Behindertes Leben und Lebensqualität - Offene Fragen zum Schwangerschaftsabbruch aus Sicht der Sonderpädagogik

Autor:in - Georg Antor
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Buch
Releaseinfo: aus: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988, S. 471-488
Copyright: © Curio Verlag 1988

Vorbemerkung

Mancher Leser wird sich fragen, ob der nachstehende Beitrag in einem Buch über Integration richtig plaziert ist. Deshalb eine kurze Vorbemerkung. Heute sucht man vielerorts nach Wegen, um selbst noch schwerstbehinderte Kinder zusammen mit nicht behinderten Kindern zu fördern (vgl. HINZ 1987). Wie immer man über den Umfang und Erfolg solcher Versuche urteilen mag, so steht dahinter doch die Absicht, Behinderte zu akzeptieren. Doch was so ermutigend scheint, ist nur die eine Seite. Die andere ist, daß heute Wissenschaft und Technik dem Menschen Möglichkeiten an die Hand geben, die Entstehung geschädigten Lebens immer zuverlässiger auszuschließen, Möglichkeiten, von denen Eltern, wie es scheint, zunehmend Gebrauch machen. Noch einen Schritt weiter gehen philosophische Ethiken, die eine Tötung geschädigter Kinder unter relativ weit gefaßten Bedingungen für moralisch vertretbar halten. Das ist ein irritierend widersprüchlicher Befund. Er bestimmt meine Skepsis, nicht gegenüber Integration, wohl aber gegenüber manchen Utopien der pädagogischen Integrationsidee (ANTOR 1988).

Einleitung

Der bundesdeutsche Gesetzgeber räumt in Paragraph 218 StGB Eltern im Fall einer ungünstigen Prognose des werdenden Lebens die Möglichkeit zur Abtreibung ein. Man kann darin den Versuch sehen, zwischen zwei konträren Basisnormen zu vermitteln: einem absolut gesetzten Recht auf Leben und einer ethisch-utilitaristischen Maxime, die das Recht auf Wohlergehen aller Betroffenen ("Quality of Life") grundsätzlich einem religiös bzw. naturrechtlich begründeten Lebensrecht ("Sanctity of Life") überordnet (SINGER 1983). Dieser Konflikt geht nicht nur den Arzt etwas an, auch den Sonderpädagogen. Gewiß hat er mit der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs aus eugenischen Gründen praktisch nur am Rande zu tun. Aber sie berührt sein berufliches Selbstverständnis. Wie kann er seinen Auftrag der Parteinahme für Schwache und Benachteiligte glaubwürdig vertreten und gleichzeitig das Lebensrecht Behinderter durch Zustimmung zum Schwangerschaftsabbruch relativieren? Zugestanden, diese Frage macht mich ratlos. Ich halte sie für zutreffend formuliert und sehe dennoch keinen befriedigenderen Weg, als das Entscheidungsrecht und die Verantwortungsfähigkeit der Betroffenen in dieser Frage uneingeschränkt zu akzeptieren. Diese Position ist risikoreich. Sie provoziert mehrere Anschlußfragen, die ich im folgenden eher erläutern als beantworten kann. Ich nenne deren drei:

  1. Inwieweit kann das Streben nach Wohlergehen, nach Leidfreiheit ein legitimes Ziel sonderpädagogischen Handelns sein?

  2. Wie steht es um die Interessenvertretung Ungeborener?

  3. Gerät, wer dem utilitaristischen Streben des Menschen durch Zustimmung zur Abtreibung nachgibt, nicht auf eine schiefe Bahn? Könnte nicht am Ende die Tötung bereits geborener Menschen stehen?

