ihre Sehkraft noch etwas besser ausgeprägt war, arbeitete sie bei einem Unternehmen im Bereich Datenverarbeitung. Ihr abrupter Sehkraftverlust vor einigen Jahren fiel mit einer Softwareumstellung ihrer Arbeitgeberin zusammen, wobei die neue Software nicht mehr an Patricias Bedürfnisse angepasst wurde und sie so systematisch aus den Arbeitsabläufen des Unternehmens gedrängt wurde:

"Hinzu kam, dass einfach auch immer wieder neue Datenbanken entwickelt wurden und bei den internen Entwicklern das Wissen (...), wie man bestimmte Funktionen jetzt nicht nur über die Maus, sondern auch über Tastatur abrufbar macht, nicht gegeben war und offenbar auch nicht einholbar war und das hat einfach bedeutet, dass ich an der gesamten (...) internen Firmenkommunikation nicht mehr teilhaben konnte. (...) Das heißt, ich habe einfach keinen Zugang zum Wissen und zum Tun der Firma mehr gehabt." (Interview VII, Seite 18)

Zwar wollte das Unternehmen Patricia als Mitarbeiterin halten, doch bestand innerhalb der Organisation keine adäquate Beschäftigungsmöglichkeit mehr, sodass Patricia die Unterforderung als einen schlimmen Stressfaktor erlebte. Ähnlich wie im Falle Verenas, war auch für Patricia ein technologischer Entwicklungsprozess für die Hinausdrängung aus der Berufswelt verantwortlich. Doch während für Verena zum damaligen Zeitpunkt grundsätzlich keine geeigneten Unterstützungsprogramme verfügbar waren, um die Computerarbeit blindengerecht zu gestalten, wurden sie bei Patricia aufgrund mangelnder Erfahrung der EDV-Abteilung nicht eingesetzt.

Patricia entschied sich daraufhin für eine selbstständige Tätigkeit als Übersetzerin. Dies, so sagt sie, "war (...) eigentlich die einzige Möglichkeit, um im Arbeitsbereich, am Arbeitsmarktzu bleiben, um weiterarbeiten zu können." (Interview VII, Seite 18)

Obwohl sie in dieser Tätigkeit heute sehr viel Befriedigung erfährt, war der Schritt in die Selbstständigkeit anfangs mit Ängsten verbunden und der Frage nach der technischen und bürokratischen Organisation des Arbeitsablaufes.

Dennoch wollte Patricia keiner unselbstständigen Beschäftigung mehr nachgehen. Sie bemerkt, dass ihre Sehbehinderung in früheren Vorstellungsgesprächen sehr viel Irritation auslöste:

"Damals gab es auch eben noch diesen erweiterten Kündigungsschutz, wo dann (...) die Unternehmen immer gesagt haben, ja, wir täten ja eh Behinderte nehmen, wenn es nur den nicht gäbe. Wo sich jetzt eh herausstellt, dass das nicht der wahre Grund ist dafür, dass sie keine Behinderten nehmen, aber das war damals eben auch noch so." (Interview VII, Seite 19)

Bei dem erweiterten Kündigungsschutz, den als begünstigt behindert eingestellte Personen ab einem sechsmonatigen Beschäftigungsverhältnis genossen, vermutet Patricia einen fälschlich vorgegebenen Grund. Die Frist bis zum Inkrafttreten des erweiterten Kündigungsschutzes wurde für ab 2011 begründete Dienstverhältnisse auf vier Jahre erhöht. Eine exemplarische Auseinandersetzung über die Problematik der Einstellung von behinderten Menschen abseits des erweiterten Kündigungsschutzes erfolgt am Beispiel Josefs im nächsten Abschnitt.

Die selbstständige Tätigkeit kann Patricia durch vielfältige technische Hilfsmittel gut organisieren. Ihre Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartner befinden sich zumeist im Ausland, sodass ihre Sehbehinderung im Kundenkontakt - vorrangig via Telefon und E-Mail - keine Beeinträchtigung darstellt.

Die Buchhaltung erfordert, dass Patricia alle Unterlagen mit sehender Unterstützung einmal kontrolliert und den Inhalt von Papieren und Rechnung auf sprechende Etiketten aufspielt, sodass sie die Dokumente richtig zuordnen kann. Hierzu nimmt sie ein Mal pro Woche persönliche Arbeitsassistenz in Anspruch.

Der Bereich der Kontaktpflege ist ein gewichtiger Bestandteil innerhalb der selbstständigen Tätigkeit und der damit verbundenen Kundenakquise. Hier fühlt sich Patricia aufgrund ihrer Blindheit stark benachteiligt, wenn sie meint:

"Wo ich wirklich das Gefühl habe, es wäre jetzt ‚mehr herauszuholen', das ist eben so in diesem Netzwerkbereich, also andere Unternehmer in meiner Branche oder andere Unternehmer anderer Branchen kennenzulernen, jetzt bei Veranstaltungen, bei Stammtischen, bei Treffen, bei Business-Frühstücken, was es da gibt, oder auch auf Messen zu fahren und eventuell sich selbst zu präsentieren. (...) Also das ist wirklich ein Bereich, wo ich das Gefühl habe, dass die Einschränkung, mit der ich lebe, einen großen Unterschied macht, also mich davon abhält, mich in einer bestimmten Weise zu präsentieren und zu vernetzen. " (Interview VII, Seite 20)

Die Hürden, welche ein Netzwerktreffen, einer losen Zusammenkunft von Personen einer oder mehrerer komplementärer Berufsgruppen zur Etablierung von beruflich motivierten Sozialkontakten für sehgeschädigte Menschen mit sich bringt, sind sehr vielfältig und werden daher im Zuge der Diskussion der Forschungsfragen in einem eigenen Kapitel behandelt.

Vorab sollen an dieser Stelle nur die Problemlagen, welche grundsätzlich mit dem Begriff der nicht intendierten Verletzung sozialer Normen zusammengefasst werden können, am Beispiel Patricias kurz skizziert werden.

Eine Kernproblematik für sehbehinderte und blinde Menschen in Netzwerkaktivitäten scheint die Kontaktaufnahme in diesen sozialen Gruppen nach den Normen sehender Menschen zu sein. Patricia beschreibt ihre Erfahrungen damit folgendermaßen:

"Ja, ich gebe gerne jemanden die Hand, aber da sozusagen -, der andere muss schon meine Hand nehmen, damit das funktioniert und dass sogar da schon Unsicherheit [bei meinem Gegenüber] herrscht" (Interview VII, Seite 22)

"Wie spricht man jemanden an? Wie merkt man, dass jemand gesprächsbereit ist? (...) Dieser Augenkontakt, den hatte ich nie, den hatte ich früher auch nie, aber ich weiß, dass es das gibt und dass es diese Signale gibt und es kann eben sein, dass sich jemand gerade jemand anderen zuwendet und ich rede noch weiter (...)" (Interview VII, Seite 21)

Für Patricia besteht hier eine große Diskrepanz zwischen Kenntnis und Erfüllbarkeit eines normengerechten Kontaktverhaltens. Diese Diskrepanz löst bei ihr Verunsicherung aus. Irritation und Unsicherheit erlebt Patricia nicht nur bei der Kontaktaufnahme, auch bei Buffets bringt sie Komplikationen, wie Patricia ihre Anforderungen und Bedürfnisse in diesem Kontext benennt, ein.

"Bei den Brötchen:

‚Also ich halte Ihnen hier eine Platte hin, da gibt es das und das und das und das.'

‚Super', sage ich, ‚Nein, ich hätte gerne, ich weiß nicht, Lachs.

‚Ja, das ist da vorne.' (...)

Wenn ich dann sage: ‚Könnten Sie mir es vielleicht mit einer Serviette in die Hand geben?'

Also das ist schon etwas was diese Konventionen verletzt." (Interview VII, Seite 22)

Schon in wenigen üblichen sozialen Interaktionen verletzt Patricia viele soziale Normen dieser Netzwerkgesellschaft, in welcher der berufliche Kontext möglicherweise einen förmlicheren Umgang miteinander gebietet. Möglicherweise wird die Frage nach Unterstützung in einer Alltagssituation auch als Hilflosigkeit im professionellen Bereich umgedeutet. Die Irritationen führen dazu, dass sich Patricia unwohl fühlt, und ihre Kontaktaufnahmen - aktiv wie passiv - seltener ausfallen als diejenigen der anderen Teilnehmer, weshalb sie die Netzwerktreffen weniger effektiv nutzen kann als die übrigen Gäste.

Die Ursache in der für sie unangenehmen Situation vermutet Patricia erneut im mangelnden Kontakt zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen:

"Wenn die [Anwesenden] Kontakt hätten mit Leuten, die die Lachsbrötchen nicht gescheit sehen können, und Kontakt hätten mit Leuten, (...) die körperlicherweise abweichen von einem bestimmten Standardmaß, wenn sie Kontakt hätten mit Rollstuhlfahrern (...) dann wäre das einfach alles normaler, dass es halt verschiedene Möglichkeiten gibt, sich dem Buffet zu nähern." (Interview VII, Seite 22)

Zwar versucht Patricia ihre Blindheit manchmal vorab zu thematisieren, indem sie zum Beispiel in den Mailinglisten schreibt, aus denen heraus die Netzwerktreffen organisiert werden, doch macht sie dabei auch die Erfahrung, dass die Teilnehmenden vor Ort bereits wieder vergessen haben, dass Patricia blind ist.

Grundsätzlich kann jedoch auch diese Information vorab nicht verhindern, dass Patricia gewisse Erwartungen dieser sozialen Gruppe nicht erfüllt und sie entsprechend sanktioniert wird. Auf diese Weise kann lediglich verhindert werden, dass sich im Verlauf des Netzwerktreffens für Patricias Kollegen unerwartet eine Situation wie die zuvor geschilderten entsteht und die Sanktionen aus der Irritation heraus stärker ausfallen.

Insgesamt resümiert Patricia daher folgendermaßen über die Teilnahme an Netzwerkveranstaltungen:

"[Ich habe] einfach (...) bis jetzt keine Lösung dafür gefunden. (...) Persönliche Assistenz in diesem Bereich ist zwar möglich, würde das aber auch nur zum Teil abfangen, weil (...) die Assistentin müsste ich selbst sein, weil nur ich weiß, mit wem ich in Kontakt treten möchte. (...) Also das ist wirklich ein schwieriger und ein ungelöster Bereich für mich." (Interview VII, Seite 20f)

Wie für fast alle interviewten Personen, stellt die Benutzung des Internets für Patricia eine wichtige Komponente in der Arbeits- wie auch in der Freizeitgestaltung dar. In ihrer Arbeit verwendet Patricia das Internet zur Recherche und benutzt dabei sehr viele Suchmaschinen. Damit sie die Suchergebnisse rascher durchforsten kann, hat ihr Mann ein Hilfsprogramm geschrieben, welches die Ausgabe einer Ergebnisseite auf die Überschriften der gefundenen Websites und den entsprechenden Links dorthin reduziert, während alle anderen Inhalte der Ergebnisseite ausgefiltert werden. Auf diese Weise gelangt Patricia sehr rasch an die benötigten Informationen, zumal sie sich die Bildschirmausgabe in hohem Tempo vorlesen lässt.

Trotz einiger Hürden, vor allem in Form von mit Werbebannern überfrachteter Websites, welche gemäß dem zugrunde liegenden Content Management System generische Links aus Zahlen- und Buchstabenkombinationen anstelle von sprechenden Bezeichnern für verlinkte Artikel verwenden, erlebt Patricia das Internet und die Zugangstechnologien als etwas stark Emanzipierendes, wenn sie feststellt:

"Vor 20 Jahren, 25 Jahren hätte ich [meine selbstständige Tätigkeit d.Verf.] nicht machen können, (...) also ich hätte den Beruf einfach nicht ausüben können, (...) also [das Internet hat dies] wirklich erst ermöglicht, ja." (Interview VII, Seite 26)

In ihrer Freizeit liest Patricia gerne die Online-Ausgaben fremdsprachiger Tageszeitungen. Als sie noch über ein größeres Restsehvermögen verfügte, kaufte Patricia "vielleicht alle zweiWochen eine Zeitung". (Interview VII, Seite 26)

Diesen Zeitraum benötigte sie, um die Zeitung mit ihrer Lupe zu lesen. Sich die Online- Medien via Screenreader vorlesen zu lassen, empfindet Patricia als weitaus komfortabler. Dabei nutzt sie wie Verena häufig jene Website-Versionen, welche für Mobilgeräte gestaltet wurden, weil diese bedingt durch die kleinen Displays der Ausgabegeräte ein schlankeres, übersichtlicheres Seitenlayout bieten. Sie sind damit aus semantischer Perspektive heraus eher barrierefrei gestaltet als die Seitenversionen für die Darstellung auf einem Computerbildschirm und können daher auch mittels Screenreader und Braillezeile als Ausgabegeräte besser navigiert und genutzt werden.

Weiters liest Patricia gerne in Blogs, welche sich kulinarischen und gärtnerischen Themen widmen, da sie selbst gerne gärtnert und für Gäste kocht.

Sie informiert sich über Produkte und kauft auch manchmal Produkte über das Internet. Weiters hört Patricia in ihrer Freizeit gerne Musik und spielt auch selbst Klavier, wobei sie nicht nach (Braille-)Noten spielt, sondern die Stücke auswendig lernt.

Früher ging Patricia mit besserem Sehvermögen sehr gerne ins Kino, was sie seit ihrer faktischen Erblindung nicht mehr tut, denn sie hat "nicht den Eindruck, dass die derzeitigenMöglichkeiten mit Beschreibungen [ihr] (...) dieses Gefühl zurückbringen, das [sie] damalshatte." (Interview VII, Seite 27) Dieses Gefühl beschreibt Patricia mit dem Fehlen von Information darüber, was sehende Menschen gerade wahrnehmen und erleben. Beispielhaft nennt sie "Unterschiede in der Kameraführung, (...) wie soll man das beschreiben, ja, vorallem mit der Geschwindigkeit?" (Interview VII, Seite 27)

Aus diesem Grunde interessiert sich Patricia etwa auch nicht für das Theater, denn selbst als sie noch besser gesehen hatte, "konnte sie dann zwar mit dem Fernglas [die Schauspieler] aufder Bühne [erspähen], aber [sie hat] die Mimik und die Gestik nie gesehen, darum war dasnie so attraktiv." (Interview VII, Seite 27)

Ein weiterer Bereich, in dem Patricia durch ihren Sehkraftverlust auf bislang ungelöste Barrieren gestoßen ist, sind sportliche Aktivitäten. Sie ging früher gerne ins Schwimmbad, was ihr nun jedoch ohne Begleitperson nicht mehr möglich ist:

"Schwimmen in Schwimmbädern ist sehr kompliziert, wenn man (...) mit den anderen Badegästen fortlaufend aushandeln müsste, dass man ihnen nicht ausweichen kann. Ja. Also das tut mir sehr weh, weil ich früher (...) manchmal so nach der Arbeit (...) eine halbe Stunde schwimmen gegangen bin und das geht einfach nicht mehr."(Interview VII, Seite 29)

Ferner wünscht sich Patricia einen Bereich, wo sie "unaufwändig alleine, spontan spazieren gehen kann, ohne Angst zu haben, in Hundehäufchen zu treten und ohne unbedingt an einer Straße entlang zu gehen." (Interview VII, Seite 29)

Das selbstständige Spazieren gehen in der Natur ist für sie aufgrund unwegsamer Pfade ohne klar ertastbare Begrenzungen sehr schwierig. Zwar verbrachte Patricia im Zuge eines Mobilitätstrainings einige Stunden im botanischen Garten der Universität Wien, um die Wege dort kennen zu lernen, doch diese wurden im Laufe der Zeit abgeändert. Patricia würde sich daher in den Parks mehr Angebote zur strukturellen Kompensation wünschen, um sich autonom und ohne das Belastungsmoment verstärkter Aufmerksamkeit auf den Wegen fortbewegen zu können. So fügt Patricia abschließend noch hinzu, sie hätte gerne einen eigenen Park, "wo es keine Autos gibt und möglichst auch nicht zu viele andere Leute." (Interview VII, Seite 30) Autos und Passanten sind immanente Unsicherheitsfaktoren: Patricia kann sich zwar Wege einprägen, doch diese können von anderen Personen oder Autos dynamisch verändert werden, indem etwa ein PKW auf einem taktilen Leitsystem parkt oder den Gehsteig versperrt. Diese unerwarteten Situationsänderungen, die Abweichungen vom eingeprägten Weg mit seinen statischen Hindernissen bedeuten für Patricia eine große psychische Belastung, wie sie etwa auch Eva beschreibt. Wenn Patricia auf der Suche nach Entspannung und Ruhe ist, weswegen sie sich im Park aufhält, dann steht die Unbestimmtheit dem eigentlichen Zweck des Parkbesuchs diametral gegenüber.

Eine Lösung für diese Problematik sieht Patricia in einer umfassenden Bewusstseinsbildung für die Anliegen und Anforderungen von Menschen mit Behinderung, wie sie mehrmals im Gespräch betont. Daher bietet Patricia in ihrer Freizeit Workshops an Schulen und Kindergärten zum Thema "Wie Blinde sehen" an. Es ist Patricia sehr wichtig, bereits Kinder für die Bedürfnisse behinderter Menschen zu sensibilisieren. Sie sagt dazu:

"Wenn die [Kinder] nicht schauen, wie ich gehe, wie ich mich bewege, wo ich unsicher bin, wie sollen sie das denn wissen, wenn sie groß sind und wenn sie Architekten sind und Stadtplanerinnen und Webdesignerinnen und ich weiß nicht was noch [sind]?" (Interview VII, Seite 12)

Damit wählt Patricia einen dritten Zugang zur Kommunikation mit Sehenden: Während Verena Bewusstseinsbildung leistet, indem sie Sehende in ein Szenario von Blindheit - Töpfern im Dunkeln - führt und den weiteren Interaktionsrahmen offen lässt und Eva innerhalb ihres Vereins gemeinsame Aktivitäten von sehgeschädigten und sehenden Menschen ohne spezielle Anpassung des Umfelds forciert, möchte Patricia sehenden Menschen zeigen, wie sich blinde Personen in diesem Umfeld zurechtfinden, welche Hilfsmittel sie dabei benutzen und darüber hinaus gebrauchen könnten. Patricia fokussiert ihr Engagement also auf strukturelle Kompensationsangebote, während Verena und Eva durch die gemeinsamen Aktivitäten intervenierende Kompensation fördern.

6.1.4.1 Zusammenfassung

Für Patricia ist Autonomie sehr wichtig - sowohl in Bezug auf ihre räumliche Mobilität, um unabhängig und spontan agieren zu können, als auch in beruflicher Hinsicht, wo sie durch die selbstständige Tätigkeit ihren Arbeitsablauf selbst organisieren und somit bestmöglich an ihre Sehbehinderung anpassen kann.

Patricia bevorzugt demgemäß im öffentlichen Raum vor allem strukturelle Kompensationsangebote, wobei diese ihrer Meinung nach sowohl in Hinsicht auf das Ausmaß als auch in Bezug auf die Wahrnehmung durch Außenstehende nicht besonders gut ausgebildet sind. Demzufolge stößt Patricia bei der Nutzung dieser Systeme schnell an deren Grenzen.

Bei der Wahl intervenierender Kompensation fühlt sich Patricia in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und von anderen und deren Zeitbudget abhängig, was für sie einen Autonomieverlust darstellt. Auch kommt es durch einen Mangel an Kontakten von sehenden Menschen mit sehbehinderten Personen oftmals zu Berührungsängsten, was für Patricia eine doppelte Belastungssituation darstellt: Erstens wird ihre Frage nach Unterstützung manchmal aus Unsicherheit heraus ignoriert, zweitens wird ihr oftmals inadäquat geholfen, was bei Patricia Stress verursacht und sie zu einer raschen, sachlichen und freundlichen Aufklärung der Situation zwingt, um sanktionierendes Verhalten zu vermeiden.

Autonomie auf dem Wege intervenierender Kompensation wäre für Patricia nur im Sinne eines Dienstverhältnisses - etwa wenn sie als Kundin ein Taxi benutzt - oder als institutionalisierte und damit gut planbar verfügbare Lösung denkbar: Patricia reagierte sehr erfreut über das Angebot an Personal Shoppers[7] und meinen eigenen Erfahrungen mit diesem System in Großbritannien. Es wäre für sie eine Form des Einkaufens, welche sie selbst als eine sehr große Hilfe empfinden würde.

Insgesamt berichtet Patricia im Gespräch von mehr Integrationsdefiziten als viele meiner anderen Interviewpartnerinnen und Interviewpartner. Dieser Umstand gründet auf ihrer selbstständigen Tätigkeit - ein Berufsbild, in dem sehr wenige Kompensationsmaßnahmen installiert sind und Patricia ihrer Blindheit vor allem mittels individueller Kompensation begegnet. Dies funktioniert im eigentlichen Arbeitsprozess dank technischer Unterstützungshilfen sehr gut. Im sozialen Bereich sieht Patricia dagegen viele ungelöste Probleme für sich, die nicht gegeben wären, würden diese Gesellschaftsbereiche nicht von einem rigides Normalitätskonzept durchdrungen. Um diesem entgegen zu wirken, engagiert sich Patricia in bewusstseinsbildenden Veranstaltungen an Schulen.

6.1.5 Josef

Josef, 44, ist seit einigen Jahren vollblind. Er arbeitet freiberuflich als Berater für barrierefreies Webdesign und wohnt mit seiner sehenden Lebensgefährtin zusammen. Josef wuchs in Deutschland auf, wo er Abitur machte und ein naturwissenschaftliches Studium begonnen hatte, welches er jedoch aufgrund von Diskriminierung durch seine Professoren einstellen musste.

Seine Kindheit verbrachte Josef in einem kleinen Dorf, gekennzeichnet von engen Sozialstrukturen und einem geringen Maß an Anonymität. Er reflektiert über diese Zeit folgendermaßen:

"[Da] gab es also keinerlei Hilfsmittel. Da sind Mähdrescher mitten auf dem Weg gestanden, mit den Spitzen nach außen, und da war es einfach notwendig, sich in der Obhut der Gesamtgesellschaft zu bewegen. (...) [In] Rückblick betrachtet war ich dort in der ständigen Obhut der gesamten Dorfgemeinschaft. Es ist also nie passiert, dass so ein Heuwender da stand, ohne dass mich wer gewarnt hat, und das konnten sie natürlich nur, auf dem Fahrrad siehst du nicht, ob einer sehbehindert ist oder nicht, der fährt halt gerade aus, das konnten sie nur deswegen, weil ich als Person bekannt war. Ich war halt nicht irgendein Kind, das da zügig Fahrrad fuhr, sondern ich war der [Josef], ich bin der Neffe vom Bernhard, und das ist der Bruder vom Frieda, und der sieht halt nichts." (Interview II, Seite 2)

In seiner Schilderung beschreibt Josef, wie er in seiner Kindheit ausschließlich intervenierende Kompensation erlebt hat. Die Obhut der Gesellschaft kann als Inbegriff dessen gesehen werden.

Dabei erscheint diese Obhut in Josefs Schilderungen als etwas geradezu Selbstverständliches, den engen dörflichen Sozialkontakten Geschuldetes. Josef beschreibt etwa, wie er mit seinem Onkel am Feuerwehrfest teilnahm, bei der Heuernte mithalf und sich auf diesem Wege die Kenntnis über seine Sehbehinderung und damit verbundene Einschränkungen und nötige Unterstützungen verbreitete. Er musste offenbar niemals daraufhin hinweisen, dass er zum damaligen Zeitpunkt stark sehbehindert war und in gewissen Situationen Hilfe benötigte.

In seiner aktuellen Lebenssituation könnte sich Josef dieses Szenario, welches er auch mit dem Wort Bevormundung beschreibt, nicht mehr vorstellen. Er sieht sich nun selbst mehr als einen "angepassten Rebell[en]" (Interview II, Seite 3), explizit "nach Unabhängigkeitstrebend." (Interview II, Seite 3)

Als solcher schätzt Josef technische Hilfsmittel, individueller, wie etwa ein GPS-Gerät, oder struktureller Natur, wie taktile Leitsysteme, wann immer er sie einsetzen kann. Er begründet dieses damit, dass menschliche Hilfe, also intervenierende Kompensation für ihn oftmals etwas Unangenehmes, Aufgedrängtes oder Unangemessenes ist. Er kann nicht selbst verfügen, ob sie ihm zuteil wird oder nicht und darin würde sich eine Abhängigkeit vom sozialen Umfeld begründen.