Den Anstoß zu der letzteren Frage erhielt ich durch die Ethik des australischen Philosophen P. SINGER. Sie verdient diese besondere Hervorhebung offenbar weniger wegen ihrer Verbreitung in bundesdeutschen philosophischen Fachpublikationen. SINGER steht vielmehr exemplarisch für eine Reihe englischsprachiger Autoren (z. B. FLETCHER, TOOLEY), die auch eine Euthanasie geborener geschädigter Kinder befürworten. Die Bedeutung seiner Ethik für die Bundesrepublik sehe ich zur Zeit eher darin, daß sie einer vielfach als bedenklich beurteilten genetischen Beratungspraxis, für die die Frage der Beendigung der Schwangerschaft keine Frage mehr ist (SPECK 1987), die willkommene theoretische Begründung liefert.

1. Leidfreiheit - ein legitimes Ziel sonderpädagogischen Handelns?

Im Angesicht von Behinderung sind wir unabweislich vor die Frage gestellt, wie wir über den Sinn menschlichen Leids denken. Man mag der Auffassung sein, daß Leiden Erfahrungen bereithält, auf die kein Mensch verzichten sollte. "Alle wirklich höhere Menschlichkeit", so HANSELMANN, "wird ... erzeugt ... im Leiden" (1941, 214). Dennoch wird man dem Pädagogen OELKERS vermutlich zustimmen, wenn er - in gut utilitaristischer Manier - betont, Pädagogik wolle letztlich "das Glück des Menschen befördern", ihm also Leid gerade "ersparen" (1985, 18). Offenbar gilt es als ethisch illegitim, pädagogische Maßnahmen zu treffen oder sie bewußt zu unterlassen, wenn die voraussehbare Wirkung Leid bedeutet. Leiden darf also, auch bei positiver Sinngebung, nicht willentlich herbeigeführt werden. Dennoch ist bekanntlich dafür gesorgt, daß Menschen immer wieder leidvolle Erfahrungen machen, gerade auch als Folge von Erziehung, aber nicht weil sie intendiert werden, eher weil Erziehung regelhaft "ungewollte Nebenwirkungen" hat (SPRANGER 1962). Pädagogische Maßnahmen, so drückt KLAUER diesen Sachverhalt aus, sind "multieffektiv" (1984, 166 f.). Es gibt keine gesicherte Kausalbeziehung zwischen den positiven Absichten eines Erziehers und ebenso positiven Wirkungen.

Auch die Sonderpädagogik hält es für ihre vornehmste Aufgabe, Schädigungen und damit Leid der Betroffenen gar nicht erst entstehen zu lassen. Prävention von Behinderung findet sogar noch vor einer Integration Behinderter Zustimmung. Dieser pauschale Kredit, den die Prävention in der Sonderpädagogik meist genießt, ist differenzierungsbedürftig. Glück mag ein legitimes Ziel sozialer Hilfen sein - mit der Einschränkung freilich, daß es etwas viel zu Persönliches ist, als daß man es direkt sozialpolitisch 'herstellen' könnte (HÖFFE 1975, 186 ff.). Doch diese Legitimität gilt nicht unter allen Umständen. Das wird deutlich, wenn man einen ethischen Maßstab an sozialpolitische Präventionsmaßnahmen anlegt.

Prävention hat ein Doppelgesicht. Sie verspricht, Leiden im Gefolge von Krankheit und Behinderung gleichsam an der Wurzel zu bekämpfen - und steht damit zugleich im Dienst einer stromlinienförmigen, behindertenfeindlichen Normalität gesellschaftlicher Leitbilder wie Gesundheit und Intelligenz. Neben diesen Normalitätsstandards sind es ferner die Art und Weise sowie der Zeitpunkt des Eingriffs in den Prozeß einer entstehenden Behinderung, die ethische Fragen aufwerfen können.

Umstritten ist vor allem die Frühprävention, auch "Primärprävention" genannt (CAPLAN 1971, VII) - gar nicht zu reden von einer Prävention sensu SINGER, auf die ich später noch zurückkomme. Dabei ist gerade die Frühprävention durchaus effektiv.