Selbstständigkeit und Unabhängigkeit verbindet Josef in diesem Zusammenhang vor allem mit der Entscheidungsfreiheit, welche Form von Kompensation er wählen kann:

"Ja, bisweilen bei Ampeln, die nicht mit Blindenakustik ausgerüstet sind oder manchmal auch bei Ampeln, die mit Blindenakustik ausgerüstet sind, wenn ich das Gefühl habe, dass das demjenigen, der da jetzt Hilfe anbietet wichtig ist, dass er sie auch leisten kann und es mich in dem Moment ja nichts koste., Weil manchen Leuten hilfst du einfach damit, wenn du sagst, sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn es Grün ist. (...) [Es] ist gleichwertig, ob mir die Ampel sagt, ich bin jetzt Grün oder das alte Männchen, dem die Ansprache fehlt, sagt, es ist Grün. Im Gegenteil. (...) Ich gebe zwar meine Selbständigkeit scheinbar auf, aber eigentlich dadurch, dass ich das Recht habe, sie aufzugeben, nehme ich sie eigentlich erst wieder wahr. Ich muss also nicht unter allen Umständen auf die vorhandenen technischen Hilfen zurückgreifen." (Interview II, Seite 13)

Josef entscheidet sich in dieser Situation, in der er die Wahl zwischen struktureller Kompensation durch die akustische Ampelanlage und der intervenierenden Kompensation durch Passanten hat, bewusst für die intervenierende Kompensation. In seiner Schilderung kommt stark das Motiv der Reziprozität - Hilfe im Straßenverkehr gegen soziale Interaktion - zur Geltung. Tatsächlich geht Josef in unserem Gespräch mehrmals darauf ein, dass Symbiose, der Gedanke von reziprokem Sozialverhalten, für ihn etwas Wichtiges ist. Es ist ihm offenbar ein Anliegen, nicht nur als Empfänger von Hilfeleistungen kraft intervenierender Kompensation aufzutreten.

Ferner sieht Josef diese Art von Sozialkontakt, die er mit einem Gespräch vergleicht, welches von Sehenden etwa auch an einer Bushaltestelle geführt werden kann, als etwas durchaus Positives an: "Es ergeben sich ja auch nette Gespräche" (Interview II, Seite 13)

Grundsätzlich lehnt Josef jedoch jedwede Art von individueller, nicht institutionalisierter intervenierender Kompensation, die ihm aufgedrängt wird, ab. Er beschreibt "Hilfswütige" (Interview II, Seite 4) als durchaus gut meinend in ihren Absichten, "(...) denn der Fall, dassBöswilligkeit da auftaucht oder auch nur im Verdacht steht, kommt vor, ist aber so selten,dass es nicht lohnt, darüber zu reden." (Interview II, Seite 4) Doch ist deren Hilfestellung für Josef eine unangemessene, welche ihn wie Patricia in unangenehme Situationen bringt.

So beschreibt Josef eine Situation in einer kleinen Bäckerei, wo er sich am Ende in einer Warteschlange anstellt. Die Leute machten daraufhin für ihn Platz, was jedoch wortlos geschah und für ihn daher zunächst eine nicht wahrnehmbare Situationsänderung, auf die er nicht vorbereitet gewesen war, darstellte: "[Ich] stehe dann direkt vorne, was mir ur peinlichist." (Interview II, Seite 4)

In dieser Situation ist es nicht die Bevormundung durch ungefragte Hilfestellung, sondern einerseits die nicht einschätzbare Veränderung und damit eigentlich die Erschwerung für Josef, in der Situation adäquat zu reagieren, zum anderen ist es eine Art Hilfeleistung, welche für Josef inadäquat ist, weil sie für ihn nicht im Kontext seiner Blindheit steht. Er meint dazu:

"[Mir] Vergünstigungen einzuräumen, wie zum Beispiel mich in der Schlange zehn Plätze nach vorne lassen, ich kann genauso auf meine Semmeln warten wie alle anderen. Ja, das finde ich (...) unangenehm, besonders unangenehm ist hier eigentlich, dass ich (...) quasi gezwungen bin, eine Vergünstigung anzunehmen, die ich gar nicht möchte." (Interview II, Seite 5)

Diese Art von ungerechtfertigter Vergünstigung erlebt Josef auch im Straßenverkehr:

"[Es] stehen 70-jährige Tatterkreise auf, um ihren Sitz in der Straßenbahn anzubieten, blödsinnig. Gut, in der Straßenbahn kann ich einfach (...) stehen bleiben, Danke, ich habe den ganzen Tag gesessen oder so was. (...) [Wenn] ich auch nur den geringsten Verdacht habe, dass jemand seinen Platz für mich geräumt hat. (...) Hilfestellung ja, ungerechtfertigte Vergünstigung nein." (Interview II, Seite 5)

Neben dem Motiv der "ungerechtfertigten Vergünstigung" beschreibt Josef noch ein weiteres Szenario, aufgrund dessen er intervenierende Kompensation eher ablehnt. Dieses kann am besten als kontextverfehlendes Intervenieren beschrieben werden, eine stärker ausgeprägte Art von unpassender Unterstützungsleistung, wie sie Patricia erfährt. Ähnlich wie in ihrem Falle besitzt der oder die Helfende weniger Information über den situativen Kontext als Josef. Kontextverfehlendes Intervenieren beschreibt Josef, als er von mehreren Menschen in eine Straßenbahn gelotst wird:

"[Wenn] du in die Straßenbahn einsteigen willst, und gerade bei den alten Straßenbahnwaggons haben ja ältere Menschen oft Schwierigkeiten beim Aussteigen und das geht recht langsam (...) und du bist schon halb drinnen (...) also hast den Fuß schon auf der untersten Stiege, und dann merkst du, da kommt noch so ein Muttchen und will aussteigen. (...) Ergo gehe ich einen halben Schritt zurück, trete zur Seite und bin ich jetzt nicht der kleinste und schmächtigste Mensch auf der Welt, [sodass es] (...) sage jetzt mal über den Daumen gepeilt, einmal im Monat, zu der Situation kommt, dass hinter mir wer steht, nicht an mir vorbei sieht und mich wirklich versucht, in die Straßenbahn rein zu schieben, da ist die Tür. Also Erstens war ich schon halb drinnen, ich weiß, wo die Tür ist, und Zweitens bin ich ja zurückgegangen, um die alte Dame noch aussteigen zu lassen. Ja, aber die schieben mich gnadenlos. Ich meine, wenn ich mich schieben lassen würde." (Interview II, Seite 7f)

Josef nimmt hinter diesem Verhalten einen Stigmatisierungsprozess blinder Personen wahr, indem er meint:

""[Es] ist absolut alltäglich, dass die Leute dein eigenes zuvorkommendes Handeln nicht als solches einstufen, sondern als für Hilflosigkeit oder sonst was und das dann pseudokorrigieren." (Interview II, Seite 7)

Weitere Situationen dieser Art von kontextverfehlender Intervention beschreibt Josef bei der Benützung der U-Bahn. Er geht etwa an den Rolltreppenabgängen vorbei, um zu den Liften zu gelangen, während "aus der Menge von der Rolltreppe eine Hand raus [kommt] und (...) [ihn] zur Seite [zerrt]". (Interview II, Seite 11)

In einer weiteren Situation fühlte er sich auf die Türe der gerade eingefahrenen U-Bahn zugeschoben, obwohl Josef, ähnlich seiner zuvor zitierten Schilderung, erst die Fahrgäste aussteigen lassen wollte.

Josef kann jede Wegstrecke, also auch eine, die er zuvor nicht kannte, alleine gehen. Dazu benutzt er ein GPS-Gerät, um seine Position grob im Freien bestimmen zu können. Josef bezeichnet seine Mobilität demgemäß als "überdurchschnittlich". (Interview II, Seite 4)

Darüber hinaus greift Josef via internetfähiges Mobiltelefon auf Detailinformationen der Wiener Linien zurück. Die Informationen sind für ihn besonders hilfreich, da er so an einer Haltestelle weiß, wann welches Verkehrsmittel ankommen wird, ohne ständig nachfragen zu müssen.

Weiters schätzt Josef das taktile Leitsystem, welches zum Beispiel verwendet wird, um Bahnsteigkanten für blinde Menschen abzusichern. Im weiteren Ausbau des Leitsystems auf öffentlichen Verkehrsflächen sieht Josef jedoch eine ungerechtfertigte Begünstigung einer sozialen Gruppe gegenüber anderen:

"[Wir] sind auch nicht besser zu behandeln als Mütter mit Kinderwägen oder Rollis oder Spastiker oder sonst irgendwelche Menschen mit Einschränkungen. Also wenn ich nämlich hergehe und die Umwelt mit all diesen Hilfen ausstatte, dann muss ich das für alle Personengruppen gleich tun und darf nicht eine Gruppe, wie zum Beispiel die Blinden, bevorzugen." (Interview II, Seite 20)

Wie bereits festgestellt, bevorzugt Josef eher strukturelle Kompensation als intervenierende Kompensation. Strukturelle Kompensation hat für ihn vor allem dort stattzufinden, wo es primär um Sicherheitsbelange geht.

So erlebt Josef eine bestimmte Straßenkreuzung auf seinem Weg zu Freizeitaktivitäten aufgrund der Straßenbahnschienen, des Verkehrsflusses und der komplexen Kreuzungsgeometrie als "lebensgefährlich" (Interview II, Seite 21) und meidet sie daher zugunsten eines Umweges. Eine Umgestaltung solcher Verkehrsflächen müsse vor allem unter Berücksichtigung der Gefahrenlage stattfinden, denn:

"es [gibt] dort einfach gar nichts (...) außer zwei mehrspurige Straßen, die sich kreuzen und eine Straßenbahn, die abbiegt, also keine geraden Fußgängerüberwege, keine definierten Bürgersteigabsenkungen, nichts." (Interview II, Seite 21f)

Weitergehende Orientierungshilfen wie die vollständige Durchdringung des öffentlichen Raumes mit einem taktilen Leitsystem sind für ihn in der aktuellen Situation und damit einher gehenden Begünstigung einer Personengruppe mit speziellen Bedürfnissen gegenüber einer anderen nicht angemessen. Die damit auftauchende Frage der Orientierungshilfen verortet Josef im Bereich individueller Kompensation:

"Also Technik sehe ich eigentlich eher im individuellen Bereich. (...) [Nicht], dass ich mir nicht mehr vorstellen könnte, ohne GPS zu leben, aber es erleichtert mir die Sache doch schon ungemein, gerade wenn du nach einem langen Arbeitstag am Heimweg bist: Der normal Sehende guckt ab und zu vielleicht raus, ob seine Station schon da ist. Ich habe es noch bequemer, ich schnalle mir den Kopfhörer auf und programmiere mein Navi und sage, gib mir Bescheid, wenn ich bei der einen Station bin. Da bin ich eigentlich jedem Sehenden überlegen." (Interview II, Seite 21)

Dennoch beschreibt Josef auch ein weniger sicherheitsrelevantes Szenario, aufgrund dessen er seinen Weg in einem für Büro- und Wohnzwecke adaptierten ehemaligen Gasometer- Gebäude, in dem er im Moment beruflich zu tun hat, als einen "Horrortrip" (Interview II, Seite 19) erlebt.

Zunächst stellt die Gebäudearchitektur - ringförmige Etagen in mehreren Türmen, welche über schmale Gänge miteinander verbunden sind - eine Herausforderung an die Orientierungsfähigkeit dar. Die Situation wird zudem erschwert, weil die Außenseiten der Rundgänge mit Restaurant- und Geschäftseingängen ausgestattet sind, während an der Innenseite oftmals weitere Sitzgelegenheiten dieser Restaurants anzutreffen sind. In den Verbindungsgängen sind ebenfalls Cafés untergebracht, sodass es für Josef keine Orientierungslinien gibt, denen er folgen könnte.

"Da sind die beiden Durchgänge zwischen den Gasometerkesseln und im mittleren Gasometerkessel hast du diese Aufwölbung, wo du dann runterschauen kannst und es gibt nicht die Möglichkeit, direkt an diesem Geländer entlang zu gehen, weil alles vollgestellt ist." (Interview II, Seite 19)

Diese Situation stellt für Josef eine erhebliche Belastung dar, welche er sogar als übergreifend einschränkend etwa in Bezug auf seine bevorstehende Arbeit erlebt:

"[Vom] Gasometer 1 ins Gasometer 10 zu kommen, erfordert also auch für mich die ganze Konzentration. Da kann ich also nicht noch geschwind über das Meeting nachdenken oder noch was nachschlagen, was ich normalerweise kann, wenn ich von der U-Bahn komme (...)" (Interview II, Seite 19)

Weitere Schwierigkeiten nennt Josef beim Einkaufen, beim Auffinden von bestimmten Produktmarken innerhalb einer Produktgattung und beim Einkaufen von Artikeln, die er nicht regelmäßig kauft. Hier geht Josef entweder mit seiner Lebensgefährtin einkaufen oder aber er setzt, falls er nur kleinere Besorgungen zu erledigen hat, auf die Hilfe von anderen Kundinnen und Verkäufern. Da Josef wie alle anderen Gesprächspartnerinnen und -partner fast immer im selben Supermarkt einkauft, ist er dem Personal dort bekannt und erhält fallweise entsprechende Unterstützung. Dazu tätigt er seine Einkäufe oftmals auch zu Zeitpunkten, an denen der Supermarkt weniger stark frequentiert ist.

In der Einkaufssituation bevorzugt Josef also im Gegensatz zur räumlichen Mobilität ganz klar intervenierende Kompensation. Strukturelle Kompensation würde Josefs Ansicht zufolge vor allem seitens des Supermarktes einen zu hohen technischen Aufwand bedeuten.

Im Gespräch über das Annehmen von Hilfe von anderen Personen betont Josef wiederum, dass ihm Reziprozität wichtig ist - dass er also gerne einen Gegenleistung für jene Hilfe erbringt, auf welche er durch seine Blindheit fallweise angewiesen ist:

"Jetzt bin ich wieder bei meiner alten Dame, die zwar mittels ihrer Lesebrille erkennen kann, ob es sich hier bei der Konservendose um Bohnen oder um Fisolen oder um Erbsen handelt, dafür aber nicht die obere Regalreihe erreicht, wo die Chili- Tomaten liegen. Das ist dann immer ganz nett, wenn man sich gegenseitig helfen kann (...)" (Interview II, Seite 14)

Diese Reziprozität spielt für Josef auch im privaten Umfeld eine große Rolle. Bemerkenswert an der folgenden Schilderung ist dabei, dass Josef hier die seinem Ermessen nach weniger gut ausgeprägten Orientierungsfähigkeiten seiner Lebensgefährtin kompensiert:

"[Meine] Freundin ist jetzt nicht das Orientiergenie und das ist aber recht symbiotisch; Sie sieht die Landkarte, führt mich hin, ich sage, setz mir den Finger auf den roten Punkt, wo die den Standpunkt markiert und dann sag mir, wo du das siehst, wo wir hin wollen und den Rest mache ich." (Interview II, Seite 21)

Hier unterscheidet sich Josefs Wahrnehmung sehr stark von Verenas Einschätzung, die sich zwar ebenfalls zu Gegenleistungen verpflichtet fühlt, diese jedoch aus ihrer Sichtweise nicht zu erbringen vermag und daher lieber auf institutionalisierte Formen von intervenierender Kompensation zurückgreifen würde, welche für Josef wiederum überhaupt keine Rolle spielen.

Von Diskriminierungserfahrungen spricht Josef vor allem in Bezug auf fremde Personen wie bereits skizziert etwa Passanten, Fahrgäste etc. Im Gegensatz zu bekannten Sozialkontakten besteht hier weniger Möglichkeit zur Aushandlung, sodass die inadäquate Hilfeleistung genau wie im Falle Patricias oft als unpassend und belastend empfunden wird. Josef berichtet in diesem Zusammenhang, wie empört ("Der eine hat sich entschuldigt und die andere hatlosgeschimpft." Interview II, Seite 8) manche Menschen darauf reagieren, wenn er die aufgedrängte Hilfeleistung mehr oder minder energisch ablehnt:

"Das Opfer, das hilfslose Opfer, hat sich plötzlich als gar nicht hilfsbedürftig erwiesen und damit den eingebildeten sozialen Status total zerlegt." (Interview II, Seite 8)

In diesen Situationen sieht sich Josef wie Patricia offenbar mit Rollenerwartungen, welche die Gesellschaft an blinde Menschen, die als solche durch ihren Blindenstock erkennbar sind, heranträgt, konfrontiert. Aufgrund seiner hohen Alltagsmobilität erfüllt er diese Erwartungen nicht. Folglich erfährt Josef zum Teil von jenen Personen Sanktionen, welche ihre Hilfe gemäß diesem, einem Stigmatisierungsprozess entsprungenen Rollenbild aufdrängen. Diese Rollenerwartung beschreibt Josef folgendermaßen:

"[Ein] Blinder, der sich bewegt, ist grundsätzlich in Gefahr, wohingegen ein Blinder, der steht, ist in Sicherheit." (Interview II, Seite 11)

Die Diskriminierung qua Rollenzuschreibung erreicht beim Thema (Erwerbs-)Arbeit für Josef offenbar das größte Ausmaß. Er beschreibt im Gespräch, wie er "zeitgemäß und sachgemäß(...) für einen IT-Menschen" (Interview II, Seite 23) seinen Lebenslauf auf seiner eigenen Webpräsenz veröffentlicht hat. Auf einer Unterseite dieser Lebenslauf-Webseite schreibt Josef über seine Blindheit und aufgrund der Zugriffstatistiken bzw. dem Verlauf der vom Server angefragten Webseiten "kann es [Josef, d.Verf.] also definitiv beobachten, dass dieLeute (...) dann noch ein bisschen (...) weiterklicken, aber das ist dann dieses, ‚ah ja interessant, dass Blinde so was können'. Aber dann sind es die Blinden, dann ist es nichtmehr der Bewerber, der jetzt interessant ist von seinen Fähigkeiten her (...)" (Interview II, Seite 23f)

Diese Fähigkeiten beschreibt Josef dagegen mit "Zeugnissen von Dienstgebern, wo explizit drinnen steht, dass [seine] Sehbehinderung im Berufsalltag keine oder nur eine geringe oder nur diese Rolle gespielt hat, aber im Allgemeinen eine hohe Leistungsfähigkeit und gute soziale Integration, usw. bescheinigt wird (...)" (Interview II, Seite 23)

Auch beim klassischen face-to-face Bewerbungsgespräch sieht sich Josef mit unzutreffenden Rollenerwartungen konfrontiert, welche in Summe zu einer systemischen Diskriminierung zusammengefasst werden können, wie anhand folgender Schilderung gezeigt werden soll:

"Das [ist] ein mittelgroßes Unternehmen, (...) da gibt es einen Assistenten des Personalchefs, (...) der wird dann morgens gefragt: ‚Und Herr Müller, wie viele Bewerbungen haben wir schon?' ‚20.' ‚Die besten fünf legen Sie mir auf den Tisch.' Glaubst du, der hat die Courage unter den besten fünf von dem Blinden einzureihen?" (Interview II, Seite 26)

Wenn es bar formaler Kompetenzkriterien Courage bedarf, einen blinden Menschen unter den besten Bewerbungen einzureihen, dann ist die blinde Person in Josefs Darstellung offenbar einem generalisierten Stigmatisierungsprozess ausgesetzt - die Gesellschaft traut ihr die geforderte Leistungsfähigkeit nicht zu. Damit sieht sich Josef einer grundsätzlich anderen Situation gegenübergestellt als Patricia, welche ihre Absagen stets mit dem Verweis auf den erweiterten Kündigungsschutz erhielt.

"Dazu braucht der Chef noch nicht einmal ein Idiot sein (...), je leistungsfähiger die Leute selber sind, desto weniger Ressentiments haben sie eigentlich, desto objektiver sehen sie das. Aber der kleine Müller, (...) der Personal-Praktikant, der traut sich das nicht - ‚Was soll denn der Chef von mir denken?'" (Interview II, Seite 26)

Im weiteren Verlauf dieses Bewerbungsprozesses sieht Josef die Rollenerwartung an blinde Bewerberinnen und Bewerber durch die Organisationsstruktur des Unternehmens systematisiert. "Praktikant Müller" agiert nun nicht mehr einzig kraft seiner eigenen Rollenerwartungen an einen blinden Menschen, sondern er antizipiert auch die vermeintlichen Erwartungen seiner Vorgesetzten, sodass oftmals schon im Vorfeld des Bewerbungsverfahrens eine Absage ausgesprochen wird.

"Jetzt ist eben meine Bewerbung zufällig zwischen die besten fünf gerutscht und der Herr Chef denkt sich, ja, warum eigentlich nicht, laden Sie mal den [Josef] ein. Der Herr Müller schaut jetzt nicht weiter nach, sondern schickt mir einfach das E-Mail. (...) Das Bewerbungsgespräch findet zwei Wochen später statt. Zu dem Zeitpunkt weiß keiner, dass heute ein Bewerbungsgespräch mit einem blinden Menschen stattfindet. Ich finde jetzt, ob mit oder ohne Hilfe, den Pförtner von dieser Fabrik und sage, Grüß Gott (...), ich habe ein Vorstellungsgespräch mit dem Herrn Chef. Jetzt fängt der doch an zu rotieren, und zwar auch in gewisser Weise zu Recht, weil mitten auf dem Hof, auf dem Fabrikhof, stehen fünf LKWs und es gibt jetzt für einen Blinden keine reelle Chance, ohne Assistenz über diesen Fabrikhof zu kommen, zumindest nicht beim ersten Mal. Wenn ich dort arbeite, kenne ich den Hintereingang. Jetzt werde ich also schon von irgendeinem LKW-Fahrer, der zufällig gerade abkömmlich war, quasi im Personalbüro abgegeben. (...) [Ein] Danke, den Rest schaffe ich alleine, sollte mehr als deutlich sein (...) Aber in Wahrheit (...) reißt [er] die Tür auf und sagt: ‚Ich habe hier den Blinden!' [Da] ist nicht der Bewerber Herr [Josef], da ist der Blinde. (...) Jetzt fällt dem Müller irgendwie ein, scheiße, da war was, und er nimmt mich am Ellbogen und schubst mich in einen Raum, wo das Vorstellungsgespräch [stattfinden] soll." (Interview II, Seite 26)

Im Sinne des skandinavischen relationalen Modells von Behinderung (vgl. Kapitel 2.4) kann das von Josef hier beschriebene Szenario als person-environment-mismatch interpretiert werden - das Unternehmensgelände ist aus der Sicht struktureller Kompensation nicht barrierefrei gestaltet und das Personal ist mit den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung in einer nicht barrierefreien Umgebung nicht vertraut, sodass auch intervenierende Kompensation als inadäquat für Betroffene und belastend für die intervenierenden Personen empfunden wird.

"Er sagt mir nicht, da sitzt schon der Chef und der Abteilungsleiter und der Betriebsratsvorsitzende und rechts von Ihnen ist ein Sessel, wo Sie sich hinsetzen können und geben Sie mir bitte ihre Jacke, ich hänge sie auf die Garderobe links hinter [Ihnen]. Der schubst mich da rein, (...) Ich taste da rum, stoße vielleicht noch eine Kaffeetasse um und bis ich dann sitze, habe ich mir schon dermaßen viel soziale Reputation versaut, dass ich eigentlich gar nicht hätte hingehen müssen." (Interview II, Seite 27)

Die kontextverfehlende Kompensation führt nun dazu, dass sich Josef - in der Rolle eines Bewerbers - nicht gemäß seiner Rollenerwartung verhalten kann. An dieser Stelle kommt es also, im Gegensatz zum antizipierten Verhalten durch eine bestimmte Rollenerwartung nun zu einem tatsächlichen Konflikt mit den Erwartungshaltungen des potentiellen Arbeitgebers. In der Vergangenheit konnte Josef daher nur über Vermittlung durch Bekannte und entsprechende Netzwerke an Jobs herankommen, wie er selbst offen feststellt:

"Ich habe in meinem Leben nie einen einzigen Job über den freien Arbeitsmarkt bekommen, sondern das waren immer irgendwelche Vitamin-B-Geschichterln. [Gemein sind persönliche Beziehungen zu Menschen, welche Arbeitsgelegenheiten an regulären Stellenausschreibungsprozessen vorbei vermitteln können, d.Verf.]" (Interview II, Seite 24)

Als Konsequenz dieses Diskriminierungsprozesses ist Josef im Moment selbstständig und auf Honorarbasis tätig. Ein anderer Ausweg könnte darin bestehen, dass Josef seine Bedürfnisse wie Eva oder Patricia vorab nachdrücklich kommuniziert. So könnte er sich kurzfristig vor einem Bewerbungsgespräch nochmals via E-Mail ankündigen und dabei darauf hinweisen, dass er als Blinder gewisse Unterstützungsleistungen benötigt. Damit kann er verhindern, seinem potentiellen Arbeitgeber in einer unvorhergesehenen Situation zu begegnen und damit - in Evas Worten Stress auf beiden Seiten - auszulösen.

6.1.5.1 Zusammenfassung

Durch den Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie GPS gelingt Josef sehr viel individuelle Kompensation, sodass er trotz völliger Erblindung über große räumliche Mobilität verfügt. Wo diese nicht möglich ist, etwa an Kreuzungen oder Bahnsteiganlagen, bevorzugt Josef strukturelle Kompensation, welche jedoch vor allem der Minimierung von Gefahren für Betroffene dienen sollten.

Die Ablehnung intervenierender Kompensationsmöglichkeiten basiert für Josef vor allem auf der oftmals als inadäquat empfundenen Art der Hilfestellung und der Aufgabe von Autonomie bei der Annahme aufgedrängter Hilfeleistungen. Im engeren sozialen Umfeld, von seiner Lebensgefährtin oder in seinem Lebensmittel-Stammgeschäft akzeptiert Josef intervenierende Kompensation, welche in diesen Situationen in einer für ihn zufriedenstellenden Art ausgehandelt werden konnte. In diesem Umfeld ist auch Reziprozität für Josef sehr wichtig - er möchte für die ihm gebotene Hilfe eine Gegenleistung erbringen.

Integrationsdefizite und Diskriminierung erlebt Josef vor allem im Berufsleben, wo er auf Situationen trifft, in welchen zunächst weder strukturelle noch individuelle Kompensation möglich sind, intervenierende Kompensation jedoch nur in inadäquater Weise angeboten wird, sodass er etwa in Vorstellungsgesprächen auf große gesellschaftliche Barrieren stößt. Darüber hinaus stellen unzutreffende Rollenerwartungen von Menschen, zu denen Josef kaum sozialen Kontakt hat, eine Belastung dar. Einerseits schränken sie ihn in seinem Bestreben nach Autonomie (in Form von aufgedrängten Hilfeleistungen) ein, andererseits beschränken sie seine beruflichen Chancen und Möglichkeiten.

6.2 Resümee

Die dargestellten Fallbeispiele zeichnen zunächst ein sehr individualisiertes Bild der Lebenswelten blinder und sehgeschädigter Menschen. Anhand biografischer Details zeigt sich eine beachtliche Bandbreite an Partizipationschancen, die jedoch zum Teil nur unter großem persönlichen Engagement und Anstrengungen realisiert werden konnten.

Im Bildungssektor spannt diese etwa ein weites Feld zwischen einer Ausbildung an einem Bundes-Blindeninstitut analog zur Pflichtschulausbildung bis hin zu Bildungswegen durch den tertiären Bildungssektor auf. In der Berufsausübung zeigt sich ebenfalls ein hoher Grad an Variation, welche von Arbeitslosigkeit bzw. Frühpensionierung über "klassische" Blindenberufe wie etwa Telefonistin bzw. Telefonist bis hin zu selbstständig ausgeübter Tätigkeit reicht. Viele Betroffene verfügen hier über ein hohes Maß an individueller Kompensationsfertigkeit, welche sich etwa in der geeigneten Selbstorganisation von Arbeitsabläufen und oftmals unter Zuhilfenahme moderner Technologien (Computer, GPS, Internet) äußert.

Auch das Freizeitverhalten deckt ein großes Spektrum ab: Verena ist die einzige blinde Person ihres Kulturvereins, sie verbringt diesen Teil ihrer Freizeit also ausschließlich mit sehenden Menschen, während David beinahe ausschließlich blinde Menschen zu seinem Freundeskreis zählt.

Gemeinsame Problemlagen existieren dagegen insbesondere in Bezug auf räumliche Mobilität im öffentlichen Raum sowie auch in Bezug auf damit verbundene Tätigkeiten wie zum Beispiel dem Einkaufen.

Behördenwege dagegen können wiederum von allen Interviewpartnern mit Ausnahme von Verena auf elektronischem Wege bewältigt werden.

Der öffentliche Raum hält für sehgeschädigte Menschen Barrieren bereit, welche oftmals nicht oder nur unzureichend durch individuelle Kompensation wie technische Hilfsmittel bewältigt werden können, sodass Betroffene auf vorhandene strukturelle oder intervenierende Kompensationsangebote angewiesen sind. Stehen diese nicht zur Verfügung, so versuchen Betroffene derartige Situationen gänzlich zu meiden: Beispielsweise Josef, der einen Umweg zum Ort seiner Freizeitaktivitäten nimmt.

Grundsätzlich wird jedoch jedwede Bewegung im öffentlichen Raum von blinden Personen als Belastungssituation wahrgenommen, welche zwei Dimensionen beinhaltet: Erstens bestehen im öffentlichen Raum Gefahrenmomente, beispielsweise an komplexen und ungeregelten Verkehrskreuzungen oder Mittelspur-Straßenbahnhaltestellen, wo die Fahrbahn zum Besteigen des öffentlichen Verkehrsmittels überquert werden muss. Zweitens bestehen Unbestimmtheitsmomente, welche nicht zur unmittelbaren Gefährdung Betroffener führen, jedoch die Orientierung erschweren und zu anderen als den gewohnten Wegstrecken zwingen, wie etwa Marktstände, die auf einem taktilen Leitstreifen errichtet wurden oder Doppelhaltestellen, die dazu führen, dass Betroffene oftmals ein Verkehrsmittel verpassen.

Fast alle Betroffene beschreiben die Situation in beiden Dimensionen mit einem Stressgefühl, deren Bewältigung sehr viel Konzentration und Aufmerksamkeit erfordert. Sie können sich daher gegebenenfalls nicht rechtzeitig anderen Dingen widmen, wie etwa Josef, der sich aufgrund des komplizierten Weges zu seiner Arbeitsstelle nicht mehr auf eine bevorstehende Besprechung vorbereiten konnte.

Strukturelle Kompensation hält für Betroffene eigene Tücken bereit, wenn sie inadäquat ausgelegt ist. Am Beispiel der akustischen Ampel kritisieren etwa sowohl Petra als auch David, dass in Wien mehrere unterschiedliche Systeme parallel in Verwendung sind, welche sich durch verschiedene akustische Stopp und Los-Signale unterscheiden. David kritisiert ferner, dass es ihm die verkehrsabhängige Lautstärkenregelung der Ampeln unmöglich macht, auf diese mithilfe seines Gehörs zu zugehen, um sie zu aktivieren. Die variable Lautstärke täuscht ihn über die geschätzte Entfernung zur Ampelanlage. Schließlich übt Eva Kritik an der Tatsache, dass die Ampelanlagen durch Schneeräumungsarbeiten im Winter oftmals zugeschüttet und damit für Betroffene nur sehr schwer (und im Falle ihrer Gehbehinderung überhaupt nicht) erreicht werden können, um die Signalgeber zu aktivieren.

Soziale Interaktion mit Menschen außerhalb des Familien- und Freundeskreises wird von vielen Betroffenen mit Berührungsängsten, Missverständnissen und fehlendem Bewusstsein beschrieben.



[7] Unter dem Begriff Personal Shopper stehen Menschen mit entsprechenden Bedürfnissen in größeren Supermärkten Großbritanniens ad hoc Personen zur Verfügung, welche die Einkäufe ausführen. Gemäß dem Tiroler Blinden- und Sehbehindertenverband soll dieses Konzept nun auch in den Tiroler Filialen der Handelskette SPAR implementiert werden. Quelle: http://www.tbsv.org/index.php?site=spar2011 (Zugegriffen 5. Feb. 2012).

7 Diskussion der Forschungsfragen

7.1 Vorüberlegungen: Bestehen in den Dimensionen der Forschungsfragen systematische Unterschiede zwischen blinden und hochgradig sehbehinderten Menschen?

Zunächst soll diskutiert werden, ob sich bezüglich der Forschungsfragen systematische Unterschiede zwischen sehgeschädigten und blinden Personen im Partizipationsvermögen zeigen. Eine derartige Differenzierung liegt vor allem bei der Beurteilung der räumlichen Mobilität nahe.

7.1.1 Räumliche Mobilität

Von allen blinden Gesprächspartnerinnen und -partnern gab nur Josef an, ohne weitere Kompensation struktureller oder intervenierender Art prinzipiell alle Wegstrecken und explizit auch unbekannte Wege alleine bewältigen zu können. Alle übrigen Personen sahen sich auf bekannten Wegen oftmals auf strukturelle und intervenierende Kompensationsangebote angewiesen und müssen das Begehen unbekannter Wege in Begleitung erlernen oder vermeiden solche gänzlich, in dem sie etwa wie im Falle von Patricia und Tom das Taxi benutzen. Allen blinden Personen des Samples gemein ist, dass sie mit räumlicher Mobilität ein psychisches Belastungsmoment erleben, welches fast übereinstimmend mit hohem Stress und Anspannung beschrieben wird.

Dagegen benennen die zwei hochgradig Sehbehinderten Petra und Patrick weitaus weniger Barrieren im öffentlichen Raum.

Petra, welche mit stark eingeschränktem Blickfeld und einem klinisch ermittelten Visus von 0,2 über ein, gemessen an den anderen Personen des Samples, vergleichsweise hohes Restsehvermögen verfügt, ist im öffentlichen Raum sehr mobil, kann sich auch abseits bekannter Wegstrecken orientieren und nutzt keine der von der Stadt Wien angebotenen strukturellen Kompensationsmöglichkeiten.

Von Stress spricht sie erst in Zusammenhang mit ihren Kindern. Sie kann etwa am Spielplatz nicht auf beide gleichzeitig im Blickfeld behalten.

Patrick leidet an einer Sehschädigung als Folge einer voranschreitenden Makuladegeneration. Im Gegensatz zu Petra verfügt er ausschließlich über ein geringes Restsehvermögen in der Peripherie des Gesichtsfeldes, welches es ihm jedoch ermöglicht, mithilfe einer Lupe Texte zu lesen und sogar sein Mobiltelefon in Verbindung mit einem integrierten GPS-Empfänger und Google Maps, einem Kartendienst zur Orientierung, zu verwenden. Patrick kann sein Restsehvermögen gut nutzen, sodass er selbst mit für sehgeschädigte und blinde Menschen vergleichsweise schwierigen Situationen wie etwa dem selbstständigen Überqueren ungeregelter Straßenkreuzungen gut zu Recht kommt. Er spricht zu keinem Zeitpunkt davon, dass räumliche Mobilität für ihn etwas Belastendes darstellen würde, wohl aber, dass er sich zur Orientierung manchmal Zeit nehmen müsse, um beispielsweise die Umgebung via Kartendienst auf seinem Mobiltelefon zu erfassen. Auch Patrick nutzt kaum strukturelle Kompensationsangebote außer akustischen Ampeln, wo sie verfügbar sind.

Die größere autonome räumliche Mobilität hochgradig sehbehinderter Menschen beruht demnach auf zwei Faktoren:

Erstens, die Fähigkeit, Schwarzschrift gegebenenfalls mit Unterstützung einer Lupe oder eines Fernrohrs für größere Distanzen wie beispielsweise Straßennamen zu lesen, verschafft hochgradig sehbehinderten Personen im öffentlichen Raum insofern einen Vorteil gegenüber blinden Menschen, als dass schriftliche Informationen im öffentlichen Raum kaum in Brailleschrift angeboten werden. Außerdem erfordert die Erfassung von Brailleschrift einen völlig anderen Wahrnehmungszugang: Selbst wenn ein Verkehrsmittel via Braillebeschriftung identifiziert werden könnte, gelingt dies natürlich nicht, wenn es auf der anderen Straßenseite in eine Haltestelle einfährt oder sich die Haltestelle auf der Mittelspur einer Fahrbahn befindet - eine Situation, die alle blinden Personen im Sample für sich selbst als besonders hohe Gefährdung einschätzen.

Das Erkennen von Text und Symbolen erlaubt es hochgradig sehbehinderten Personen, Informationen über eine - ihnen gegebenenfalls unbekannte - Umwelt zu erhalten und diese Möglichkeit senkt das psychische Belastungsmoment, welches blinde Personen im öffentlichen Raum erleben.

Interpretierte man diese Art von Information, im trivialsten Falle ein Pfeil, der zum Ausgang einer U-Bahnhaltestelle weist, als strukturelle Kompensation für sehende Menschen gegenüber sehenden Menschen, denen die U-Bahn Station bereits bekannt ist, so würden etwa mit RFID-Technologie ausgestatte Hinweisschilder (und im weiteren Falle: jedwede in Schwarzschrift verfügbare Information) ein strukturelles Kompensationsangebot für blinde Personen mit dem entsprechenden Lesegerät darstellen. Brailleschrift bietet dagegen, wie bereits beispielhaft begründet, aufgrund der geringen Wahrnehmungsreichweite keine adäquate Kompensation.

Zweitens verfügen sehgeschädigte Personen zumindest über rudimentäre visuelle Orientierungsfertigkeiten. Solche sind bereits dann vonnöten, wenn eine Kreuzung mit komplexer Straßengeometrie - etwa einer schiefwinkelig verlaufenden Querstraße oder nicht lotrecht zur Gehsteigkante geführter Fußgängerüberquerung - überquert werden muss. Ohne weitere Details erkennen zu können, vermag sich eine Person mit gewissem Restsehvermögen bereits anhand der gegenüber liegenden Straßenseite zu orientieren, wohingegen blinde Menschen auf taktile Leitsysteme unmittelbar auf der Fahrbahn, akustische Ampelanlagen oder andere Fußgänger angewiesen sind. Ich möchte diese Art der Orientierung als Meso- Orientierung in der Größenordnung bis zu mehreren Metern bezeichnen.

Bei der Orientierung im größeren Raum, in der Dimension ganzer Straßenzüge oder Häuserblocks fällt der Status "hochgradig sehbehindert" oder "blind" nicht weiter ins Gewicht. Analog zur Meso-Orientierung soll diese Art der Orientierung als Makro- Orientierung bezeichnet werden. Der Wahrnehmungsvorteil hochgradig sehbehinderter Personen gegenüber blinden Menschen fällt in dieser Orientierungskategorie aus zweierlei Gründen kaum mehr ins Gewicht: Zum einen erlaubt es das Restsehvermögen sehgeschädigter Personen nicht, Details in größerer Entfernung auszumachen, zum anderen steht blinden Menschen durch GPS mit Sprachausgabe eine potente Orientierungshilfe im Sinne individueller Kompensation zur Verfügung.

Mit einer Positionsgenauigkeit selbst im dicht bebauten urbanen Raum von 10 bis 20 Metern können diese Ortungssysteme fehlende Makro-Orientierung ersetzen, nicht jedoch die Meso- Orientierung.

Auch die unmittelbare Orientierung im Bereich bis zu einem Meter - nun konsequenterweise als Mikro-Orientierung zu bezeichnen - spielt in der Diskussion räumlicher Mobilität eine wichtige Rolle. Hier geht es darum, unmittelbare Hindernisse, Gehsteigkanten, Stiegen und dergleichen auszumachen, wofür blinden Menschen der Taststock zur Verfügung steht. Barrieren im Bereich der Mikro-Orientierung können sich jedoch in den Meso-Bereich hinein erstrecken.

Eva und Petra beschreiben etwa solche Situationen, wenn Marktstände oder Autos taktile Leitstreifen blockieren und sodann nicht klar wird, welcher sich als der beste Weg um das Hindernis herum erweist.

Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass blinde Menschen den meisten Barrieren im Bereich der Meso-Orientierung begegnen und dort jedoch abgesehen von sporadisch vorhandenen akustischen Ampelanlagen und taktilen Leitsystemen auf keinerlei strukturelle Kompensationsangebote zugreifen können. Gleichwohl bieten die verbleibenden Kompensationsmöglichkeiten intervenierender und individueller Natur oftmals keinen adäquaten Ersatz, sodass insgesamt festzustellen ist, dass die räumliche Mobilität der blinden Gesprächspartnerinnen und -partner mit Ausnahme von Josef gegenüber hochgradig sehbehinderten Menschen erheblich herabgesetzt ist. Der weitestgehend alternativlose Zugang zu grafischen Informationen trägt hier ebenfalls dazu bei.

Hinzu kommt, dass räumliche Mobilität für blinde Menschen mit einem hohen Maß an erforderlicher Konzentration und Aufmerksamkeit verbunden ist, um mit alternativen Orientierungsstrategien zu arbeiten und um mit der Unbestimmtheit von Barrieren, sofern sie sich nicht innerhalb des Tastbereiches befinden, umgehen zu können. Dies soll nun anhand des folgenden Szenarios illustriert werden:

Abbildung 4: Mikro-, Meso- und Makro-Orientierung am Beispiel einer Straßenüberquerung. (Der Begriff "alternativ" bezeichnet dabei Alternativen zum Sehsinn.)

Die Abbildung zeigt eine praxisbezogene Anwendung der drei Orientierungsbegriffe. Die Situation erfordert, die Straße in einem schiefen Winkel zur Gehsteigkante zu überqueren, wie von der Person links im Bild gezeigt wird.

Dazu muss zunächst die Gehsteigkante als Begrenzung der Fahrbahn erfasst werden, was in der dargestellten Position für einen blinden Menschen bereits mit dem Taststock möglich ist. Zur groben (Makro-)Orientierung würde sich eine sehende oder zumindest hochgradig sehbehinderte Person an den Häuserzeilen oder Straßenzügen im Hintergrund halten, um den Überblick zu bewahren. Derlei Orientierungsaufgaben können sehgeschädigte und blinde Personen bereits mit GPS-Geräten von hinreichender Genauigkeit bewältigen. Die eigentliche Aufgabe, nämlich die Straße im richtigen Winkel zu überqueren, um die Straßeninsel am linken Bildrand zu erreichen, fällt jedoch in den Bereich der Meso-Orientierung, wofür die Genauigkeit der Positionsbestimmung via handelsüblichem GPS-Gerät nicht ausreicht. Gleichfalls bietet die durch parkende Autos "zerklüftete" gegenüberliegende Straßenbegrenzung erhebliche Schwierigkeiten beim Auffinden des richtigen Weges via Mikro-Orientierung, also dem Überqueren der Straße im rechten Winkel zur Gehsteigkante und anschließendem Entlangtasten mit dem Taststock.

Hinzu kommt, dass an dieser Stelle Niederflur-Straßenbahnen mit verminderter Geschwindigkeit verkehren, die aufgrund ihres leisen Fahrgeräusches neben der stark befahrenen Straße (links im Bild) von vielen blinden Personen überhaupt nicht wahr genommen werden.

Durch strukturelle Kompensation ließe sich diese Barriere der Meso-Orientierung sehr leicht beseitigen, indem ein taktiles Leitsystem über die Straße geführt wird, welches blinden Menschen eine sichere Überquerung im richtigen Winkel ermöglicht, ohne den Weg vorab mit einer Begleitperson zu erlernen.

Eine solche Lösung wurde nach einem Schlichtungsverfahren vor dem Bundessozialamt auch tatsächlich implementiert, ist jedoch durch Bauarbeiten in diesem Bereich wiederum als dysfunktional mit hohem Gefährdungspotential zu beurteilen, da die taktilen Leitstreifen nicht mehr konsistent der neuen Wegführung folgen, sondern unverhofft auf der Straße enden.

In diesem Zusammenhang muss erneut hingewiesen werden, dass hochgradige Sehbehinderung funktionell gesehen keine abgeschwächte Form von Blindheit darstellt, sondern dass hochgradig sehbehinderte und blinde Personen grundverschiedene Anforderungen an ihre Wahrnehmungsfähigkeit haben: Jene Gesprächspartnerinnen und - partner, welche mit einer Sehbehinderung geboren wurden und erst im Laufe der Jahre völlig erblindeten, gaben an, sich über lange Zeit hinweg ausschließlich anhand ihres Restsehvermögens, so gering es auch ausgeprägt gewesen war, orientiert zu haben. Erst beim Eintreten der Blindheit erlernten sie aufgrund der kulturellen Dominanz des Sehsinns die entsprechenden Tast- und auf anderen Sinneswahrnehmungen fußenden Orientierungsfertigkeiten blinder Menschen. (vgl. dazu Kapitel 3.6.1)

Dieser Umstand bedingt, dass ausschließlich für blinde Menschen konzipierte Kompensationsangebote von hochgradig sehbehinderten Personen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht genutzt werden können. Strukturelle Kompensationsangebote sollten daher stets mindestens zwei Sinne ansprechen.

7.1.2 Soziale Interaktionen

Das weite Feld sozialer Interaktionen soll zu einem späteren Zeitpunkt eingehend analysiert werden. In Bezug auf eine mögliche Differenzierung von hochgradig sehbehinderten und blinden Personen ist vorab festzustellen, dass viele der von meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern berichteten Konflikte für die Beteiligten aus der Diskrepanz zwischen einer bestimmten Erwartungshaltung an soziales Handeln und tatsächlich stattgefundenem Handeln resultieren. Eine Möglichkeit, diese Diskrepanzen zu mindern, besteht in der Kennzeichnung hochgradig sehbehinderter und blinder Personen. Während hochgradig sehbehinderte Personen in den Interviews das Tragen entsprechender Verkehrsschutzzeichen ablehnen, werden diese von blinden Personen generell angenommen, wobei jene überdies durch den Taststock erkenntlich sind.

Motive für die Annahme liegen vor allem in der Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz[8]. Blindensymbol-Armbinden tragende Personen erfordern per Gesetz die besondere Rücksichtnahme durch andere Verkehrsteilnehmer. Darüber hinaus gaben einige der interviewten Personen an, die Kennzeichnung würde auch weitere Konfliktsituationen, etwa die Kollision mit anderen Passanten, mindern. David etwa spricht offen darüber, dass er sich hierdurch bei Zusammenstößen mit Passanten nicht mehr entschuldigen oder seine Situation erklären müsse, zumal aus seiner Sicht klar ist, dass die Personen im ihn herum Acht zu geben hätten. Von diesem Blickwinkel aus kann die sichtbare Kennzeichnung hochgradig sehbehinderter und blinder Personen eine Entlastungsfunktion für die an einer sozialen Situation Beteiligten einnehmen.

Wenn Petra in Zusammenhang mit ihrer hochgradigen Sehbehinderung berichtet, dass sich ihre Kolleginnen am Arbeitsplatz daran gestoßen haben, nicht von ihr gegrüßt zu werden, weil sie ihre Kolleginnen nicht erkennen konnte, so könnte die Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung des Gegrüßt-werdens und dem tatsächlichen Ausbleiben desselben ebenfalls durch eine Kennzeichnung Petras als hochgradig sehbehindert gemindert werden.

Dies war offensichtlich der Fall, als Petra berichtet, dass sie bei der Frage nach der Liniennummer des an der Haltestelle einfahrenden Busses weniger despektierliche Kommentare zur Antwort erhielt, sobald die angesprochenen Personen ihre starken Brillengläser - anstelle der vormals getragenen Kontaktlinsen - wahrgenommen hatten.

Neben einem Hinweis für die an der gegebenen Situation beteiligten Personen kann eine Kennzeichnung jedoch auch zur Stigmatisierung führen, wie sie beispielhaft Eva widerfuhr, als sie einen Passanten an einer Kreuzung um Hilfe fragte und sich dieser angesichts der Situation überfordert fühlte. Seine darauffolgend erleichterte Reaktion deutet darauf hin, dass er blinde Menschen als besonders hilflos und anspruchsvoll einschätzte und diese Einschätzungen auf Eva übertragen hatte.