Dem modernen Menschen sind biotechnische Möglichkeiten zugewachsen, die in Grenzen wirksam verhindern können, daß geschädigte Kinder überhaupt geboren werden. Zurückhaltende Schätzungen gehen von einer vergleichsweise geringen Zahl von etwa 5% , aber immer noch 50 000 aus, um die die Zahl schwerstbehinderter Menschen in der Bundesrepublik verringert werden könnte. Damit sind eine Genanalyse der Eltern in Verbindung mit eventuellem freiwilligem Schwangerschaftsverzicht gemeint sowie Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen und, bei Prognose eines Risikos geistiger oder körperlicher Behinderung, anschließende Abtreibung (VAN DEN DAELE 1985, 89). Die ethische Fragwürdigkeit solcher Prävention wird u.a. darin gesehen, daß sie in verhängnisvoller Weise zurückwirken dürfte auf die soziale Akzeptanz bereits lebender bzw. trotz Prävention weiterhin geborener behinderter Menschen (zusammenfassend: BOBAN & HINZ 1987, 27). M.a.W.: Maßnahmen, die geeignet sind, das Leid der jetzt noch ungeborenen Behinderten dadurch zu verringern, daß man in Risikofällen Zeugung bzw. Geburt auszuschließen sucht, scheinen im Gegenzug das Leid lebender Behinderter zu erhöhen. Hier kehrt ein grundlegendes ethisches Problem wieder, das aus der Ökologie-Debatte bekannt ist: der Interessenkonflikt zwischen den heute Lebenden und den noch Ungeborenen. Eine schwangere Frau mit einem geschädigten Fötus ist in dem gleichen Konflikt, wenn sie sich fragt, ob sie ihr persönliches Glück hinter das Lebensrecht des noch Ungeborenen zurückstellen und auf einen Schwangerschaftsabbruch verzichten soll.

Die Frage, ob genetische Prävention ethisch zu rechtfertigen ist, beantwortet VAN DEN DAELE - Mitglied der Enquetekommission 'Chancen und Risiken der Gentechnologie' des deutschen Bundestages - mit der "Berufung auf die Freiheit der Person" (1985, 141). Folgerichtig möchte er Eltern solche biotechnischen Möglichkeiten im Rahmen ihrer individuellen Lebensplanung und innerhalb der geltenden Gesetze nicht vorenthalten, trotz erheblicher moralischer Bedenken. Wohl aber sieht er in diesen Bedenken ein Argument gegen jede Form staatlicher Zwangsprävention zur Senkung von Kosten im Gesundheitswesen. Das wäre dann der Punkt, an dem die moderne humangenetische Beratung in eine Bevölkerungseugenik wie im Dritten Reich umschlagen würde. "Die entscheidende Aufgabe", so VAN DEN DAELE, "wird die Abwehr von Strategien der 'Bereinigung' der Bevölkerung sein, die angeblich versprechen, komplexe Probleme der Gesellschaft, etwa das ... der erblich bedingten Behinderungen, einer einfachen endgültigen Lösung entgegenzuführen" (1985, 216).

Unter den Entscheidungskriterien für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch hat die Frage gewiß erhebliches Gewicht, wie der Staat in Zukunft seine sozialpolitische Verantwortung für Eltern mit einem behinderten Kind wahrnimmt. Unabhängig davon aber ist die Erwartung, ein behindertes Kind zu bekommen, dem ein Leben ohne Lebensqualität bevorsteht, eine Quelle des Leidens für seine Eltern. Der Sonderpädagoge mag es bedauern, aber er hat nicht das Recht, den Wunsch, ohne Behinderte zu leben, zu tadeln. Doch die Befürchtungen Betroffener müssen sich nicht bestätigen. Eltern sollten in einer humangenetischen Beratungsstelle anschaulich erfahren können - indem man etwa Behinderte in solche Beratungen einbezieht - , daß auch behinderte Menschen ein ausgefülltes Leben führen können. Damit ließe sich zugleich das Lebensrecht des Fötus authentischer zur Geltung bringen und das Problem stellvertretender Interessenwahrnehmung durch die Eltern verringern (s.u.).