Diese Art der Stigmatisierung blinder Menschen hat jeder meiner Gesprächspartnerinnen und -partner im öffentlichen Raum also im Kontext äußerst loser Sozialkontakte erlebt. Das Verhaltensspektrum der stigmatisierenden Personen reicht dabei vom Ignorieren der Fragen blinder Menschen (in Situationen wie der zuvor Beschriebenen) bis hin zu unaufgeforderten Hilfeleistungen. Ebenso reichen die Interpretation und Reaktionen seitens der stigmatisierten Personen von Unsicherheit (ob die Frage nicht gehört, verstanden oder bewusst ignoriert wurde) oder passivem Erdulden der aufgezwungenen Hilfeleistung bis hin zu physischem Widerstand. Die Mechanismen und Folgen dieser Stigmatisierungsprozesse sollen zu einem späteren Zeitpunkt analysiert werden. Hinsichtlich der Differenzierung von sehgeschädigten und blinden Menschen in Bezug auf soziale Interaktion soll an dieser Stelle zwei wichtige Unterscheidungsmerkmale festgehalten werden:

Zunächst haben Menschen mit Sehbehinderung gegenüber blinden Menschen oftmals die Wahl, ob sie sich gegenüber ihrer Umwelt a priori als sehbehindert (beispielsweise durch das Tragen von Armbinden) zu erkennen geben oder nicht. Blinde Menschen sind dagegen beispielsweise auf ihren Taststock angewiesen und daher situationsunabhängig von ihrem Umfeld als blind zu erkennen.

Darüber hinaus unterscheiden sich die Erkennungszeichen von Sehschädigung und Blindheit in Bezug auf die vom Umfeld wahrgenommene Stärke der Erkennungswirkung. Eine schwache Wirkung, wie sie etwa von hoch brechenden Brillengläsern ausgeht, kann unterschiedliche Erwartungshaltungen in einer sozialen Situation nivellieren, während starke Erkennungsmerkmale zu Stigmatisierungseffekten führen.

7.1.3 Zusammenfassende Betrachtungen

Sowohl hinsichtlich räumlicher Mobilität als auch in Bezug auf soziale Interaktionen bestehen bedeutende Unterschiede zwischen hochgradig sehbehinderten und blinden Menschen. Eine wie auch immer geartete Sehbehinderung mit visueller Restwahrnehmung ist in Bezug auf die Erfahrung von Barrieren und Diskriminierung jedenfalls nicht als "abgeschwächte" Form von Blindheit zu interpretieren: Das Verhältnis von (normalem) Sehvermögen, Sehbehinderung und Blindheit entspricht hinsichtlich dieser Effekte keiner Graduierung. Hochgradig sehbehinderte Menschen verfügen über ein höheres Maß an räumlicher Mobilität, da sie noch über die Fähigkeit zur Meso-Orientierung verfügen, für die für blinde Personen aktuell überwiegend keine adäquaten Kompensationsformen zu Verfügung stehen.

In der Dimension sozialer Interaktionen tragen sehgeschädigte Personen fakultativ schwache Erkennungszeichen, aufgrund derer sie ihre Sehbeeinträchtigung a priori ihrem Umfeld kommunizieren. Dies führt dazu, dass die Einschränkungen dieser Personengruppe vom Umfeld bisweilen nicht entsprechend gedeutet wird und Diskriminierungserfahrungen überwiegend aus der Zuschreibung mangelnder kognitiver Fähigkeiten resultieren.

Blinde Menschen dagegen tragen nicht zuletzt aufgrund des Taststocks obligatorisch starke Erkennungszeichen und sehen sich Diskriminierungen in Form von zugeschriebener Hilflosigkeit im öffentlichen Raum beziehungsweise aufgedrängten oder verweigerten Hilfeleistungen ausgesetzt.

7.2 Zum Verhältnis von struktureller und intervenierender Kompensation und der Bedeutung individueller Kompensation

7.2.1 Die Bedeutung individueller Kompensation

Die Bedeutung individueller Kompensation, wie ich sie im Kapitel 3.3 beschrieben hatte, wurde im Forschungsprozess vorab vor allem in Bezug auf blinde Personen stark unterschätzt, zumal sich in den Gesprächen eine beachtliche Diversität in der Ausgestaltung individueller Kompensation zeigte.

Neben den "klassischen" Hilfsmitteln wie Taststöcken (Mikro-Orientierung) und dem Blindenführhund (teilweise Meso-Orientierung), den einer der Interviewpartner führt, findet vor allem GPS in Verbindung mit dem sprachausgabegestützten Open-Source Projekt Loadstone[9] zur Makro-Orientierung Verbreitung.

Darüber hinaus finden auch sehr viele technische Geräte bei blinden Menschen Verwendung, welche ursprünglich nicht für diese Personengruppe konzipiert wurden. So erzählt Tom, wie er etwa die Video-Telefonie Funktion seines Mobiltelefons nutzt, damit ihm Bekannte bei der Auswahl von Kleidung oder beim Herbeirufen der Bedienung im Kaffeehaus behilflich sein können. Die Bedienung via Touchscreen, ohne ausreichendes taktiles Feedback, wird dagegen zum Beispiel von David sehr kritisch gesehen.

Hochgradig sehbehinderte Personen verwenden im Alltag oftmals optische oder elektronische Lupen, Ferngläser, Taschenlampen und GPS-Geräte ohne spezielle Anpassungen. Diese Personengruppe kann oftmals mithilfe von Vergrößerungshilfen Mobiltelefone und GPS-Geräte ohne Sprachausgabefunktionen bedienen.

Grundsätzlich ist festzustellen, dass der individuellen Kompensation Bedeutungen in drei Dimensionen zukommen. Im öffentlichen Raum benutzen hochgradig sehbehinderte und blinde Menschen Hilfsmittel, um ihre Mobilität zu verbessern, indem nicht oder nicht ausreichend vorhandene strukturelle Kompensationsangebote substituiert werden. Als Beispiele hierfür können etwa der Blindenführhund (um andernfalls für blinde Menschen nicht zu bewältigende Straßenüberquerungen zu ermöglichen) oder Taschenlampen, mit der sehgeschädigte Personen auch im Dunkeln, auf schlecht ausgeleuchteten Wegen ohne kontrastierende Leitlinien ihre Mobilität erhalten können, genannt werden.

Die zweite Dimension individueller Kompensation erfasst den Bereich täglicher Besorgungen: Vergrößerungshilfen kompensieren zu klein geschriebene Produktbeschriftungen und von blinden Menschen wird oftmals der Wunsch geäußert, taktil nicht eindeutig identifizierbare Produkte via Barcodescanner[10] erfassen zu können. Diese Form stellt tatsächlich eine Synthese aus struktureller und individueller Kompensation dar: Der Barcodescanner muss auf eine Datenbank mit Produktinformationen zugreifen können, die vom Geschäft bereitgestellt und gepflegt wird.

Als dritte Dimension eröffnet eine individuelle Kompensation Betroffenen Chancen am Arbeitsmarkt, welche über die Berufsbilder "klassischer" Blindenberufe wie Masseur, Telefonist, Korbflechter etc. hinausgehen. In Verbindung mit Computerhardware und Software zur Brailledarstellung und Sprachausgabe können sehgeschädigte und blinde Menschen in komplexe Arbeitsprozesse eingebunden werden.

Weiters bevorzugen manche blinden Personen individuelle Kompensation, weil sie strukturelle Kompensationsangebote in gesellschaftlichen Kontext interpretieren. Strukturelle Kompensation wird hierin zugunsten individueller Kompensation aus zwei Gründen abgelehnt beziehungsweise ausschließlich auf sicherheitsrelevante Bereiche wie Bahnsteigkanten reduziert. Erstens müssten strukturelle Kompensationsangebote in derselben Ausprägung für alle Arten von Behinderung - und darüber hinaus Mehrfachbehinderungen - angeboten werden, sodass es zu keiner Diskriminierung unter Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen kommt. Dabei ist jedoch zu betonen, dass diese Argumentation aus einer Metaposition heraus geführt wird. Hier steht der Gedanke im Vordergrund, dass unter einem wahrgenommenen Sachzwang begrenzter und unzureichender Ressourcen Ergebnisgerechtigkeit hergestellt werden soll.

Den zweiten Grund, strukturelle Kompensation im öffentlichen Raum abzulehnen, stellen Schäden durch Vandalismus dar. Nötige Reparaturmaßnahmen bedürften dabei ständiger Überwachung und wären kostspielig. Ausbleibende Reparaturen würden die Effektivität struktureller Kompensation drastisch verringern, da ihre Konsistenz verloren geht. In beiden Fällen bevorzugen Betroffene oftmals Formen individueller Kompensation, sofern auf dieser Ebene adäquater Ersatz zur Verfügung steht.

Das Verhältnis von individueller Kompensation zu intervenierender Kompensation ist dagegen weniger transparent zu beschreiben. Zwar zeigte sich in den Gesprächen, dass Betroffene individuelle Kompensation auch intervenierender Kompensation vorziehen, doch handelte es sich hierbei um Personen, welche ohnedies eine geringere Präferenz für intervenierende Kompensationsformen hatten. (s. Abb. 2)

Darüber hinaus muss die Substitution von intervenierender Kompensation durch individuelle Formen auch für jene Betroffene im Einzelfall differenziert betrachtet werden, welche eine hohe Akzeptanz für intervenierende Kompensationsformen aufbringen.

Das zuvor skizzierte Modell zur barcodegesteuerten Warenbeschreibung mag in einem Supermarkt gut funktionieren und wird dort auch fallweise von Betroffenen gewünscht. Doch beim Kauf von Bekleidung gibt es dagegen bereits eine starke Präferenz von intervenierender Kompensation, da in diesem Falle nicht nur das Auffinden von Waren kompensiert werden muss, sondern auch die Fähigkeit zur modischen Komposition von Bekleidung für die eine abrufbare Sachbeschreibung unter diesem Gesichtspunkt keine adäquate Kompensation mehr darstellt.

Eine Synthese aus individueller und intervenierender Kompensation analog zur strukturell-individuellen Barcode-Datenbank im Supermarkt stellt die bereits beschriebene Nutzung der Videotelefonie zur Abstimmung der Bekleidung oder zum Auffinden einer Servierkraft im Restaurant dar

Insgesamt lässt sich feststellen, dass individuelle Kompensation vor allem durch technischen Fortschritt voran getrieben wird und sich die zur Verfügung stehenden Mittel längst nicht mehr auf den Taststock, den Blindenführhund oder optische Vergrößerungshilfen beschränken. Mittlerweile existieren auch technische Hilfsmittel, welche explizit für den Personenkreis blinder und sehgeschädigter Menschen entwickelt wurden. Elektronische Lupen ermöglichen Abbildungsmaßstäbe über das bei gegebener Bauform rein optisch Mögliche hinaus bei gleichzeitig geringerer Abhängigkeit vom Umgebungslicht und der Fähigkeit, Kontraste zu verstärken, um somit ein breiteres Feld an Sehschwächen zu kompensieren. Darüber hinaus wurde etwa mit dem Milestone[11] ein multifunktionales Gerät entwickelt, welches unter anderem zur Aufzeichnung von Sprachnotizen, zur Farberkennung und zur Identifikation von Barcodes eingesetzt werden kann.

Als anspruchsvollste, jedoch gleichzeitig effizienteste Form individueller Kompensation kann in diesem Sinne die Herstellung beziehungsweise die Wiederherstellung des funktionalen Sehvermögens interpretiert werden.

Die Annahme am Beginn der Forschungsarbeit, individuelle Kompensation stünde nicht in Konkurrenz zu struktureller oder intervenierender Kompensation und könne deshalb für den Forschungsgegenstand vernachlässigt werden, erweist sich als nicht haltbar. In den folgenden Abschnitten möchte ich daher basierend auf den Interviews einen theoretischen Bezug zwischen struktureller beziehungsweise intervenierender Kompensation zur individuellen Kompensation herstellen. Am Ende des Kapitels soll schließlich der Versuch unternommen werden, ein Modell zu begründen, welches alle drei Kompensationsformen beinhaltet und die beobachteten Substitutionsmechanismen abzubilden vermag.

7.2.2 Strukturelle Kompensation - eine Bestandsaufnahme

Strukturelle Kompensationsmechanismen definierte ich im Kapitel 4.3 als eine technische Gestaltung oder Manipulation der Umwelt, welche Barrieren für sehgeschädigte und blinde Menschen mindert oder gänzlich beseitigt. Diese Gestaltung muss bestimmten Kriterien folgen, um mit dem Ziel struktureller Kompensation konsistent zu erscheinen. Werden diese Kriterien nicht erfüllt, so erleben Betroffene strukturelle Kompensationsmaßnahmen als unzureichend, unzuverlässig oder gar über die vorhandene Gefahrensituation hinaus gefährdend - etwa, wenn ein Leitsystem für sehgeschädigte Menschen geradewegs über einen offenen Kanaldeckel geführt wird.

Die in den Gesprächen geäußerten Ansprüche an strukturelle Kompensation können in vier Arten von Konsistenz zusammen gefasst werden:

  • Konsistenz durch Normierung: Die Funktionalität eines strukturellen Kompensationsangebotes sollte ortsunabhängig stets dieselbe sein.

  • Konsistenz in der technischen Implementierung: Die Ausgestaltung einer strukturellen Kompensationsmaßnahme sollte bei gegebenem technischen Aufwand eine bestmögliche Kompensationsleistung erzielen.

  • Konsistenz in der systematischen Implementierung: Die Verfügbarkeit eines strukturellen Kompensationsangebotes sollte nicht orts-, sondern situationsabhängig sein. So sollten etwa akustische Ampeln nicht ortsabhängig installiert werden, sondern immer dann, wenn ein bestimmter Komplexitätsgrad einer Straßenkreuzung erreicht ist.

  • Konsistenz in der gesellschaftlichen Implementierung: Gesellschaftliche Wechselwirkungen sollten keinen negativen Einfluss auf die Kompensationsleistung einer strukturellen Maßnahme nehmen. Auf Orientierungsleitstreifen platzierte Marktstände lassen das Leitsystem hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Implementierung inkonsistent erscheinen. Die Kompensationswirkung geht für seine Nutzerinnen und Nutzer verloren.

Die Wirkung dieser vier Konsistenzkriterien bezieht sich, weiter abstrahiert, auf zwei Dimensionen, welche für Betroffene die Akzeptanz struktureller Kompensationsangebote bestimmen:

Konsistenz durch Normierung, Konsistenz in der systematischen Implementierung und Konsistenz in der gesellschaftlichen Implementierung erhöhen die Erwartbarkeit an dieVerfügbarkeit struktureller Kompensation. Sie reduzieren damit die Unbestimmtheit im öffentlichen Raum. Konsistenz in der technischen Implementierung verbessert dagegen die Effektivität der Kompensationsleistung.

Grundsätzlich ist völlige Konsistenz in den beiden Dimensionen der Erwartbarkeit und der Effektivität gleichermaßen erwünscht. Treffen Menschen mit Sehschädigung auf ubiquitär verfügbare strukturelle Kompensationsangebote geringer Effektivität, so ist dies aus der Sicht Betroffener kaum besser zu beurteilen als das sporadische Vorhandensein hoch effektiver struktureller Kompensationsmaßnahmen.

Kumuliert betrachtet, wurden von meinen Gesprächspartnern folgende strukturelle Kompensationsangebote genannt:

  • Akustische Ampelanlagen

  • Taktile Leitstreifen im Bereich öffentlicher Verkehrsmittel, an Bahnsteigkanten und entlang von Straßenüberquerungen

  • Taktile Leitstreifen auf Fußgängerwegen und Plätzen

  • Barrierefreie Weg- und Stationsbeschreibungen der Wiener Linien

  • Verkehrsinformationssystem Qando[12] zur Nutzung mit Mobilgeräten

  • Mittelbare Orientierungsmerkmale

7.2.2.1 Akustische Ampelanlagen

Akustische Ampeln signalisieren Grün- und Rotphasen nicht nur optisch, sondern auch akustisch, in der Regel durch eine veränderte Taktfolge des Signalgebers. Im Ruhezustand geben sie ebenfalls akustische Signale von sich, damit sie von sehgeschädigten Personen aufgefunden und durch einen Tastendruck aktiviert werden können.

Akustische Ampelanlagen wurden in den Gesprächen durchwegs als essentiell für Mobilität und Autonomie im öffentlichen Raum angesehen. Zwar können Kreuzungen mit niedrig komplexer Verkehrsführung noch nach Gehör mit dem Parallelverkehr überquert werden, doch bei komplexen Kreuzungsgeometrien mit Abbiege- und Straßenbahnspuren sowie schiefwinkeliger Straßenüberquerung sehen sich vor allem blinde Menschen überfordert. Diese Überforderung führte bei zwei Gesprächspartnern, David und Tom, zu einer konzentrationsbedingten Verschlechterung des akustischen Ortungssinnes, was ihre Schwierigkeiten mit latenter akustischer Orientierung weiter ausprägte.

Durch eine akustische Ampelanlage werden solche Situationen bewältigbar, indem die Gefährdung Betroffener stark reduziert wird: Das Tonsignal zeigt nicht nur die Grünphase an, sondern das korrelierende Signal auf der anderen Straßenseite weist auch die Gehrichtung bei schiefwinkeligen Überquerungen. Damit wird es vor allem blinden Personen ermöglicht, Kreuzungen ohne die Hilfe von (eventuell vorhandenen) Passanten zu überqueren. Durch die akustischen Signale wird vermieden, dass Betroffene die Kreuzungsgeometrie aufgrund der wahrgenommenen Verkehrsflüsse rekonstruieren müssen, sodass akustischen Ampelsystemen eine bedeutende Entlastungs- und Sicherheitsfunktion zukommt. Akustische Ampeln verringern damit auch die Stresswahrnehmung, welche viele Betroffene im Kontext von räumlicher Mobilität erfahren.

Anhand der aktuellen Implementation akustischer Ampelanlagen der Stadt Wien sind jedoch mehrere Kritikpunkte derartiger Systeme anzuführen, welche ihre Effizienz als strukturelle Kompensationsmaßnahme erheblich senken, weil ihre Wirkungsweise dadurch inkonsistent - oder gar widersprüchlich - wird. Basierend auf den Gesprächen muss die Effektivität struktureller Kompensation unter Berücksichtigung der Konsistenzkriterien folgendermaßen betrachtet werden:

  • Konsistenz durch Normierung: Innerhalb der Stadt Wien kommen verschiedene akustische Ampelsysteme zur Anwendung, welche sich in der Signalisierung von Rot- und Grünphasen unterscheiden. Um die Ampeln nutzen zu können, müssen Betroffene zuerst erkennen, um welchen Ampeltyp es sich handelt, um die Signale richtig zu interpretieren, die Maßnahme ist daher aus der Sicht der Normierung als inkonsistent zu beurteilen.

  • Konsistenz in der technischen Implementierung: Manche Ampelanlagen passen die Lautstärke der Signale der Geräuschpegel ihrer Umgebung an. Bei dichtem Verkehr klingen sie lauter als bei geringem Verkehrsaufkommen. Die geringe Hysterese der Lautstärkenanpassung ist jedoch derart gering gewählt, dass selbst einzelne oder in kleineren Schüben vorbeifahrende Autos zu einer Änderung im Signalpegel führen. Das gezielte Auffinden der Ampelanlagen sowie der Gegenstelle beim Überqueren der Straße mittels Gehör wird Betroffenen damit erschwert, zumal die Wahrnehmung der Lautstärkenänderung zur Abschätzung der Entfernung herangezogen wird. Ein variabler Signalpegel erschwert die Ortung folglich, was einerseits zu Schwierigkeiten beim Auffinden und damit Aktivierung der Anlagen führt und andererseits beim Überqueren der Straße ein beachtliches Gefahrenmoment darstellt, insbesondere in Abwesenheit anderer Erkennungsmerkmale, welche eine für Fußgänger geschützte Verkehrsfläche kennzeichnen. (z.B. eine Gehsteigkante, ein taktiles Feld etc.) In Bezug auf die technische Implementierung sind aktuelle Installationen akustischer Ampelanlagen daher als hochgradig inkonsistent zu beurteilen.

  • Konsistenz in der systematischen Implementierung: Da nur ein Bruchteil der Ampelanlagen der Stadt Wien mit akustischen Signalgebern ausgestattet sind, können sehgeschädigte Personen nicht darauf vertrauen, ein solches System an jeder geregelten oder "komplexen" Kreuzung vorzufinden. Das Ausmaß an struktureller Kompensationsfähigkeit dieser Maßnahme im öffentlichen Raum ist damit als stark beschränkt zu beurteilen. Dies hat zur Folge, dass Betroffene oftmals Umwege wählen, um an ihr Ziel zu gelangen oder diese Wegziele aus Gründen der Gefährdung und der damit verbundenen psychischen Belastung gänzlich aufgeben.

  • Beide Szenarien konnten in den Interviews dokumentiert werden, wobei letzteres Szenario eine gravierende Einschränkung der räumlichen Mobilität darstellt, welche mit einer ausgesprochenen Verringerung des gesellschaftlichen Partizipationsvermögens einhergeht. Hinsichtlich der systematischen Implementierung sind akustische Ampeln als strukturelles Kompensationsmerkmal daher inkonsistent.

  • Konsistenz in der gesellschaftlichen Implementierung: Schnee von Fahrbahnen und Gehsteigen wird vom den Räumungsdiensten oftmals an den Ampelmasten abgeladen. Die dadurch entstehenden Schneeberge, die in Abhängigkeit von der Wetterentwicklung gänzlich vereisen können, erschweren es Betroffenen, sich den Signalgebern zu nähern, um diese zu aktivieren. In einem solchen Fall erlischt die Kompensationswirkung dieser Maßnahme vollständig und ist aus der Sicht gesellschaftlicher Implementierung daher inkonsistent.

Akustische Ampeln bedeuten eine wichtige Orientierungshilfe für blinde und sehgeschädigte Menschen. Sie sind von hoher Relevanz für die Sicherheit dieser Personengruppe im Straßenverkehr. Das Prinzip der akustischen Ampelanlage stellt eine gute strukturelle Kompensation für die Schwierigkeiten dar, welche Betroffenen beim Überqueren von Kreuzungen widerfahren. Durch die mangelnde Konsistenz dieser Maßnahme empfinden jedoch viele Personen mit Sehschädigung akustische Ampeln durch ihre sporadische Installation als unzuverlässig und durch die verschiedenen im Einsatz befindlichen Konzepte als belastend.

7.2.2.2 Sicherheitsrelevante Leitstreifen im Bereich öffentlicher Verkehrsmittel, an Bahnsteigkanten und entlang von Straßenüberquerungen

Basierend auf den Interviews kann die Aussage getroffen werden, dass unter blinden Personen weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass Leitsysteme an sicherheitsrelevanten Stellen unbedingt notwendig sind. Als solche wurden die Bahnsteigkanten in den U-Bahn und S-Bahnstationen sowie an Straßenbahnhaltestellen und Straßenüberquerungen ohne akustische Ampelanlagen genannt.

Die Präsenz von Leitstreifen in diesen Bereichen ist mit Ausnahme von Straßenübergängen vergleichsweise gut, entsprechend stehen der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im U-Bahn Bereich und an regulären Straßenbahn- und Bushaltestellen sehgeschädigten Menschen vergleichsweise geringe Barrieren gegenüber.

  • Systematisch betrachtet ergeben sich jedoch erneut erhebliche Kritikpunkte im Hinblick auf die vier Konsistenzkriterien struktureller Kompensation:

  • Konsistenz durch Normierung: Die Ausführung der Leitlinien ist nicht normiert. Es existieren neben aufgeklebten Streifen auch in den Boden gefräste bzw. geformte Rillen. Die zweite Gattung Leitstreifen bietet keinen Farbkontrast zum Untergrund und ist damit nur taktil zu erfassen. Für Personen mit hochgradiger Sehbehinderung kann diese Ausführung keinen einen Beitrag zur Orientierung leisten. Hinsichtlich ihrer Normierung sind Leitstreifen derzeit als inkonsistent zu beurteilen.

  • Konsistenz in der technischen Implementierung: Die fallweise Verwendung von gefrästen Leitstreifen ohne Kontrastmerkmal beschränkt die Wahrnehmung der Leitstreifen auf den Taststock. Für hochgradig sehbehinderte Personen ist die strukturelle Kompensationswirkung aufgrund der fehlenden Implementierung des Zwei-Sinne Prinzips[13] nicht ausreichend, die technische Konsistenz daher nicht gegeben.

  • Konsistenz in der systematischen Implementierung: Zumindest im Bereich der U-Bahn Stationen sind die Bahnsteige vollständig mit Leitstreifen abgesichert, wodurch die Leitstreifen als strukturelles Kompensationsangebot systematisch konsistent erscheinen. Für Straßenbahnstationen und Straßenüberquerungen, an denen die Leitstreifen ebenfalls eine höchst sicherheitsrelevante Bedeutung zukommt, wird dieses Konsistenzkriterium durch bestenfalls sporadische Ausstattung dagegen nicht erfüllt.

  • Konsistenz in der gesellschaftlichen Implementierung: Die Leitstreifen werden oftmals von wartenden Fahrgästen blockiert. Die von den Wiener Linien als Betreiberin des U-Bahn Netzwerkes eingeforderte Korridorwirkung der Leitstreifen wird damit nicht erfüllt. Blinden Personen, die anhand des Taststocks zu erkennen und zu hören sind, wird zwar Platz gemacht, doch hochgradig sehbehinderte Personen, welche über weniger starke Erkennungszeichen verfügen, können die Leitstreifen insbesondere bei hohem Fahrgastaufkommen kaum nutzen. Daher erscheinen Leitstreifen als strukturelles Kompensationsmerkmal aus der Sicht gesellschaftlicher Implementierung ebenfalls inkonsistent.

Ebenso wie akustische Ampelanlagen, zeigt auch die zweite große Gruppe sicherheitsrelevanter struktureller Kompensationsangebote im öffentlichen Raum gravierende Konsistenzdefizite auf mehreren Ebenen. Dagegen könnte die konsistente strukturell kompensierende Ausstattung öffentlicher Bereiche mit erhöhtem Gefahrenpotential für sehgeschädigte Menschen neben einer objektiven Verbesserung der Sicherheitslage einen erheblichen entlastenden Einfluss auf die von Betroffenen wahrgenommenen Stressmomente nehmen.

7.2.2.3 Orientierungsleitstreifen im öffentlichen Raum

Im Gegensatz zur ersten Gruppe sicherheitsrelevanter Leitstreifen ist unter dieser Gruppe von Leitsystemen ein dichtes Netzwerk an Leitlinien zu verstehen, welches den öffentlichen Raum für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen erschließt, sodass sie diesen ohne vorheriges "Erlernen" von Wegstrecken begehen können.

Im Gegensatz zu den Leitsystemen an sicherheitsrelevanten Stellen besteht bei Betroffenen keine Einigkeit über Notwendigkeit und das Ausmaß der Verbreitung dieser Gattung von Orientierungsleitsystemen. Die drei verschiedenen Positionen sollen im Folgenden dargestellt werden:

Manche Betroffene wünschen sich ein besonders dichtes Netz an Leitstreifen, da sie dieses als wichtiges Orientierungsmittel verwenden. Diese Gruppe hat noch keine Erfahrung im Umgang mit GPS-Geräten und wünscht sich, dass das Leitsystem auch Abzweigungen zu sogenannten Points of Interest - etwa wichtigen Geschäften, Bankomaten usw. - anbietet. Ein solches Leitsystem, welches den öffentlichen Raum großflächig und primär strukturell-kompensierend erschließt, wurde beispielsweise in Tokyo, Japan, implementiert.

Die vielen Verästelungen eines solchen Systems scheinen für manch andere Betroffene irritierend zu sein. Demzufolge könne das Leitsystem nicht das Erlernen von Wegstrecken ersetzen, zumal eine Raumvorstellung zur Orientierung bestehen müsse. Auch diese Gruppe benutzt keinerlei GPS-Geräte zur Makro-Orientierung. Dieser Argumentation muss daher entgegnet werden, dass in Verbindung mit der Nutzung von GPS das Leitsystem die systembedingten Ungenauigkeit der urbanen satellitengestützten Positionsbestimmung kompensieren kann und damit betroffenen Personen als Synthese von struktureller und individueller Kompensation ein hohes Maß an räumlicher Mobilität ermöglichen könnte.

Die dritte Position zu nicht sicherheitsrelevanten Leitsystemen im öffentlichen Raum wurde nur von einer blinden Person im Interviewsample vertreten, welche durch die extensive Nutzung eines GPS-Geräts bereits sehr gute Mobilität erlangt hatte. Die Kritik am Ausbau des Leitsystems ist in diesem Falle eine wirtschaftliche beziehungsweise eine Frage der Verteilung von Ressourcen. Demzufolge sollten aus den Mitteln zum Ausbau des Leitsystems zunächst eher rollstuhlgerechte Zugänge zu Gebäuden und Verkehrsmitteln finanziert werden, um auf diesem Wege unter begrenzten, zur Verfügung stehenden Ressourcen, Ergebnisgerechtigkeit zu erzielen.

Zusammenfassend betrachtet gilt festzuhalten, dass hochgradig sehbehinderte und blinde Personen nicht sicherheitsrelevanten Leitsystemen im öffentlichen Raum bisweilen kritisch gegenüber stehen, obgleich diese bei schwer ertastbaren - etwa rollstuhlgerecht abgesenkten - Gehsteigrändern und auf großen Plätzen wichtige Orientierungshilfen darstellen könnten. Tatsächlich können diese Leitsysteme aus Konsistenzdefiziten heraus ihre Funktion oftmals jedoch nur unzureichend oder überhaupt nicht erfüllen, sodass viele Betroffene derartige Orientierungshilfen in ihrer Wegplanung überhaupt nicht berücksichtigen.

  • Konsistenz durch Normierung und Konsistenz in der technischen Implementierung: Hier gilt, was bereits für sicherheitsrelevante Leitsystem festgestellt wurde. Die verschiedenen Ausführungsarten der Leitstreifen entsprechen zum Teil nicht dem Zwei-Sinne Prinzip mit der entsprechenden Exklusion von hochgradig sehbehinderten Personen vom Kompensationsangebot.

  • Konsistenz in der systematischen Implementierung: Die Wegführung der Leitsysteme folgt teilweise wenig nachvollziehbaren Routen, beispielsweise direkt über Kanaldeckel, welche bisweilen geöffnet sind und damit eine erhebliche zusätzliche Gefährdung der Nutzer darstellt. Überdies kommen Leitsysteme derzeit vergleichsweise punktuell zum Einsatz, sodass die allermeisten Wegstrecken nur zum Teil mithilfe von Orientierungsleitstreifen bewältigt werden können. Betroffene müssen sich daher jedenfalls mit alternativen Orientierungsmöglichkeiten auseinander setzen.

  • Konsistenz in der gesellschaftlichen Implementierung: Die Funktion der Leitsysteme wird von sehenden Menschen nicht immer erfasst beziehungsweise bedacht, sodass sehgeschädigte Personen häufig über parkende Autos, Marktstände, Baustellenabsperrungen oder andere Passanten klagen, welche das Leitsystem für sie blockieren und ob der Ungewissheit des Hindernisses und möglicher alternativer Wege ein hohes psychisches Belastungsmoment für Betroffene darstellen.

Ähnlich wie im Falle akustischer Ampelanlagen könnten Leitsysteme im öffentlichen Raum die wichtige Funktion der Meso-Orientierung auf struktureller Ebene erfüllen, für welche blinden Menschen aktuell keine adäquate individuelle Kompensationsmöglichkeit zur Verfügung steht. Dazu müssten die beiden Konsistenzdefizite durch gut geplanten Ausbau des Systems sowie durch bewusstseinsbildende Informationskampagnen in der Bevölkerung abgebaut werden, sodass sich Betroffene tatsächlich auf die Effektivität dieses Kompensationsangebots einlassen und sich damit vertraut machen können.

7.2.2.4 Barrierefreie Weg- und Stationsbeschreibungen der Wiener Linien

Die Wiener Linien als Betreiber der öffentlichen Verkehrsmittel und deren Anlagen in der Stadt Wien bieten auf einer eigens eingerichteten Webseite[14] ausführliche verbale Beschreibungen sämtlicher U-Bahn Stationen sowie der für Betroffene günstigsten Vorgehensweise zum Ein-, Um- bzw. Aussteigen und den verschiedenen Stationsausgängen an.

Dieser Service wird von vielen hochgradig sehbehinderten und blinden Personen genutzt, weil auf diesem Wege die Anforderungen an die Orientierungsfertigkeiten Betroffener vor Ort gesenkt werden können. Die Wegbeschreibungen sind in Zusammenhang mit der Ausgestaltung der U-Bahn Stationen zunächst zwar als strukturelles Kompensationsangebot zu sehen, wird jedoch via internetfähiges Mobiltelefon bei der Ankunft in der Station darauf zugegriffen, um sich ad hoc zu orientieren, so handelt es sich hierbei bereits um eine der bereits benannten Syntheseformen aus struktureller und individueller Kompensation. Die Unterscheidung ist hier insofern von Bedeutung, weil der mögliche Mobilzugriff Spontaneitätim Mobilitätsverhalten ermöglicht. Hinsichtlich ihrer Konsistenz ist die Ausgestaltung dieses Kompensationsangebots als sehr gut zu bewerten:

  • Konsistenz durch Normierung: Alle Beschreibungen folgen einer einheitlichen Form, welche einen Stationsüberblick, das Zu- und Aussteigen sowie das Erreichen von Anschlussverkehrsmitteln und den Zugang zum Oberflächenverkehr umfasst. Konsistenz durch Normierung ist damit hinreichend gegeben.

  • Konsistenz in der technischen Implementierung: Die Bereitstellung der Informationen auf einer den Bedürfnissen sehgeschädigter Personen entsprechend gestalteten Webseite ist zweckmäßig und schöpft durch den möglichen ad hoc Zugriff auf die Informationen das Potential dieser Kompensationsmaßnahme gut aus.

  • Konsistenz in der systematischen Implementierung: Die Beschreibungen umfassen alle U-Bahn Stationen im Netzwerk und erscheinen dadurch hinsichtlich ihrer systematischen Implementierung konsistent.

  • Konsistenz in der gesellschaftlichen Implementierung: Stationsarbeiten werden zeitnah in die Beschreibungen eingepflegt bzw. separat angekündigt, sodass Konsistenz in der gesellschaftlichen Dimension gegeben ist.

Gemeinsam mit der umfassenden Installation sicherheitsrelevanter Leitstreifen an den Bahnsteigkanten ermöglichen die barrierefreien Stationsbeschreibungen hochgradig sehbehinderten und blinden Personen die Nutzung des U-Bahn Netzwerks mit vergleichsweise geringen Hürden.

7.2.2.5 Verkehrsinformationssystem Qando zur Nutzung mit Mobilgeräten

Die Nutzung des Verkehrsinformationssystems Qando nimmt unter den hier beschriebenen strukturellen Kompensationsangeboten ebenfalls eine Sonderstellung ein, da es sich um eine Synthese aus struktureller und individueller Kompensation handelt. Die Betreiberin des Systems stellt zwar die Daten - und die Möglichkeit des Abrufes - ähnlich der barrierefreien Wegbeschreibungen der U-Bahn Stationen als strukturelles Angebot zur Verfügung, doch der Abruf erfolgt in jedem Falle ad hoc vom internetfähigen Mobilgerät der Benutzerin oder des Benutzers.

Qando wurde nicht eigens für die Belange sehgeschädigter Personen entwickelt. Von dieser Personengruppe wird es jedoch (auch) verwendet, um einfahrende Straßenbahnen oder Busse zu identifizieren. Die Anwendung stellt damit eine Kompensation für die oftmals kritisierte mangelnde Identifikationsmöglichkeit von Straßenbahnen und Bussen dar. In dieser Hinsicht ist Qando als Synthese aus struktureller und individueller Kompensation in allen vier Dimensionen als konsistent zu bewerten.

7.2.2.6 Mittelbare Orientierungsmerkmale

Unter dem Begriff mittelbarer Orientierungsmerkmale möchte ich die große Anzahl baulicher und einrichtungsbezogener Merkmale zusammenfassen, welche von blinden und hochgradig sehbehinderten Personen zur räumlichen Orientierung verwendet wird, ohne dass solche Merkmale per se für diese Personengruppe installiert wurden.

Mittelbare Orientierungsmerkmale bietet insbesondere eine räumliche Gestaltung, die strikt bestimmten Regeln folgt - also einem gewissen Grad der Normierung unterliegt -, sodass sehgeschädigte Personen daraus Informationen über ihre Umwelt beziehen können. Wenn etwa ein Gebäude über Aufzüge verfügt, deren Türen entlang eines Ganges angeordnet sind und sich vor diesen Türen jeweils Teppiche als Gestaltungsmerkmal befinden, so können sehgeschädigte Menschen die Aufzüge finden, ohne dass diese darüber hinaus gekennzeichnet wären.

Aufgrund der mangelnden Verbreitung dedizierter struktureller Kompensationsangebote und deren zuvor skizzierten Nutzungsproblemen orientieren sich viele Betroffene an solchen mittelbaren Merkmalen.

Vor allem seitens hochgradig sehbehinderter Personen wird daher der aktuelle Architekturtrend zu sehr homogen ausgestalteten Gebäudeinterieurs kritisiert: Böden mit groben, kontraststarken Mustern geben dieser Personengruppe in Ermangelung gesondert installierter Leitsysteme Hinweise über den Wegverlauf, den Zugang zu Türen oder Treppenhäusern, während Böden, die allenfalls über Mikrotextur verfügen und kaum einen Kontrast zu den Wänden bilden, nicht mehr zur Orientierung herangezogen werden können.

7.2.2.7 Das Zusammenspiel verschiedener struktureller Kompensationsangebote

Bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes, welche sich an den Erfordernissen von Menschen mit Behinderung orientiert, sollten mehrere strukturelle Kompensationsangebote zum Einsatz kommen. Einerseits lassen sich mit einem einzigen strukturellen Kompensationsangebot nicht alle möglichen Bedürfnisse abdecken, andererseits gilt es auch, Bedürfniskollision und die daraus entstehenden Zielkonflikte so gering wie möglich zu halten. Angeschrägte Gehsteigkanten bieten beispielsweise Personen im Rollstuhl bei der Straßenüberquerung strukturelle Kompensation, nehmen jedoch blinden Menschen einen wichtigen Bezugspunkt - nämlich die tastbare Gehsteigkante. Dieser Bezugspunkt kann durch den Einsatz eines taktilen Leitsystems wiederhergestellt werden. Um auch den Erfordernissen hochgradig sehbehinderter Personen zu entsprechen, sollte sich das taktile Leitsystem überdies ähnlich Fahrbahnmarkierungen durch seinen Kontrast von der Umgebung abgrenzen, also zumindest zwei Sinne ansprechen. Da das Leitsystem bei Schneefall in der Regel nur sehr schlecht genutzt werden kann - festgetretener Schnee verschließt die Zwischenräume der taktilen Linien und der optische Kontrast nimmt ab - sollte überdies eine akustische Ampelanlage installiert werden, welche auf die Kreuzung aufmerksam macht. Im Zuge des Zwei-Sinne Prinzips sollte am Signalgeber eine tastbare Skizze der Kreuzung angebracht sein, um beim Ausfall des Leitsystems bei den durch Verkehrslärm nicht akustisch wahrnehmbarer Gegenampel die Gehrichtung zu vermitteln.

Beide Kompensationsangebote bilden somit eine redundant ausgelegte strukturelle Kompensation. Fällt ein System aus, so können sich darauf angewiesene Personen immer noch auf der Ebene struktureller Kompensation bewegen. Diese Redundanz ist vor allem bei sicherheitsrelevanten Kompensationsangeboten wichtig.

7.2.2.8 Abschließende Betrachtungen zur strukturellen Kompensation

Strukturelle Kompensation muss für Betroffene als Infrastrukturmerkmal im öffentlichen Raum bewertet werden. Als solches muss effektive strukturelle Kompensation auch erwartbar und effektiv sein.

Viele der analysierten Kompensationsangebote sind dies nicht, sodass Betroffene oftmals nur einen geringen Nutzen daraus ziehen können oder gänzlich auf andere Kompensationsformen ausweichen müssen.

Die großflächige Implementierung struktureller Kompensation erfordert gleichzeitig jedoch einen erheblichen Ressourcenaufwand, welcher teilweise selbst von Betroffenen mit Verweis auf die Diskriminierung anderer Formen von Behinderung abgelehnt wird.

Im Hinblick auf die Verbesserung der Autonomie sehgeschädigter Menschen im öffentlichen Raum sind daher auch weitere Formen der Synthese von struktureller und individueller Kompensation denkbar. Hinsichtlich der Konsistenzdefizite vieler Angebote bestünde eine solche Maßnahme etwa darin, Kartenmaterial für GPS-Geräte anzubieten, welches ein Netz an barrierefreien Wegen, also Wegstrecken mit hoher Dichte an strukturellen Kompensationsangeboten enthält. Diese Merkmale struktureller Kompensation könnten als sogenannte Points of Interest beschrieben und bei der Routenberechnung mit Priorität berücksichtigt werden. Ein solches Projekt, welches strukturelle, individuelle und sogar intervenierende Kompensation vereint, wird zum Zeitpunkt dieser Arbeit gerade unter dem Namen ARGUS[15] entwickelt.

Zu beachten ist jedenfalls, dass die von Betroffenen erlebte und benutzte strukturelle Kompensation vorrangig im öffentlichen Raum stattfindet. Mobilität im öffentlichen Raum wurde zwar als eine Prärequisite gesellschaftlicher Partizipation identifiziert, doch ist räumliche Mobilität alleine noch kein hinreichender Indikator für gesellschaftliche Partizipation.

Bereits bei vergleichsweise trivialen Tätigkeiten wie dem Einkaufen von Lebensmitteln stoßen Betroffene rasch auf Barrieren, welche sie aktuell nur noch durch individuelle oder intervenierende Kompensationsformen überwinden können. Im nächsten Kapitel sollen daher die von Betroffenen erlebten intervenierenden Kompensationsformen analysiert werden.

7.2.3 Intervenierende Kompensation - eine Bestandsaufnahme

Intervenierende Kompensation habe ich im Kapitel 4.3 als unterstützendes Eingreifen einer oder mehrerer Personen definiert.

Im Gegensatz zu den Formen struktureller Kompensation erleben sehgeschädigte und blinde Menschen intervenierende Kompensation nicht nur im öffentlichen Raum und dort zum Zwecke der Mobilität, sondern auch bei einer Vielfalt an Tätigkeiten, beim Einkaufen, in der Freizeit etc.

Intervenierende Kompensationsformen zu analysieren, setzt daher eine systematische Gliederung voraus. Eine solche kann durch die Betrachtung des Grades der Institutionalisierung der jeweiligen Kompensationsform erreicht werden.

7.2.3.1 Ausprägungen und Formen der Institutionalisierung

Werner Fuchs-Heinritz et al. bezeichnen Institutionalisierung als "[den] Vorgang der Generalisierung und Typisierung von gegenseitig aufeinander bezogenen und stark habitualisierten Handlungen, sodass sich relative konstante Handlungs- und Beziehungsmuster herausbilden." (Fuchs-Heinritz et al. 2007: 299)

Hinsichtlich intervenierender Kompensationsformen lässt sich feststellen, dass ein Spektrum an nicht bzw. kaum bis hin zu hochgradig institutionalisierten Ausprägungen existiert.

Ein Passant, der einen blinden Menschen darauf aufmerksam macht, dass die Fußgängerampel auf grün geschaltet hat und sogleich anbietet, die blinde Person über die Straße zu begleiten, stellt eine kaum institutionalisierte Form intervenierender Kompensation dar. Ebenso wie eine sehende Kundin, die einem blinden Kunden auf dessen Bitte hin eine bestimmte Joghurtsorte aus dem Regal sucht.

Dagegen ist eine persönliche Assistenz am Arbeitsplatz als höchst institutionalisierte Ausprägung von intervenierender Kompensation zu betrachten: Es existiert ein - im weiten Sinne definiertes - vertragliches Verhältnis über das Ausmaß der zu erbringenden Leistungen. Ferner existiert ein formales Prozedere, welches zur Zuerkennung persönlicher Arbeitsassistenz führt und die Assistenz wird als Dienstleistung von Unternehmen erbracht.

Zwischen diesen beiden Punkten existiert ein kontinuierliches Spektrum an Institutionalisierungsgraden. Von manchen Betroffenen werden Taxidienste verwendet, um räumlich mobil zu sein, jedoch bitten manche Betroffene der Fahrerin oder dem Fahrer fallweise auch, sie bei Ankunft in das gewünschte Gebäude zum Portier zu begleiten. Während der erste Teil dieser Kompensationshandlung, die Taxifahrt, einen vergleichsweise hohen Institutionalisierungsgrad aufweist, so unterliegt der zweite Teil des Kompensationsprozesses einem geringen Institutionalisierungsgrad und hohem Freiheitsgrad in der praktischen Ausgestaltung intervenierender Kompensation.

Tatsächlich wird diese, im Kapitel 4.3 als Freiheit zur Aushandlung der Kompensationsleistung identifizierte Eigenschaft, bei geringfügig institutionalisierter intervenierender Kompensation eher als Belastung für Betroffene empfunden, wie im Folgenden diskutiert werden soll.

7.2.3.2 Asymmetrische Beziehungen in nicht institutionalisiertem Kontext intervenierender Kompensation

Betroffene erleben die Beziehung zu jenen Personen, welche eine Kompensationsleistung für sie erbringen, regelmäßig als hochgradig asymmetrisch. Die Asymmetrie beruht dabei auf drei Gesichtspunkten:

Erstens empfinden sehgeschädigte und blinde Personen eine Asymmetrie in der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen: Oftmals sind sie selbst es, welche den Kontakt initiieren (müssen), um Barrieren überwinden zu können.

Die Kontaktaufnahme erweist sich für Betroffene bisweilen als sehr belastend, sodass manche Personen gänzlich darauf verzichten und nach Wegen suchen, unüberwindbare Barrieren zu vermeiden. Dies kann die Wahl eines alternativen Weges, beispielsweise entlang weniger stark befahrener Straßen sein. Diese Vorgehensweise kann sich jedoch auch in der Nicht- Teilnahme an einer Veranstaltung manifestieren und stellt damit eine gravierende Beschränkung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten dar.

Die Kontaktaufnahme wird erschwert durch die Ungewissheit, ob jene Person überhaupt existiert, die Betroffene versuchen anzusprechen und ob diese Person auf die Kontaktaufnahme reagiert. Eine Nichtreaktion stellt für Betroffene ein hohes Maß situativer Unbestimmtheit dar: Die angesprochene Person könnte sich gar nicht in Gesprächsreichweite befinden, um sich angesprochen zu fühlen, sie könnte ferner die Kontaktaufnahme nicht wahrnehmen, weil sie mit Musikhören oder Telefonieren beschäftigt ist, ebenso wie eine Nichtreaktion als bloße Verweigerung der Kontaktannahme zu deuten sein könnte. Das Reaktionsspektrum Betroffener reicht dann von aggressiven (im Sinne forscheren Ansprechens oder Schimpfens) bis hin zu resignierenden Handlungen (im Sinne der zuvor beschriebenen Vermeidungsstrategien).

Ist der Kontakt hergestellt, so nehmen viele Betroffene zweitens für sich fehlende Reziprozität wahr. Sie sehen sich als Bittstellende, oftmals auf Gefallen und Unterstützung ihres Umfeldes angewiesen, ohne eine Gegenleistung erbringen zu können. Wird die Kompensationsleistung im Bekannten- und Freundeskreis erbracht, beispielsweise indem ein blinder Mensch in Begleitung einer befreundeten Person einkaufen geht, so orientieren Betroffene ihren Tagesablauf stark an jenem der unterstützenden Personen, um aus ihrer Sicht möglichst wenig zur Last zu fallen. Damit einhergehend erleben Betroffene jedoch auch ein Gefühl von geringer Autonomie. Sie finden sich also in einem Konflikt wieder, in dem sie einerseits versuchen, sozialen Erwartungen in Bezug auf reziprokes Verhalten gerecht zu werden, andererseits ihrem Wunsch nach Autonomie nachzukommen.

In den Gesprächen äußerten vor allem blinde Personen oftmals das Bedürfnis, eine Gegenleistung für die Unterstützung innerhalb des Familien- und Freundeskreises zu erbringen. Dies gelingt in Relation zum Umfeld vor allem dann, wenn die Person über spezielle Fertigkeiten etwa Sprach- oder EDV-Kenntnisse verfügt.

Personen, welche sich ehrenamtlich z.B. in einem Verein engagieren, bringen ihr Bedürfnis nach Reziprozität weit weniger stark zum Ausdruck. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass diese Personengruppe den verinnerlichten Erwartungen auf dem Wege der generalisierten Reziprozität - beispielsweise im Zuge der Vereinsarbeit - begegnet.

Bei flüchtigen Sozialkontakten, etwa in Situationen, wo blinden Menschen beim Einsteigen in die Straßenbahn geholfen wird, scheint die Norm der Reziprozität bereits erfüllt zu sein, wenn sich die blinde Person als Zuhörerin oder Gesprächspartnerin wahr genommen fühlt.

Drittens bemerken insbesondere blinde Personen eine Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Durch das Tragen von starken Erkennungszeichen wie Taststock undBlindensymbol werden sie von ihrer Umwelt situativ oftmals als gefährdet oder hilfloswahrgenommen, was Betroffenen durch entsprechendes Eingreifen unmittelbar kommuniziertwird. So geraten vor allem blinde Menschen oftmals in Situationen, in welchen sie sich gutzurechtfinden und dennoch einen intervenierenden Eingriff erfahren. Eine solcherartintervenierende Kompensation lässt keinen Spielraum für Aushandlungen - die Hilfeleistungerfolgt ungefragt und ungewollt. Wird die Hilfeleistung abgelehnt, so widersprechenBetroffene der Erwartungshaltung der Helfenden und das Verhalten wird sanktioniert. VieleBetroffene meiden daher die daraus resultierenden möglichen Konflikte und dulden dasVerhalten. Als Begründung steht neben der persönlichen Konfliktvermeidung auch ein Bezugsgefühl zur Gruppe der Blinden, deren Repräsentantin gegenüber Sehenden die Personin der jeweiligen Situation gerade ist. Demzufolge würde kooperatives Verhalten dazu führen,dass Sehende auch zukünftig Blinden Unterstützung zuteil werden lassen, wenn diese siebenötigen.

Freiheit über die Ausgestaltung einer Kompensationsmaßnahme wurde im Kapitel 4.3. als Vorteil intervenierender Kompensation interpretiert, weil sie der Anpassungsfähigkeit der Individualität von Behinderung Rechnung trägt. Während strukturelle Kompensationsangebote in der Regel relativ starr in ihrer Verwendungsmöglichkeit implementiert sind und lediglich durch die Synthese mit individueller Kompensation an Flexibilität gewinnen, steht es sehgeschädigten Personen im Sinne intervenierender Kompensation relativ frei, wie sie etwa über eine Straße begleitet werden oder wie die Unterstützung beim Einkaufen im Detail ausgestaltet wird.

Die große Interaktionsfreiheit wirkt sich bei nicht institutionalisierter intervenierender Kompensation tatsächlich jedoch oft zum Nachteil Betroffener aus: Aufgrund der asymmetrischen Beziehungen können sehgeschädigte Menschen ihre Aushandlungschancen oftmals nicht wahrnehmen: Wie bereits dargestellt, beginnt dies zum Teil schon bei der Kontaktaufnahme.

7.2.3.3 Intervenierende Kompensation im institutionalisierten Kontext

Im Sinne von Fuchs-Heinritz et al. liegt ein institutionalisierter Kontext für intervenierende Kompensation dann vor, wenn die Erwartungshaltung der beteiligten Personen miteinander korrelieren.

Eine Möglichkeit, diese Korrelation von Erwartungshaltungen herbeizuführen, bietet die Formalisierung intervenierender Kompensation. Eine solche findet beispielsweise in der Organisation der Kompensation in Assistenzgemeinschaften statt.

Für Betroffene stellt diese Institutionalisierung einen einfacheren Zugang zu intervenierender Kompensation dar, das Verhältnis der Interaktionspartner wird als weniger stark asymmetrisch empfunden.

Beispielsweise besteht bereits beim Ansprechen eines Verkäufers zwecks Unterstützung beim Einkaufen für Betroffene kein Bedürfnis nach Reziprozität mehr - ganz im Gegensatz zum Ansprechen eines anderen Kunden in derselben Situation.

Der Unterschied liegt in der Rolle des Verkäufers und damit verknüpften Erwartungshaltung. Von ihm wird erwartet, dass er Kunden unterstützt und berät. Wie diese Unterstützung im konkreten Falle ausgestaltet wird - oder er nun ein Produkt von einem hohen Regal nimmt oder ein bestimmtes Produkt für einen blinden Kunden sucht -, bedeutet in der Wahrnehmung Betroffener keinen Unterschied mehr.

Manche blinde Personen wünschen sich intervenierende Kompensation im Sinne einer Dienstleistung, also einer besonders stark institutionalisierten Ausprägung. So wird der Wunsch nach Freizeitassistenz[16] damit begründet, dass Betroffene in einem gewissen Zeitkontingent frei über die Unterstützung verfügen können. Damit können diese Personen ihren Alltag mit mehr Autonomie selbst strukturieren, ohne in die oftmals mit nicht institutionalisierte, intervenierende Kompensation verbundene "Reziprozitätsfalle" zu geraten.

Tatsächlich haben sehgeschädigte Personen mit Ausnahme einer Arbeitsassistenz bei Erwerbstätigkeit jedoch kaum Zugang zu solcherart institutionalisierten Kompensationsformen. Von Betroffenen werden diese jedoch vor allem bei Einkäufen, bei Behördengängen sowie fallweise im Bereich räumlicher Mobilität, überall wo strukturelle Kompensation nicht vorhanden ist oder ineffektive Maßnahmen substituiert werden sollen, gewünscht.

Defacto kommt es oftmals zu lokal ausgeprägten Institutionalisierungen, wenn sehgeschädigte Personen ihre Stammgeschäfte aufsuchen und mit der Geschäftsleitung Zeiten vereinbaren, in denen sie mit der Unterstützung des Verkaufspersonals rechnen können.

Im Falle von Behördenwegen berichten Betroffene oft von Einigungen mit Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern, manche Dinge ausnahmsweise eher telefonisch als vor Ort zu erledigen. Gerade die Interaktion mit Behörden wird von Betroffenen jedoch auch aufgrund des bereits gut ausgebauten e-Governments und damit der Möglichkeit, viele Formulare online zu bearbeiten und zu senden, als überwiegend positiv erlebt. Mobilitätserfordernisse werden in Ermangelung struktureller Kompensation oftmals mittels Fahrtendiensten erfüllt.

Um die Vorteile dieser lokalen Institutionalisierungsprozesse nutzen zu können und nicht stets neuen Aushandlungserfordernissen unterworfen zu sein, zeigen insbesondere blinde Personen eine besonders stark ausgeprägte Präferenz für Stammgeschäfte, Stammcafes, Stammlokale etc.

Die geringe Flexibilität in der Auswahl an Dienstleistungen ist ein Zugeständnis an die durch Aushandlungsprozesse geformte Beständigkeit der Dienstleistung.

Von vielen Betroffenen wird jedoch der Wunsch nach mehr Verständnis seitens sehender Menschen vor allem für blinde Personen geäußert. Verständnis bezeichnet eine Angleichung der Erwartungshaltungen zwischen sehenden und blinden Personen, um das Ausmaß an Aushandlungsprozessen, welche nicht institutionalisierten intervenierenden Kompensationsformen voran gehen, zu verringern. Einige Personen engagieren sich zu diesem Zwecke privat oder im Umfeld von Vereinen in Projekten, welche zur Verbesserung der Verständigung zwischen sehenden, (hochgradig) sehbehinderten und blinden Menschen dienen sollen. Nach Fuchs-Heinritz et al. kann diese Art von Bewusstseinsbildung auch als latente Institutionalisierung (im Gegensatz zur zuvor beschriebenen formalisierten Ausprägung) bezeichnet werden.

7.2.4 Kompensation und Partnerschaft

Neun der Gesprächspartner lebten zum Zeitpunkt des Interviews in einer Partnerschaft, wobei die Partnerin oder der Partner mit einer einzigen Ausnahme sehend war. In einem Falle war eine blinde Frau mit einem hochgradig sehbehinderten Mann verheiratet. In fast allen Fällen erbrachte der besser sehende Partner oder die besser sehende Partnerin sehr viele intervenierende Kompensationsleistungen im Zusammenhang mit räumlicher Mobilität, täglichen Besorgungen, Freizeitgestaltung, nicht jedoch im Kontext von Erwerbsarbeit. Dabei erscheint die partnerschaftliche Beziehung in dieser Dimension von Reziprozitätserwartungen befreit.

Aufbauend auf dieser Beobachtung möchte ich argumentieren, dass intervenierende Kompensation in der Partnerschaft eine hochgradig institutionalisierte Ausprägung besitzt. Diese Institutionalisierung ist nicht vom Typus des Formalen, sondern geschieht durch Bewusstseinsbildung, durch eine von Erfahrung geleitete latente Angleichung von Erwartungshaltungen der Partner und Habitualisierung der Verhaltensweisen. So beschreiben Betroffene partnerschaftliche Aktivitäten, in denen Kompensationsleistungen erbracht wurden, als stark ritualisierte Prozesse - sei es eine strikte Arbeitsteilung beim Einkaufen, oder der modus operandi beim Wandern, wo beispielsweise die sehende Person mit Musik voran geht.

Mit Collins können diese Prozesse als Interaktionsrituale mit den damit verbundenen Entlastungsfunktionen interpretiert werden. (Collins zit. n. Vester 2009: 171)

7.2.5 Intervenierende Kompensation aus der Perspektive sehender Menschen

In der Diskussion intervenierender Kompensation muss die soziale Interaktion schließlich auch aus der Perspektive der intervenierenden, also zumeist sehenden Person betrachtet werden.

Wie bereits dargelegt, stellt die nicht institutionalisierte intervenierende Kompensation für hochgradig sehbehinderte und blinde Menschen aufgrund der stetigen und vielfältigen Aushandlungsprozesse eine große Belastungssituation dar, welche sogar zur gänzlichen Vermeidung dieser Kompensationsform führen kann.

Auch für die intervenierende, sehende Person stellt diese Kompensationsform eine erhebliche Belastung dar - so kommt es bereits bei vergleichsweise trivialen Unterstützungsleistungen wie dem Begleiten einer blinden Person über die Straße zu erheblichen Stressreaktionen. (vgl. Kapitel 6.1.3)

Ebenso kann diese Unsicherheit zu Nichtreaktionen führen. Als Grund für dieses Verhalten wird von sehgeschädigten Personen beinahe übereinstimmend die mangelnde Erfahrung Sehender im Umgang mit hochgradig sehbehinderten und blinden Menschen genannt. Es besteht auf Seiten der intervenierenden Personen also oftmals ein Informationsdefizit über die Bedürfnisse Betroffener.

Diese Defizite werden durch Wahrnehmungen, (beispielsweise einer blinden Person, die sich langsam die Straße entlang tastet) durch Eindrücke (etwa wie sehgeschädigte Personen durch sie vertretende Organisationen, Verbände und Vereine nach außen hin repräsentiert werden) zu Einschätzungen geformt, die mit dem tatsächlichen Sachverhalt nicht notwendigerweise korrelieren.

In der konkreten Situation tritt dann, je nachdem ob die betroffene Person über starke oder schwache Erkennungszeichen verfügt, Unter- oder Überschätzung der individuellen Fähigkeiten durch die sehende Person auf. Das Resultat sind inadäquate Interventionsmaßnahmen, wie sie bereits im Zuge der Fallbeispiele vorgestellt wurden: unaufgefordertes "Helfen" wider die Intentionen sehgeschädigter Personen, ebenso wie Verständnislosigkeit, weil die um Unterstützung fragende Person nicht als sehgeschädigt wahrgenommen wird.

Diese Systematik des Verhaltens verdichtet sich für Betroffene zur Stigmatisierung. Aggressive Reaktionen hochgradig sehbehinderter und blinder Menschen können bei den intervenierenden Personen ebenfalls zu aggressivem Reaktionen, jedenfalls aber zu weiterer Verunsicherung führen, wie insbesondere das Fallbeispiel Josefs zeigt. Ein gewisser Grad an Institutionalisierung intervenierender Kompensation ist also sowohl aus der Sicht Betroffener als auch aus der Perspektive intervenierender Personen zu befürworten.

7.2.6 Formalisierte und nicht formalisierte Institutionalisierung intervenierender Kompensation

Nachdem ich in den vorangegangenen Abschnitten begründete, dass nicht institutionalisierte intervenierende Kompensation aufgrund des großen Aushandlungsspielraums und der mitunter stark divergierenden Erwartungshaltungen von den Beteiligten der sozialen Situation als sehr belastend empfunden werden kann, möchte ich nun die beiden Möglichkeiten zur Institutionalisierung intervenierender Kompensation analysieren und ihre jeweiligen Konsequenzen beschreiben.

Wie bereits dargestellt, bezeichnet formalisierte Institutionalisierung eine Organisation der Intervention in Assistenzgemeinschaften mit ausgebildetem Personal. Es handelt sich auf gesellschaftlicher Ebene also um eine Spezialisierung der Kompensationstätigkeit. Diese Art Institutionalisierung wird vor allem von einigen blinden Menschen begrüßt, die damit eine Dienstleistung in Anspruch nehmen können, welche ihre Autonomie im Alltag vergrößert.

Gleichsam muss jedoch vor einem Übermaß von solcher Institutionalisierung gewarnt werden: Wird der Modus der Kompensation in einem Maße formalisiert, sodass die Kompensationsleistung bloß einem Protokoll entsprechend erbracht wird, so erstarrt die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit intervenierender Kompensation und ihre Effektivität droht auf das Niveau aktueller struktureller Kompensationsformen zu fallen.

Darüber hinaus muss kritisch angemerkt werden, dass der Begriff der Partizipation selbstverständlich alle Bereiche der Gesellschaft horizontal wie vertikal erfasst. Die Aufgabe der Kompensation daher einzig an eine spezialisierte Teilstruktur der Gesellschaft zu delegieren riskiert daher, Partizipationschancen Betroffener auf das Maß einer (wie auch immer gearteten) "Grundversorgung" zu reduzieren.

Unter dem Begriff interdependente Exklusionsmechanismen werde ich im Kapitel 7.4 Szenarien skizzieren, in welchen die Partizipation sehgeschädigter Menschen weder durch strukturelle noch durch formalisiert intervenierende Kompensation gewährleistet werden kann.

Die zweite Art der Institutionalisierung intervenierender Kompensation geschieht latent auf dem Wege bewusstseinsbildender Maßnahmen auf Seiten sehender als auch sehgeschädigter Menschen. Diese Maßnahmen können selbst organisierte gemeinsame Aktivitäten von blinden und sehenden Menschen sein, wie sie etwa von Verena am Beispiel des Töpferns im Dunkeln vorgestellt wurden.

Ähnliche bewusstseinsbildende Maßnahmen wären auch als Top-down-Prozess im Sinne politischer Intervention, beispielsweise in Form von bildungspolitischer Gestaltung wie im Falle Patricias, denkbar.

Manche Partizipationschancen lassen sich nur auf diese Art einer nicht oder gering formalisierten Institutionalisierung realisieren.

Als Beispiel soll an dieser Stelle folgendes, in einem der Gespräche geschildertes Szenario, dienen: Bei der Teilnahme an einer als barrierefrei ausgestaltet angekündigten Fachtagung sah sich ein blinder Teilnehmer mit der Tatsache konfrontiert, dass das Wort für Diskussionsbeiträge vor allem via Blickkontakt erteilt wurde. Natürlich bestand in dieser Situation die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass diese Art der Diskussionsführung einen Ausschluss blinder Personen gleichkäme. Diese Störung der bestehenden, mit Blindheit nicht kompatiblen Institutionalisierung eines Diskussionsablaufes, würde von allen Beteiligten als Belastung empfunden und ggf. durch systematischen Diskussionsausschluss sanktioniert.

In solchen Fällen kann weder strukturelle Kompensation noch nicht oder formal institutionalisierte intervenierende Kompensation effektiv eingesetzt werden. Es bedarf eines grundsätzlichen und personenunabhängigen, also gesamtgesellschaftlich verankerten Verständnisses für die Erfordernisse sehgeschädigter Menschen, um andere gesellschaftliche Institutionalisierungsprozesse entsprechend zu gestalten und um bei der Gestaltung mögliche Zielkonflikte überhaupt wahrnehmen zu können.

7.3 Strukturelle, intervenierende und individuelle Kompensation - Konstruktion eines Präferenzmodells

Aufbauend auf meinen bisherigen Ausführungen über die drei Typen von Kompensation, ihre Subtypen und ihre möglichen Syntheseformen möchte ich diese nun mit den verschiedenen Formen von gesellschaftlicher Partizipation verknüpfen und sie damit in einem sozialen Bezugsrahmen einordnen.

Basierend auf den in den Gesprächen dargestellten Partizipationsszenarien muss hierzu zunächst ein Maß für den Grad der Partizipation konstruiert werden. Dies ist jedoch insofern problematisch, da zwischen Partizipationsmöglichkeit und tatsächlich wahrgenommenen Ausmaß an Partizipation unterschieden werden muss. Es wäre unzulässig, nicht wahrgenommene Partizipationschancen mit Integrationsdefiziten gleich zu setzen und diese mit dem Vorhandensein einer Sehbeeinträchtigung zu begründen.

Daher möchte ich den Begriff der Partizipation ordinal gesehen nur sehr grob differenzieren, nämlich in:

  • Räumliche Mobilität - sie kann als weitestgehend grundlegende Voraussetzung für beinahe alle Formen gesellschaftlicher Partizipation angenommen werden. (vgl. Kapitel 4.2)

  • Grundlegende Alltagshandlungen - bezeichnen basale soziale Interaktionen, welche darüber hinaus für einen gesellschaftstypischen Lebensstil erforderlich sind: Einkaufen, Behördenwege u.a. Bereits hier zeigt sich der zuvor beschriebene Unterschied zwischen Partizipationschance und tatsächlich genutzter Möglichkeit: Nicht oder nicht alleine einkaufen zu gehen, zeugt nicht von einem behinderungsbedingten Integrationsdefizit. Davon ist erst dann auszugehen, wenn Betroffene das Gefühl haben beispielsweise aufgrund hoher Produktdiversität nicht genau das erwerben zu können, was sie wollen - weshalb in diesem Falle beispielsweise ausschließlich intervenierende Kompensation anstelle möglicher struktureller Angebote in Anspruch genommen oder gefordert werden.

  • Soziale Teilhabe am kulturellen und politischen Gesellschaftsleben, der Arbeitswelt, am Aufbau und die Pflege eines Freundeskreises, in der Partnerschaft zählen schließlich zu den stärksten Ausprägungen gesellschaftlicher Partizipation.

In der folgenden Grafik werden die drei Dimensionen entlang ihres Partizipationsgrades abgebildet und damit jeweils verbundene Formen von Kompensation der Sehbehinderung benannt. Fett geschrieben sind dabei die von Betroffenen jeweils primär gewünschten und akzeptierten Kompensationsformen.

Abbildung 5: Entwurf eines Partizipations- und Kompensationsmodells

Falls die gewünschten Kompensationsformen nicht auf tatsächlich bestehende Kompensationsangebote treffen, so führt diese Diskrepanz zu Integrationsdefiziten. Diskrepanzen sind vor allem in den unteren beiden Partizipationsschichten als vergleichsweise isoliert ausgeprägt zu beurteilen. Generalisierende Aussagen erscheinen aus diesem Grund daher nicht möglich, ohne das Abbild der tatsächlichen Situation zu verzerren. Beispielsweise wird dem Sicherheitsbedürfnis sehgeschädigter und blinder Personen im öffentlichen Raum durch akustische Ampelanlagen und Leitsysteme dahingehend sehr gut entsprochen, als dass Betroffene keine besser geeigneten Alternativen nennen. Kritisiert wird dagegen die Ausgestaltung der Maßnahmen entlang der vier Arten von Konsistenz, wobei bereits in der Frage, in welchem Umfang Orientierungsleitsysteme installiert werden sollten, kein Konsens mehr besteht.

Die Diskrepanzen lassen sich im strukturellen Bereich von Betroffenen individuell kaum beseitigen: Die verdichtete Bereitstellung struktureller Kompensationsangebote liegt im Bereich sozial- und stadtpolitischen Handelns, ebenso wie die strukturell kompensierende Erschließung von Gebäuden entsprechende politische Voraussetzungen erfordert. Diese Voraussetzungen sind zum aktuellen Zeitpunkt als nicht gegeben einzustufen.[17]

Bessere Aussichten in Bezug auf die Minderung von Diskrepanzen ergeben sich für Betroffene daher eher in der Nutzung synthetischer Kompensationsformen, also einer Mischung aus zwei oder drei sich gegenseitig ergänzenden Kompensationsformen. Die oftmals kritisierte schlechte Identifikationsmöglichkeit von Bussen und Straßenbahnen ließe sich beispielsweise durch die Nutzung von Qando (als Synthese aus struktureller und intervenierender Kompensation, wie in Kapitel 7.2.1 dargelegt) zur Bestimmung der Ankunftszeit verbessern. Syntheseformen von Kompensation erfordern jedoch eine gewisse technische Affinität Betroffener, welche nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Ein verstärkter Wissenstransfer unter Betroffenen könnte diese Situation verbessern.

Hochgradig sehbehinderte Personen können im Vergleich zu blinden Menschen dabei auch noch auf ein größeres Repertoire an individuellen Kompensationsmöglichkeiten (vor allem optische oder elektronische Vergrößerungshilfen und Kontrastverstärker) zurückgreifen. Diese Hilfsmittel können auch auf der Ebene grundlegender Alltagshandlungen andere Kompensationsdefizite beispielsweise beim Einkaufen abmildern, während blinde Menschen derzeit tatsächlich auf die - zwar prinzipiell verfügbare, jedoch nicht immer planbar vorhandene - persönliche Einkaufshilfe angewiesen sind.

Sehr große und vor allen Dingen systematische Diskrepanzen treten in der obersten Schicht gesellschaftlicher Partizipation auf: Betroffene erleben in der Arbeitswelt und in sozialen Interaktionen außerhalb des Freundes- und Bekanntenkreises starke Exklusionstendenzen. Viele dieser Vorgänge sind jedoch nicht monokausaler Natur, sondern komplex und mittelbar, wie ich im folgenden Kapitel ausführen werde.

Die Verbesserung der Partizipationschancen sehgeschädigter Menschen kann also dadurch erreicht werden, dass Diskrepanzen zwischen erwünschten und vorhandenen Kompensationsangeboten minimiert werden.

Das Vorhandensein nicht adäquater Kompensationsangebote kommt für sehgeschädigte Personen dem Nichtvorhandensein jedweder Kompensationsangebote gleich. Die folgende Abbildung zeigt, welche Arten von Kompensation in den jeweiligen Dimensionen gesellschaftlicher Partizipation aus der Sicht Betroffener gewünscht werden.

Abbildung 6: Handlungsempfehlungen zur Minimierung von Exklusionstendenzen

Kommen in den verschiedenen Dimensionen andere Kompensationsformen zum Tragen, so können diese nicht nur von sehgeschädigten Personen weniger effektiv genutzt werden, sondern auch sehende Menschen werden dieser Personengruppe durch fehlendes Bewusstsein mit Stigmatisierung begegnen, wie in vielen Fallbeispielen deutlich wurde. Die Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen Kompensationsangeboten führt also sogar zu einer doppelten Benachteiligung: Wird beispielsweise auf der obersten Ebene sozialer Teilhabe ausschließlich formalisiert institutionalisierte intervenierende Kompensation qua persönlicher Assistenz angeboten, so kann dies dazu führen, dass Betroffene als besonders hilfsbedürftige und wenig eigenständig agierende Menschen, die stets der Hilfe einer Begleitperson bedürfen, wahrgenommen werden,

Nach Kastls Graden der Inklusion (vgl. Kapitel 4.1) nehmen Betroffene in diesem Falle bestenfalls Sonderrollen (gesellschaftliche Partizipation nur mit eigener Assistenz) ein, wobei die Ausprägungen partieller Rollenverlust (keine eigenständige Lebensführung) oder gar die Nicht-Rolle als Form der Isolation denkbar wären, wohingegen nicht formalisierte Institutionalisierung intervenierender Kompensation zumindest zur Quasi-Normalität und damit weit größeren Partizipationschancen führt.

Doch auch die auf Bewusstseinsbildung ausgelegte nicht bzw. gering formalisierte Institutionalisierung intervenierender Kompensation kann ebenso nicht als Allheilmittel für jedwede Art von Barrieren betrachtet werden: Auf der Ebene der räumlichen Mobilität würden Betroffene ohne die Priorisierung struktureller Kompensationsmöglichkeiten in die bereits dargestellte Reziprozitätsfalle rutschen und (zumindest intrinsisch betrachtet) ebenfalls in die Position von Sonderrollen gedrängt werden.

Für die Planung neuer oder die Modifikation bestehender Kompensationsangebote ist es daher von großer Bedeutung, auf die Reduktion allfälliger Diskrepanzen zu achten, um nicht intendierte Folgen zu vermeiden und damit die Partizipationsfähigkeit Betroffener zu schwächen.

Im nächsten Kapitel möchte ich demgemäß auf die praktischen Konsequenzen von bestehenden sowie absehbaren Diskrepanzen eingehen. Darüber hinaus werde ich Fälle simultan auftretender Diskrepanzen und deren Auswirkungen analysieren.

7.4 Chancen, nicht kompensierte Barrieren und Integrationsdefizite

7.4.1 Interdependente Exklusionsmechanismen

In den Fallbeispielen wurden wiederholt Situationen beschrieben, in denen Partizipationsbarrieren nur sehr diffus und damit nicht unmittelbar lokalisierbar zum Ausdruck kamen. Ich möchte an dieser Stelle einleitend auf die Schilderung Josefs zurückgreifen, in der er sich aufgrund des für ihn beschwerlichen Weges zu seiner Arbeitsstelle nicht mehr auf eine bevorstehende Besprechung vorbereiten konnte. (vgl. Kapitel 6.4.5)

Würde er bei der anschließenden Besprechung aufgrund der mangelnden Vorbereitung den Erwartungen seines Auftraggebers nicht entsprechen, könnten sich daraus - möglicherweise bei wiederholtem Auftreten - weitere Konsequenzen bis hin zur Ablehnung künftiger Auftragsvergaben an Josef ergeben.

Betroffene sehen sich in einer solchen Situation zwar einer diskriminierenden Behandlung ausgesetzt, doch aus Sicht des Auftrag- oder Arbeitgebers ist es nicht die Sinnesbeeinträchtigung, sondern die unmittelbar unzureichende Arbeitsleistung. Diese hängt dagegen für Betroffene ebenso unmittelbar mit ihrer Beeinträchtigung zusammen, während derselbe Bezug für den Auftraggeber höchstens in einer mittelbaren Ausprägung existiert. Mehr noch, könnte nun der Auftraggeber bzw. die Auftraggeberin fordern, dass sich der sehgeschädigte Auftragnehmer bereits vorab hinreichend auf die Besprechung vorbereitet. Dies erscheint der Auftraggeberin bzw. dem Auftraggeber als legitime Forderung.

Für die sehgeschädigte Person in dieser Situation bedeutet dies wiederum, noch mehr Zeit für eine Tätigkeit aufwenden zu müssen, ein Mehraufwand, den Patricia im Gespräch über ihre selbstständige Tätigkeit mit dem Verhältnis 1 zu 3 beziffert.

Diese Art von Diskriminierung und in weiterer Folge Exklusion möchte ich als interdependenten Exklusionsmechanismus bezeichnen. Interdependenz tritt hier als Effektgröße auf, weil Exklusion nur dann entsteht, wenn erstens die Umweltgestaltung keinerlei strukturelle Kompensation zur Verfügung stellt und zweitens gleichzeitig von der Alltagserfahrung geleitete Rollenerwartungen an Betroffene herangetragen werden.

Die Gefahr, die von solchen Exklusionsmechanismen ausgeht, ist ihre für Außenstehende weitestgehende Unsichtbarkeit aufgrund der scheinbaren Trivialität:

"Gestresst" und unvorbereitet zur Arbeit zu erscheinen, ist eine Alltagserfahrung in dem Sinne, dass sie bereits vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern widerfahren ist und dabei in keinem Zusammenhang mit Behinderung steht.

Unter dem Einfluss von Behinderung, im vorliegenden Falle aufgrund von mangelnden strukturellen Kompensationsangeboten auf dem Arbeitsweg, werden sie jedoch systematisiert - vorhersehbar und frequent.

Sie treten, mit den Worten der Alltagssprache ausgedrückt, nicht vereinzelt aufgrund von "unglücklichen Umständen", sondern systematisch aufgrund der verschiedenen Wechselwirkungen von Behinderung und Umwelt unter dem Einfluss von Diskrepanzen zwischen benötigten und vorhandenen Kompensationsangeboten auf.

Interdependente Exklusionseffekte zeichnen sich also dadurch aus, dass ihre Ausprägung scheinbar trivialer, für Außenstehende nicht mit Behinderung kontextualisierter Natur ist, jedoch in der Frequenz ihrer Ausprägung deutlich über dem von als Alltagserfahrung Erlebtem liegen und daher vom Umfeld negativ bewertet und sanktioniert werden. Im Sinne des skandinavischen Modells von Behinderung können interdependente Exklusionsmechanismen als eine Form von person-environment-mismatch beschrieben werden.

7.4.2 Mittelbare Exklusionsmechanismen

Eine weitere Gattung an Exklusionserfahrungen möchte ich mit dem Begriff des mittelbaren Exklusionsmechanismus benennen:

David beschreibt im Interview, wie ihm seine sehenden Schulkollegen immer nur für kurze Zeit Aufmerksamkeit schenkten, wann immer er mit ihnen ein Gespräch beginnen wollte. Erst später lernte er, dass Gesprächspartner einander die Gesichter zuwenden - er hatte also unwissentlich gegen eine soziale Norm verstoßen und dieses Verhalten wurde vom Umfeld sanktioniert.

Mittelbare Exklusionseffekte zeichnen sich dadurch aus, dass hochgradig sehbehinderte und blinde Personen ihre Umwelt aufgrund ihrer veränderten Wahrnehmung anders interpretieren und daraus folgend anders handeln und das Umfeld diese Handlungen bis hin zur Exklusion sanktioniert.

Mittelbare Exklusionsmechanismen lassen sich von Betroffenen zumindest teilweise kompensieren: Seinem Gesprächspartner das Gesicht zuzuwenden, ist neben der Möglichkeit zur nonverbalen Kommunikation auch als soziale Norm zu beurteilen, die sehgeschädigte und blinde Menschen durch ihr Gehör ebenfalls erfüllen können - jedoch nur, wenn sie über das Bestehen einer solchen Norm Kenntnis haben.

Interdependente und mittelbare Exklusionsmechanismen stellen eine erhebliche Einschränkung der Partizipationschancen Betroffener dar. Sie können diese nur in wenigen Fällen autonom kompensieren, denn sind in beiden Fällen weitestgehend sowohl von der Beurteilung ihres Umfelds als auch der Akzeptanz dieser Beurteilung durch das Umfeld abhängig. Beide Mechanismen bilden keine einfachen Stigmatisierungsprozesse ab, da Betroffene nicht aufgrund ihrer Eigenschaften kategorisiert werden, sondern aufgrund der sich aus diesen Eigenschaften ergebenden Handlungsalternativen.

Im Zuge gesellschaftlicher Partizipation sehen sich Betroffene in bestimmten sozialen Situationen auch Verknüpfungen dieser beiden Mechanismen ausgesetzt. Partizipation in sozial homogenen Gruppen mit sehr losem Beziehungsgeflecht begünstigt diese Mechanismen: Homogene Gruppen vermögen sich rascher auf Normen zu einigen und diese zu sanktionieren, während das lose Beziehungsgeflecht Rücksichtnahme - aus Unkenntnis, aus möglicherweise geringem altruistischen Interesse - erschwert.

Umgekehrt können die Mechanismen in sehr heterogenen sozialen Gruppierungen und Gruppen mit dichtem Beziehungsnetzwerk vermieden werden.

7.4.3 Möglichkeiten und Grenzen der Partizipation, Chancen und Gefahren für zukünftige Partizipation

Aktuell bietet sich eine Perspektive auf die Teilhabemöglichkeiten sehgeschädigter und blinder Menschen, welche sich nach Kastls Graden der Inklusion zwischen dem Status des partiellen Rollenverlustes und dem Status von Sonderrollen bewegt.

Mobilität im öffentlichen Raum ist mit Einschränkungen gegeben und vor allem für blinde Personen durchwegs mit hoher psychischer Stressbelastung verbunden. Manche Bereiche des öffentlichen Raumes sind für Betroffene alleine nicht zugänglich, während Begleitung in vielen Fällen entweder nicht zur Verfügung steht oder andererseits auch nicht gewünscht wird. Als Verkehrsteilnehmer sind Betroffene sowohl als Fußgänger als auch bei der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel großen Gefahren und Sicherheitsrisiken ausgesetzt, welche von einem Mangel an strukturellen Kompensationsangeboten und insbesondere nicht angemessener Haltestellenplanung im Straßenbahnnetz hervorgerufen werden.

Defizite erleben sehgeschädigte Menschen auch bei den täglichen Besorgungen. Hier kommen jedoch vielfältige Strategien zum Einsatz, diese Barrieren zu überwinden. Sie werden dabei gleichzeitig als weniger belastend empfunden als die sicherheitsrelevanten Defizite im öffentlichen Raum.

In der Arbeitswelt sind sehgeschädigte und blinde Personen von vielfältigen Integrationsdefiziten betroffen, von direkter Verweigerung der Anstellung aufgrund der Behinderung oder ihrer unmittelbaren Begleitumstände oder aufgrund interdependenter und mittelbarer Exklusionsmechanismen. Dabei muss jedoch angemerkt werden, dass die technologische Entwicklung, insbesondere die Digitalisierung, Betroffenen ermöglichte, Tätigkeiten nach zu gehen, welche vormals nicht möglich waren.

Digitale Technologie verbessert insbesondere für blinde Menschen ferner die Möglichkeit, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen. Informationsbeschaffung als Grundlage von politischer Meinungsbildung ist ebenfalls gegeben, jedoch fällt politisches Engagement nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Integrationsdefizite, Umwelt- und Gesellschaftsbarrieren nur sehr gering aus.

Im unmittelbaren privaten Umfeld erscheinen blinde und sehgeschädigte Menschen vergleichsweise gut integriert: Sie leben in Partnerschaften und verfügen über einen engen Freundeskreis, der sich aus sehenden und (hochgradig) sehbehinderten bzw. blinden Menschen zusammensetzt. Familiäre Unterstützung ist fallweise gegeben, erscheint jedoch kein zwingendes Erfordernis für die Lebensgestaltung Betroffener.

Aus gesellschaftlicher Perspektive wird sehgeschädigten Menschen ein eher geringes Maß an Teilhabe zugestanden. Darüber hinaus gehende Partizipationschancen, die Erlangung eines tertiären Bildungsabschlusses, politisches Engagement, Teilnahme am oder gar Karriere im Erwerbsleben und Diversität in der Freizeitgestaltung können Betroffene jedoch nur unter erheblichem Einsatz persönlicher und finanzieller Ressourcen wahrnehmen.

7.4.3.1 Chancen und Barrieren durch technologische Entwicklung

Wie bereits in Kapitel 3.2.1 diskutiert, kann technische Entwicklung sowohl positive als auch negative Einflüsse auf die Partizipationschancen sehgeschädigter Menschen nehmen. Die Integrationsdefizite aus technischen Entwicklungen kommen dann zum Tragen, wenn diese von der Gesellschaft oder einem Gesellschaftsbereich adoptiert und institutionalisiert werden. In den Fallbeispielen konnte diese Wirkungsweise vor allem im Bereich der Erwerbsarbeit sichtbar gemacht werden: Die Umstellung auf Computerarbeitsplätze ohne entsprechende blindengerechte Software führte für Verena letztlich zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und zwang Patricia dazu, einer selbstständigen Tätigkeit nachzugehen.

Ein weiteres Beispiel für einen solchen Prozess stellt die Entwicklung, Adoption und schließlich Institutionalisierung von Bankomaten als primäre Geldausgabestellen dar, welche bis dato von blinden Menschen kaum genutzt werden können.

Um solche von Technologieentwicklungen und deren Adoption und Institutionalisierung getriebenen Exklusionsprozesse zu vermeiden, sollte die Implementierung neuer Technologie den Anforderungen an universelles Design entsprechen. (vgl. Kapitel 3.1)

7.4.3.2 Digitalisierung und "neue Medien"

In den Fallbeispielen konnte ferner gezeigt werden, dass digitale Technik insbesondere für technikaffine Personen hervorragende Kompensationsleistungen erbringen kann. Digitale Lesehilfen bieten nicht nur Vergrößerungsfunktionen, sondern auch eine Möglichkeit zur Kontrastanpassung, um das Restsehvermögen hochgradig sehbehinderter Personen bestmöglich zu bedienen, während sich blinde Menschen Texte über synthetische Sprachausgabe vorlesen lassen können.

Die heute verfügbaren verschiedenen Ausgabeformen am Computer bieten sehbehinderten und blinden Personen gleichermaßen die Möglichkeit, vielen Formen von Erwerbsarbeit nachzugehen, welche ohne diese technischen Mittel nicht denkbar wären. Mehr noch: In Verbindung mit dem World Wide Web können blinde Personen nun auch Tageszeitungen konsumieren, ohne auf spezielle Braille-Druckwerke zurückgreifen zu müssen, was gleichsam einen fundamentalen Beitrag zur kulturellen und politischen Partizipationsfähigkeit dieser Personengruppe darstellt. Das World Wide Web spielt weiters für viele Betroffene bei der Informationsbeschaffung, bei der Planung von Freizeitaktivitäten und in der Kommunikation eine immanent wichtige Rolle. Die vergleichsweise gute Zugänglichkeit von Betroffenen zum World Wide Web kann damit erklärt werden, dass manche Voraussetzungen für universelles Design den digitalen Medien quasi inhärent inne wohnen.

7.4.3.3 Exkurs: Digitale Medien und Universelles Design

Zur näheren Ausführung dieser Feststellung möchte ich auf Lev Manovichs Unterscheidung von analogen und digitalen Medien zurückgreifen. Er benennt fünf Prinzipien, welche digitale Medien von ihren analogen Pendants unterscheiden:

Grundlegend für digitale Medien sei demnach ihre numerische Repräsentation. Einerseits sieht Manovich die Möglichkeit vor, dass konventionelle (analoge) Medien nach einem bekannten Schema, einem Algorithmus digitalisiert werden, andererseits nennt er auch ursächlich digitale Medien, die keiner weiteren Konvertierung bedürfen - etwa die Erstellung und Repräsentation von Webseiten.

Zweitens führt Manovich die Modularität als Folge der Quantifizierung und damit als zweites Merkmal digitaler Medien an. Digitale Medien bestehen demnach aus universellen "Bausteinen" mit einem diskreten Parametersatz, welche das Medium gleichsam einem Fraktal konstitutieren, aber gleichzeitig in unzähligen weiteren Anordnungen völlig andere Inhalte repräsentieren können. So kann ein digitalisiertes Foto in seiner bildlichen Repräsentation immer nur aus einer endlichen Anzahl an Pixel und nichts anderem bestehen, welche sich einzig durch ihren Helligkeitswert und Farbton (aus einer endlichen Anzahl von Gradienten) unterscheiden.

Die numerische Repräsentation in Verbindung mit der Modularität führen zur dritten Eigenschaft digitaler Medien, der Automation. Automation bedeutet für Manovich, dass die Medienelemente ohne menschliches Zutun maschinell anhand von mehr oder minder komplexen Algorithmen sinnstiftend rekombiniert werden können.

Aus den ersten beiden Prämissen folgt - eng verwandt mit der Automation - die Variabilität in der Darstellung. Sie besagt, dass eine digitale Medienrepräsentation im Gegensatz zum analogen Pendant veränderlich ist. Beispielhaft kann dies etwa anhand einer Webseite erläutert werden, welche einerseits als farbenfrohe Repräsentation von Information, andererseits als spartanisch anmutende Ausgabe derselben - etwa in Form einer druckfreundlichen Version - dargestellt werden kann.

Die für Manovich wichtigste, wohl aber auch zwingendste Eigenschaft digitaler Medien ist ihre Transcodierbarkeit. Jenseits der elektronischen Verarbeitbarkeit benötigen digitale Medien eine für die gesellschaftliche Kultur sinnstiftende Repräsentation, sodass Manovichs zum Schluss kommt, dass digitale Medien auf zwei Ebenen gleichzeitig - einer elektronischen und einer kulturellen - existieren müssen. (vgl. Manovich 2002: 227ff)

Die Affinität zum universellen Design und die vergleichsweise gute Zugänglichkeit digitaler Medien für blinde und hochgradig sehbehinderte Personen gründet schließlich auf ihrer Transcodierbarkeit, der Variation in der Darstellung und der Automation:

Die abstrakt codierte Urform digitaler Medien - eine binäre Zeichenkette - gebietet eine Transcodierung, wann immer Menschen mit dem Medium interagieren sollen, welche durch das Prinzip der Variation keiner starren Repräsentationsform folgt. Das Prinzip der Automation impliziert schließlich, dass verschiedene Repräsentationsformen mit geringem Aufwand parallel dargeboten werden können. So können Betroffene durch den Einsatz spezieller Software einerseits Webseiten nutzen, auch wenn sie nicht streng nach den Richtlinien des W3C Konsortiums zum Design barrierefreier Webseiten gestaltet wurden, andererseits durch Rearrangement der (graphischen) Benutzeroberfläche Software bedienen, welche nicht ursächlich für Blinde und sehgeschädigte Personen entwickelt wurde.

Dennoch finden sich Betroffene oftmals in einem Spannungsfeld zwischen digitaler Autonomie und gesellschaftlicher Abhängigkeit wieder: Gibt ein Unternehmen Arbeitsabläufe strikt vor und benennt damit eine einzig akzeptierte Repräsentationsform, so können blinde und sehbehinderte Menschen am Arbeitsprozess nicht mehr teilhaben. Digitale Medien, allen voran das World Wide Web, gestatten Betroffenen ein gewisses Maß an Autonomie, doch in Kooperation mit anderen Personen sind sie oftmals weiterhin auf die Akzeptanz anderer von abweichenden Darstellungsformen angewiesen, wenn nicht nur das Ergebnis der Kooperation, sondern auch der Kooperationsprozess selbst bestimmt wird.

7.4.3.4 Bewusstseinsbildung

Der Begriff Bewusstseinsbildung fand im Zuge der Analyse der Fallbeispiele bereits mehrmals Verwendung. Er stellt gewissermaßen die Operationalisierung der Anleitung zur nicht formalisierten Institutionalisierung intervenierender Kompensation dar.

Bewusstseinsbildung kann als Top-down-Prozess wie durch politische Intervention ebenso wie als Bottom-up-Prozess in Form von Initiativen Betroffener gestaltet werden. Darüber hinaus existieren ganze ideologische Gebilde, welche in verschiedenen Gesellschaftsbereichen mit verschiedenen Erwartungshaltungen umgesetzt werden. Beispielhaft soll hier Diversity Management genannt werden.

Die zuvor in diesem Kapitel beschriebenen komplexen Exklusionsmechanismen zeigen die große Bedeutung von bewusstseinsbildenden Prozessen auf. Technische Entwicklungen - allgemeiner Natur sowie spezielle für sehgeschädigte Menschen adaptierte Ausprägungen - sichern Betroffenen allenfalls eine höchst rudimentäre gesellschaftliche Teilhabe, die von partiellem Rollenverlust und Sonderrollen geprägt ist. Die nächste Stufe gesellschaftlicher Partizipation nach Kastl, Quasinormalität kann nur durch die nicht-formalisierte Institutionalisierung intervenierender Kompensation erreicht werden.

7.4.3.5 Zur Realisierbarkeit emischer Normalität

Zuletzt stellt sich die Frage, ob - und wie - mit den vorgestellten und analysierten Mitteln emische Normalität, der höchsten Form gesellschaftlicher Inklusion nach Kastl, für sehgeschädigte und blinde Menschen hergestellt werden könnte. Es geht also um die Frage, ob es gelingt, Sehbehinderung und Blindheit nicht mehr als gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal und damit auch als Ausgangpunkt von Stigmatisierungsprozessen bei voller Partizipationsfähigkeit Betroffener wahr zu nehmen.

Hierzu muss bedacht werden, dass jedwede Form intervenierender Kompensation ihren Anfang in einer Verhaltensmodifikation intervenierender Personen nimmt, die auf der Wahrnehmung des unerwarteten Verhaltens Betroffener und der Identifikation derer als sehbehindert oder blind beruht. Jedoch ist mit genau dieser Verhaltensmodifikation keine emische Normalität mehr gewährleistet. Falls eine sehgeschädigte Person keinerlei Erkennungszeichen für ihre Behinderung trägt, und dennoch den Erwartungen des Umfelds zuwider handelt, so ist nicht auszuschließen, dass diese Person anderen Stigmatisierungen ausgesetzt ist, indem ihr auffälliges Verhalten etwa durch mangelnde intellektuelle Fähigkeiten oder Unhöflichkeit etc. erklärt wird. Auch in diesem Falle ist emische Normalität nicht mehr gewährleistet.

Strukturelle Kompensation hat ihren festen Platz vor allem an der Basis gesellschaftlicher Partizipation - darüber hinaus, in der sozialen Interaktion - vermag sie für Betroffene jedoch keine Kompensationsleistungen zu erbringen.

Aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse bleibt daher festzustellen, dass emische Normalität - sieht man von Gesellschaftsszenarien wie Martha's Vineyard (vgl. Kapitel 3.1) ab - nur auf dem Wege individueller Kompensation erreicht werden kann. Die Kompensation muss so gestaltet sein, dass sie die Sinnesleistung der natürlichen Wahrnehmung bestmöglich substituiert. Solange die dafür nötigen technischen und medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, sollte individuelle Kompensation jedoch nur eine untergeordnete Rolle zwischen struktureller und intervenierender Kompensation und als Synthese mit denselben spielen, damit Betroffenen reelle Partizipationschancen auf der Ebene der Quasi-Normalität offen stehen.



[8] Vgl §3 StVO "(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme; dessen ungeachtet darf jeder Straßenbenützer vertrauen, dass andere Personen die für die Benützung der Straße maßgeblichen Rechtsvorschriften befolgen, außer er müsste annehmen, dass es sich um Kinder, Menschen mit Sehbehinderung mit weißem Stock oder gelber Armbinde, Menschen mit offensichtlicher körperlicher Beeinträchtigung oder um Personen handelt, aus deren augenfälligem Gehaben geschlossen werden muss, dass sie unfähig sind, die Gefahren des Straßenverkehrs einzusehen oder sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten."

[9] Bei Loadstone GPS handelt es sich um eine Software für Nokia Mobiltelefone auf Basis des Symbian S60 Betriebssystems, welche von blinden Programmierern entwickelt wird und erstmals 2006 veröffentlicht wurde. Loadstone nutzt einen via Bluetooth angekoppelten GPS-Empfänger zur Positionsbestimmung und setzt bei der Ausgabe auf die für die S60-Plattform verfügbaren Screenreader. (vgl. http://www.loadstone-gps.com: 13.12.2011)

[10] Ein Barcodescanner ließe sich beispielsweise als Hilfsprogramm auf einem Mobiltelefon, welches über eine Kamera mit ausreichendem Auflösungsvermögen verfügt, realisieren. Die Ausgabe des Scanners kann via Sprachausgabe erfolgen.

[11] Der Milestone wurde ursprünglich als Diktiergerät mit einer für blinde Personen zugänglichen Benutzeroberfläche entwickelt. Neuere Versionen des Geräts bieten über Erweiterungsmodule unter anderem Farberkennungs-, RFID- und Barcodescanner-Funktionalität.

[12] Qando bietet die Möglichkeit, aktuelle Abfahrtszeiten und Fahrpläne der jeweiligen Haltestelle via Internet aufzurufen.

[13] Das Zwei-Sinne Prinzip ist ein Kernkonzept Universellen Designs (vgl. Kapitel 3.1), demzufolge dargebotene Informationen stets über zwei Sinneskanäle wahrgenommen werden sollen, um strukturelle Kompensationsmaßnahmen für eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher Anforderungen von Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen.

[14] http://www.wl-barrierefrei.at/index.php?id=8034 (Zugegriffen 2. Jän. 2012)

[15] ARGUS ist ein aus EU-Mitteln gefördertes Projekt, das die Entwicklung eines Navigationsgeräts mit akustischen und haptischen Signalen für Personen mit eingeschränkter Sehfähigkeit zum Ziel hat. Verschiedene Forschungseinrichtungen und Unternehmen in Europa sind daran beteiligt. Die Routenberechnung für die Navigation erfolgt auf dem Server des Diensteanbieters, welcher die Erfahrungen anderer Nutzer des Systems - etwa durch Kennzeichnung akustischer Ampelanlagen etc. - berücksichtigt und damit für Betroffene besonders "günstige" Routen erstellt. Vgl. http://www.projectargus.eu/ (Zugegriffen: 2. Jän. 2012)

[16] Freizeitassistenz meint in diesem Zusammenhang das Komplement zur Arbeitsassistenz, also Unterstützung in allen Kontexten, welche nicht der (Erwerbs-)Arbeit zugeschrieben werden. Der hier verwendete Begriff beschränkt sich damit ausdrücklich nicht auf die Freizeitgestaltung im eigentlichen Sinne, sondern inkludiert auch Tätigkeiten wie tägliche Einkäufe oder Behördenwege.

[17] Unter dem Eindruck der aktuell geführten politischen Debatte zur Reduktion der Schuldenlast wurde der Aufschub der Installation struktureller Kompensationsangebote lanciert. So müssen beispielsweise öffentliche Gebäude statt 2015 erst bis 2019 barrierefrei ausgestaltet sein. (vgl. http://oe1.orf.at/artikel/260587 15.1.2011) Weiters ist ein neuer Trend in der Stadtplanung aus der Sicht sehgeschädigter und blinder Menschen besonders kritisch zu beurteilen: Das Konzept des "Shared Space", einer von allen Verkehrsteilnehmern gemeinsam genutzten Verkehrsfläche, welches als Pilotprojekt im Oktober 2011 in der Stadt Graz exemplarisch umgesetzt wurde, bringt für Betroffene durch fehlende Orientierungsmerkmale sowie den ungeregelten Verkehrsfluss immense strukturelle Nachteile. Die Implementation widerspricht in gravierendem Ausmaß den in den Interviews einheitlich geäußerten Sicherheitsbedürfnissen Blinder und Sehgeschädigter.

Die im Falle der Stadt Graz angebotenen Kompensationen, einem Tastplan und einem Mobilitätstraining (vgl. http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=12893 Zugegriffen: 28. Dez. 2011) können nicht als adäquater Ersatz für strukturelle Kompensation angesehen werden: Bereits die Angebote implizieren, dass Betroffene ohne Training oder zusätzliche Hilfsmittel die neue Verkehrsfläche schwerlich benutzen können, was zu einer Reduktion von räumlicher Mobilität führt und damit gesellschaftlich exkludierend wirkt.

8 Schließende Betrachtungen

8.1 Die Bedeutung der vorliegenden Arbeit für die Sozialwissenschaften

Blinde ertasten eine Stufe und schreiten darüber hinweg.

Menschen im Rollstuhl sehen eine Stufe und ärgeren sich, weil sie den Weg versperrt.

Sehbehinderte stolpern über diese Stufe und verletzen sich beim Sturz.

Im Sinne ihrer wissenschaftlichen Bedeutung möchte ich meine Arbeit als Plädoyer für die Ausdifferenzierung des Behinderungsbegriffes positionieren. Während die Soziologie bislang wenig zur gesellschaftlichen Betrachtung von Behinderung beitrug, steht das Theoriegebilde der Disability-Studies vor allem im Zeichen von Körperbehinderung.

Für Sinnesbehinderungen wie Seh- und Hörbeeinträchtigung sind deren Modelle unterkomplex, weil sie die Implikation asymmetrischer sozialer Interaktion nicht berücksichtigen. Ihre Schlüsse werden der sozialen Realität nicht gerecht, sodass Menschen mit Sehschädigung sowohl als Subjekte von sozialwissenschaftlichem Interesse als auch in vielfältigen Dimensionen des gesellschaftspolitischen Alltags bestenfalls eine Randerscheinung darstellen.

In der vorliegenden Arbeit zeigte ich, dass in der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sinnesbehinderung am Beispiel hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit jedenfalls ein modifizierter theoretischer Zugang geboten ist, als derjenige, mit dem bislang Menschen mit Behinderung auf wissenschaftlicher Ebene begegnet wird.

Dieser neue Zugang muss zunächst höchst differenziert angelegt sein: Es wurde gezeigt, dass selbst zwischen hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit hinsichtlich verschiedener sozialer Situationen ein signifikanter Unterschied in der Beurteilung diskriminierender und emanzipierender Faktoren besteht.

In diesem Sinne muss eine soziologische Theorie über Behinderung also zunächst stark ausdifferenziert und daher spezifisch angelegt sein, um dann jeweils schrittweise Generalisierungen einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Auf diese Weise könnten verschiedene Formen von Behinderung in einem Modell im Sinne der sozialen Realität adäquat inkludiert werden.

Mit der Verbindung von strukturellen, intervenierenden und individuellen Kompensationsmöglichkeiten zu einem auf Kongruenz und Diskrepanz ausgelegten Partizipationsmodell biete ich eine derartige Theoriegrundlage für den Bereich der Sinnesbehinderungen an. Die Kompensationsbegriffe wurden dabei aus Thomas' barriers ofdoing und barriers of being heraus entwickelt, doch konnte in der weiteren Arbeit anhand von interdependenten und mittelbaren Exklusionseffekten gezeigt werden, dass Thomas' dichotom angelegte Begriffe der sozialen Realität hochgradig sehbehinderter und blinder Menschen nicht standhalten können.

Das in der vorliegenden Arbeit konzipierte Partizipationsmodell überwindet diese Dichotomie, indem auf manchen Ebenen die Möglichkeit partieller Substituierbarkeit von Kompensationsmöglichkeiten besteht.

Diese Dynamik aus bedingten und unbedingten Kompensationsmechanismen vermag die empirisch erfassten und komplexen Interdependenzen gut abzubilden, welche die Partizipationschancen der Gruppe hochgradig sehbehinderter und blinder Menschen so maßgebend prägen.

8.2 Zur Bedeutung der Arbeit für den Alltag hochgradig sehbehinderter und blinder Menschen.

Die unmittelbare Bedeutung der Arbeit für Betroffene ist auf drei Ebenen zu sehen. Erstens kann die systematische Ausdifferenzierung von intervenierenden Kompensationsformen und deren Implikationen als Leitfaden für sozialpolitisches Handeln herangezogen werden.

Zweitens stellt die Beurteilung von Formen struktureller Kompensation entlang der vier Konsistenzkriterien eine Anleitung zur Verbesserung bestehender und zur effizienten Implementierung neuartiger und zukünftiger struktureller Kompensationsangebote dar.

Drittens schließlich zeigt die Bedeutung individueller Kompensationsmöglichkeiten und deren bisweilen "kreative" Nutzung durch Betroffene ein großes Potential auf, welches durch verstärkten Austausch, Erfahrungs- und Wissenstransfer unter Menschen mit Sehschädigung breiter verfügbar gemacht werden kann. Dies geschieht bereits zum Teil in Vereinen, jedoch kann dieser Wissenstransfer auch eine Domäne sozialpolitischer Intervention darstellen, auf deren Wege Synergien entstünden, welche zur Ausbildung nicht formalisierter intervenierender Kompensation in der Gesellschaft genutzt werden können. Schließlich konnte ein Mangel an nicht formalisierter intervenierender Kompensation als größte Barriere zur differenzierten gesellschaftlichen Partizipation identifiziert werden.

8.3 Kritische Beurteilung der Forschungsergebnisse

Auffällig ist, dass in den Interviews kaum konkrete Diskriminierungsmomente genannt wurden. Im Rahmen des Partizipationsmodells gesehen handelt es sich oftmals um komplexe Exklusionsmechanismen, die zu diffusen Diskriminierungen sehgeschädigter Personen führen, ohne dass der Ort der Diskriminierung klar benannt werden konnte. Diese Unschärfe ist die Basis der von mir benannten interdependenten und mittelbaren Exklusionsmechanismen.

Um dennoch eine systematische Verzerrung des Interviewsamples in dieser Hinsicht auszuschließen, wurden die verfügbaren Schlichtungsverfahren nach dem Bundes- Behindertengleichstellungsgesetzes im Zeitraum 2006 bis 2011 ausgewertet.

"Diese [Schlichtungsverfahren vor dem Bundessozialamt, d.Verf.] verfolgen den Zweck, einen unterstützenden Rahmen für eine außergerichtliche Einigung der Parteien zu schaffen. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass das Schlichtungsverfahren beim Bundessozialamt als niedrigschwelliger Zugang zum Recht gut angenommen wird. Die angebotene Möglichkeit, in formfreiem Rahmen Gespräche zur Konfliktlösung zu führen, erweist sich als zweckdienlich und äußerst effektiv. Das Schlichtungsverfahren dient nicht nur der Streitbeilegung, sondern auch der Bewusstseinsbildung und hat sich damit als erfolgreiches Instrument der Konfliktregelung etabliert." (Bednar et al. 2009: 89f)

Von den 105 öffentlich dokumentierten Schlichtungsverfahren[18] konnte in 15 Fällen die Art der Beeinträchtigung der Antragsteller nicht eindeutig bestimmt werden. In 11 Fällen gaben die Schlichtungswerberinnen und Schlichtungswerber an, sich aufgrund ihrer Blindheit diskriminiert gefühlt zu haben. Beim überwiegenden Anteil der verbleiben 79 Schlichtungsfälle handelte es sich um Mobilitätseinschränkungen von Personen im Rollstuhl.

Gegenstand der Diskriminierung blinder Menschen waren überwiegend nicht benutzbare Webangebote, also Webseiten, welche nicht den Empfehlungen des W3C Konsortiums über barrierefreie Webstandards nach WCAG entsprachen. Keine einzige schlichtungswerbende Person war hochgradig sehbehindert. Andere Arten von Sinnesbehinderungen wie Gehörlosigkeit erscheinen ebenfalls unterrepräsentiert und beschränkten sich hauptsächlich auf die geringe Untertitelung von Film- und Videoproduktionen.

Die Inhalte der Interviews spiegeln also durchaus akkurat die geringen Möglichkeiten Betroffener zur Beseitigung von Diskriminierungen nach dem Bundes- Behindertengleichstellungsgesetzes wider.

Darüber hinaus sind viele Barrieren und Exklusionsvorgänge nach dem Behindertengleichstellungsgesetz für Betroffene insofern nicht relevant, weil sie a priori nicht in die Situation gelangen können, eine entsprechend gestaltete Diskriminierung zu erfahren. Sie konnten daher im Zuge der Interviews auch nicht erfasst werden.

Folgendes Beispiel soll diese Exklusion nicht durch, sondern sogar von Diskriminierung aufzeigen: Ein Rollstuhlfahrer erwarb einen Wasserkocher, in dessen Bedienungsanleitung zu lesen war, dass das Gerät nicht von jungen Kindern oder Personen mit Behinderung ohne Aufsicht benutzt werden dürfe. Der Käufer empfand dies als Diskriminierung durch Bevormundung und strebte ein Schlichtungsverfahren mit positivem Ausgang an. (vgl. Ladstätter 2006)

Eine blinde Person wäre von dieser Diskriminierung prinzipiell ebenso betroffen, doch könnte sie diese aufgrund der in Schwarzschrift gedruckten Anleitung gar nicht wahrnehmen, obgleich sie den Wasserkocher ebenfalls verwenden könnte.

Die mögliche Kritik einer Sample-Verzerrung muss in dieser Hinsicht also einmal mehr als Beleg für die Notwendigkeit der Ausdifferenzierung verschiedener Arten von Behinderung in der sozialwissenschaftlichen Debatte gesehen werden.

Durchaus kritisch dagegen muss die Reichweite der Untersuchungsergebnisse beurteilt werden: Viele Barrieren im öffentlichen Raum und damit verbunden Mobilitätseinschränkungen sehgeschädigter Personen haben ihren Ursprung in der für eine Großstadt typische Infrastruktur. So sind komplexe Verkehrskreuzungen mit hoher Verkehrsdichte und zusätzlicher Schienenführung in ländlichen Gebieten und Städten geringerer Einwohnerzahlen seltener anzutreffen. Hier können sich dagegen neue Mobilitätserfordernisse und Barrieren für Betroffene ergeben, etwa durch Ausdünnung des Regionalverkehrs oder der Ballung großer Einkaufszentren an den vom öffentlichen Verkehr weniger gut erschlossenen Stadträndern. Die Ergebnisse betreffend die beiden übergeordneten Partizipationsebenen sozialer Alltagshandlungen und individualisierter gesellschaftlicher Teilhabe sind dagegen unter Beachtung der veränderten Mobilitätserfordernisse durchaus gut auf andere Szenarien zu übertragen.

8.4 Weiterführende Forschungsfragen

Während Menschen mit Körperbehinderung wohl die Gestaltung der Umwelt als be-hindernd erleben sowie im gesellschaftlichen Umfeld unmittelbaren Ressentiments begegnen können, führt eine Sinnesbehinderung dazu, dass Umwelt im größeren Maße abweichend interpretiert wird. Zwar ergeben sich daraus ebenfalls unmittelbare Barrieren - etwa wenn, wie im Bereich räumlicher Mobilität gezeigt wurde, die Interpretation durch andere Sinne nur unvollständige Informationen über eine Situation liefert, sodass Betroffene keine konkrete Handlungsalternative ableiten können, jedoch reichen die Konsequenzen dieser veränderten Wahrnehmung und damit auch veränderten Interpretationszusammenhänge viel weiter. Oftmals kommt es in sozialen Situationen unbeabsichtigt zu einem Verhalten wider informeller Normen.

In der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Teilhabe von sehgeschädigten Menschen ist es daher auch wichtig, einen Fokus auf soziale Interaktion zwischen Menschen mit Sehschädigung und sehenden Personen, zwischen hochgradig Sehbehinderten und Blinden sowie zwischen Menschen mit verschiedenen Formen von Beeinträchtigung zu legen. Ein Kriterium dieser Situationsanalysen kann die Prüfung von Asymmetrie sein, wie sie in Kapitel 7.2.3 mit ihren Folgen für Betroffene beschrieben wurde.

Soziologisch und auch im Sinne der Verbesserung von Partizipationschancen sehgeschädigter Personen aufschlussreich dürfte überdies die systematische Beurteilung der Lage sehender Personen in diesen sozialen Situationen sein, wie sie in den Kapiteln 7.2.4 und 7.2.5 bereits in Grundzügen skizziert wurde.

Konkrete Fragestellungen dazu lauten:

  • Welche Eigenschaften, Fähigkeiten und Defizite schreiben sehende Personen sehgeschädigten Personen mit starken Erkennungszeichen zu?

  • Welche Erklärungsmuster ziehen sehende Personen heran, um normverletzendes Verhalten sehgeschädigter Personen mit schwachen Erkennungszeichen zu deuten?

  • Wie wirken sich Zuschreibungen und Erklärungsmuster auf die Interaktion zwischen sehenden und sehgeschädigten Menschen in verschiedenen sozialen Situationen aus?

  • Unter welchen Voraussetzungen könnten sehgeschädigte Menschen diese Zuschreibungen und Erklärungsmuster im Sinne quasi-normaler Partizipation revidieren?

8.5 Fazit

Die vorliegende Arbeit befasste sich mit dem Phänomen Sehschädigung und den Möglichkeiten Betroffener zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Theoretisch und methodisch in der Soziologie angesiedelt, wurde zunächst festgestellt, dass in der Soziologie sowie in den ihr verwandten Forschungsdisziplinen keine dedizierte adäquate theoretische Rahmung der gesellschaftlichen Teilhabe von sehgeschädigten Menschen existiert. Diese Rahmung wurde daher mit den Begriffen struktureller, intervenierender und individueller Kompensation in Anlehnung an Carol Thomas und dem relationalen Modell von Behinderung geschaffen.

Die Bezüge dieser Begrifflichkeiten konnten auf empirischem Wege mittels leitfadengestützter Interviews, welche um die Elemente ero-epischer Gesprächsführung erweitert wurden, weiter ausdifferenziert und zu einer modellhaften Darstellung von Partizipation und Kompensation verdichtet werden.

Die Untersuchungsergebnisse bieten einen konsistenten Überblick über das Ausmaß gesellschaftlicher Integration von hochgradig sehbehinderten und blinden Menschen. Dokumentiert werden konnten sowohl gemeinsame Problemlagen in den beiden unteren Stufen gesellschaftlicher Teilhabe von räumlicher Mobilität und sozialen Alltagshandlungen, wie auch individualisierte Problemlagen, die aus individualisierter Lebensgestaltung resultieren, hinter denen jedoch wiederum gemeinsame Exklusionsmechanismen stehen.

Weiters konnten aus den Untersuchungsergebnissen konkrete sozialpolitische Handlungsempfehlungen zur besseren gesellschaftlichen Integration von Menschen mit Sehschädigung abgeleitet werden. Schließlich kann die theoretische Rahmung der vorliegenden Erkenntnisse die Grundlage einer fruchtbaren sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit blinden und sehbehinderten Menschen bieten.



[18] Quelle: http://www.bizeps.or.at/gleichstellung/schlichtungen/ (Zugegriffen 14. Jän. 2012)

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10 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Lokalisation der Aspekte von Sehbehinderung im gesellschaftlichen Kontext.

Abbildung 2: Partizipationschancen von Menschen mit Behinderung in Zusammenhang mit dem Ausmaß ihrer sozialen Inklusion

Abbildung 3: Akzeptanz von struktureller und intervenierender Kompensation

Abbildung 4: Mikro-, Meso- und Makro-Orientierung am Beispiel einer Straßenüberquerung.

Abbildung 5: Entwurf eines Partizipations- und Kompensationsmodells

Abbildung 6: Handlungsempfehlungen zur Minimierung von Exklusionstendenzen

11 Anhang

11.1 Auflistung der Kernfragen

F1. Selbsteinschätzung

  • Wie würden Sie einem sehenden Menschen Ihr Sehvermögen beschreiben?

F2. Verfügbare Hilfestellungen, Effektivität der Hilfestellungen

  • Ganz allgemein gesprochen, auf welche Hilfsmittel greifen Sie in Ihrem Alltag zurück und wie gut können Sie diese nutzen?

F3. Themenbereich räumliche Mobilität

  • In welchen Situationen benötigen Sie räumliche Mobilität?

  • Wie gehen Sie [in diesen Situationen] vor?

  • Auf welche Probleme stoßen Sie [in diesen Situationen]?

  • Wie müsste die Umwelt Ihrer Meinung nach gestaltet sein, damit Sie [diese Probleme] nicht haben? Haben Sie Lösungsideen?

  • Fordern/Bekommen/Akzeptieren Sie Hilfe von anderen Personen?

F4. Themenbereich tägliche Besorgungen

  • In welcher Haushaltsform leben Sie?

  • Wie gehen Sie beim Einkaufen vor?

  • Fordern/Bekommen/Akzeptieren Sie Hilfe von anderen Personen?

F5. Themenbereich Arbeit

  • Können Sie mir nun etwas über Ihre Arbeit erzählen?

  • Fordern/Bekommen/Akzeptieren Sie Hilfe von anderen Personen?

F6. Themenbereich Freizeit

  • Wie gestalten Sie ihre Freizeit?

  • Gibt es etwas, was Sie gerne tun würden, aber aufgrund ihrer Sehbehinderung nicht tun können?

F7. Unstrukturierter Teil

  • Möchten Sie nun über etwas sprechen, worüber wir noch nicht gesprochen haben?

11.2 Abstract (Deutsch)

Die vorliegende Diplomarbeit analysiert ausgewählte Partizipationschancen sehgeschädigter Menschen in Wien. Um Barrieren zur gesellschaftlichen Teilhabe zu überwinden, können Menschen mit Sehschädigung diese Exklusionsfaktoren auf dem Wege individueller, struktureller oder intervenierender Kompensation mehr oder weniger erfolgreich überwinden. Dabei stellt individuelle Kompensation den Einsatz persönlicher Hilfsmittel dar, während strukturelle Kompensation Elemente barrierearmer Umweltgestaltung benennt. Intervenierende Kompensation bezeichnet schließlich das helfende Eingreifen Dritter.

Soziologisch relevant ist dabei die Frage, in welchen Lebensbereichen welche Kompensationsformen von Betroffenen bevorzugt angenommen und effektiv eingesetzt werden können. Darüber hinaus wird ein Fokus auf Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Formen von Kompensation gelegt.

Auf dem Wege qualitativer Sozialforschung wurden mittels ero-epischer problemzentrierter Interviews zehn Personen mit Sehschädigung über ihre Alltagsgestaltung, ihre Alltagsprobleme in Bezug auf ihre Behinderung und damit verbundene Kompensationsstrategien befragt. Die Ergebnisse dieser Interviews werden zunächst in Form von fünf typischen, nach Präferenz für strukturelle und intervenierende Kompensationsformen geordneten Fallbeispielen präsentiert. Der Schwerpunkt dieser Analysen liegt dabei gemäß der Auswahl der Lebensbereiche auf räumlicher Mobilität, Alltagshandlungen wie Einkäufe und individualisierter gesellschaftlicher Partizipation im Sinne von Erwerbsarbeit und gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Engagements.

Die Auswertungen der Interviews zeigen übereinstimmend gravierende Defizite in der Verfügbarkeit von strukturellen und intervenierenden Kompensationsangeboten und erhebliche Diskrepanzen zwischen den vorhandenen und den von Betroffenen erwünschten Kompensationsangeboten. Gesellschaftliche Partizipation ist für Menschen mit Sehschädigung daher im erheblichen Ausmaß mit großen finanziellen und persönlichen Aufwendungen sowie hoher psychischer Belastung verbunden.

Um aus den Ergebnissen eine sozialpolitische Handlungsanleitung zu gewinnen, wurde schließlich ein Präferenzmodell konstruiert, welches eine empirisch begründete Verbindung von Partizipationsebenen und ausdifferenzierten Kompensationsformen herstellt.

Darüber hinaus konnten komplexe Diskriminierungseffekte beschrieben und analysiert werden, die eine zukünftige deutliche Ausdifferenzierung im Umgang der Sozialwissenschaften mit dem Thema Behinderung erforderlich machen.

11.3 Abstract (English)

The present diploma thesis analyses the chances of visually impaired people in participating in society. To overcome their obstacles, which are both environment-driven and societydriven, visually impaired people rely on individual, structural and intervening compensation. Herein, individual compensation denotes personal aides of any kind, whereas structural compensation comprises a built environment that caters for the special needs of this group. Lastly, intervening compensation describes other parties' supporting engagement.

Sociologically speaking, it is important to explore, in which areas of life what sorts of compensation matter to visually impaired people the most, and which of the present offers, they can use most efficiently. Furthermore, a dedicated focus has to be set on the interactions between the different kinds of compensation.

Using an ero-epic design of the problem-centered interview, ten visually impaired people were asked to talk about their daily lives; impairment-related problems encountered and applied strategies of compensation. The findings are firstly presented as five typical case studies varied by their preference for structural and intervening compensation, focusing on spatial mobility, basic participation like shopping for daily needs and individual participation in society like modes of employment and social, cultural, political engagement.

The evaluation of the interviews congruently shows a significant lack in the provision for structural and intervening compensation. Even more, there are also large discrepancies between present and desired kinds of compensation. Hence, societal participation for people living with visual impairment entails great expenses - financially and personal - and causes significant amount of psychological stress.

In order to channel these findings into a concise recommendation for sociopolitical action, a preference-model based on these interviews links the various layers of social participation to further diversified kinds of compensation.

Beyond that, complex mechanisms of discrimination against visually impaired people could be found and have been analyzed. These findings point to the need for a more differentiated approach to disability and impairment compared to the concepts which are currently available in the social sciences.

11.4 Lebenslauf des Autors

Persönliche Daten

Name: Aaron Banovics

Staatszugehörigkeit: Österreich

Geburtsdatum, -ort: 15. Apr. 1984, Wien

Studienbezogene Tätigkeiten

2012~ Vortragstätigkeit und Praxistraining zum Umgang mit hochgradig sehbehinderten Menschen

2010-2011 Aufenthalt in Leeds und Oxford, Großbritannien zur Konzeptbildung der Diplomarbeit

2010 Studentisches Mitglied im Barrierefrei Beirat der Universität Wien

Studienbezogene Publikationen

Banovics, Aaron. 2007. Mobilfunk heute - Technische Grundlagen und Umgang Jugendlicher mit dem neuen Medium. VDM: Saarbrücken.

Bildungsweg

2006-2012 Studium der Soziologie an der Universität Wien

2002-2006 Pädagogische Akademie Eisenstadt, Abschluss mit der Lehrbefugnis für die Hauptschule/Sekundarstufe I in den Fächern Mathematik, Physik, Chemie und Informatik

1994-2002 Bundesrealgymnasium Bruck a.d. Leitha

1990-1994 Volksschule II in Bruck a.d. Leitha

Quelle:

Aaron Banovics: Strukturelle und intervenierende Kompensationsstrategien: Ausgewählte Partizipationschancen von sehgeschädigten Personen in Österreich.

Diplomarbeit: angestrebter akademischer Grad Magister der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Mag. rer. soc. oec.) Wien, 2012; Betreuerin / Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Rudolf Forster; Studienrichtung lt. Studienblatt: Diplomstudium Soziologie (sozial-/wirtschaftswissenschaftl. Stud.).

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 30.10.2013

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