2. Interessenvertretung Ungeborener

Wenn das Recht auf Leben im Bewußtsein der Menschen nicht mehr den Rang eines Naturrechts einnimmt, das einfach zu befolgen ist, wird es zu einer Angelegenheit des Diskurses. Betroffene Eltern beraten dann mit Experten darüber, ob z.B. in dem konkreten Fall eines geschädigten Fötus im Mutterleib dieser ein Lebensrecht haben soll oder nicht. Nun ist es aber ein besonderes Merkmal dieses Diskurses, daß der Hauptbetroffene, der Ungeborene, gar nicht mitreden kann, wie im Rahmen einer Diskursethik gerade zu fordern wäre (HABERMAS 1986, 32). Am Diskurs können nur Menschen teilnehmen, die mündig sind, also erst einmal geboren sein müssen. Das ungeborene Wesen ist damit von Entscheidungen betroffen, von deren Zustandekommen es ausgeschlossen ist. So bleibt es darauf angewiesen, daß diejenigen die in seinem Namen sprechen, also vormundschaftlich, advokatorisch handeln, schon die für es richtige Entscheidung treffen.

Theoretisch ist das ein Problem der Vereinbarkeit von Diskursethik mit einer "advokatorischen Ethik" (BRUMLIK 1986; 1987), die das Diskursprinzip teilweise außer Kraft setzt. Das hört sich an wie eine abgehobene akademische Erörterung, hat aber erhebliche praktische Auswirkungen. Aus den USA sind Klagen auf "Schadenersatzansprüche" behindert geborener Kinder gegen Ärzte und genetische Berater wegen unterlassener Abtreibung bekannt geworden, denen teilweise stattgegeben wurde, sog. wrongful life-Klagen. Dabei akzeptieren die Gerichte das strikt utilitaristische Argument, es sei besser, gar nicht als behindert geboren zu werden (VAN DEN DAELE 1985, 85). Ein Anspruch von Eltern gegenüber dem Arzt wegen der unerwünschten Geburt eines geschädigten Kindes (wrongful birth) wird ohnedies anerkannt, offenbar auch in der Bundesrepublik (DEUTSCH 1984, 794). Es fehlt eigentlich nur noch, daß behinderte Kinder auch gegen ihre Eltern Ansprüche stellen, weil sie nicht geboren sein wollten. Dem hat der Gesetzgeber in den USA jedoch einen Riegel vorgeschoben.

Sobald man die absolute Gültigkeit eines Rechts auf Leben relativiert und es pragmatisch zum Gegenstand von Verhandlungen macht - notwendigerweise ohne den Hauptbetroffenen -, muß man es wohl hinnehmen, daß das Ergebnis nachträglich in Frage gestellt wird, wenn schon nicht rechtswirksam, dann zumindest moralisch.

Die Probleme, die mit einer advokatorischen Interessenwahrnehmung verbunden sind, sind grundsätzlich nicht neu und wohl auch nicht zu vermeiden. Auch Eltern und Pädagogen sind Advokaten und folglich mit diesen Problemen vertraut. Sie haben stellvertretend für unmündige Kinder Entscheidungen zu treffen, von deren moralischer Richtigkeit sie überzeugt sind; denn sie wollen das Beste. Sie entwerfen Maßnahmen, die oft weit in die Zukunft eines Kindes hineinreichen. Dabei müssen sie von der Fiktion ausgehen, daß derjenige, für den sie handeln, genauso handeln würde, wenn er zu eigenverantwortlichem Handeln fähig wäre, bzw. daß er später einmal, mündig geworden, den pädagogischen Maßnahmen zustimmt. Daß die Wirklichkeit oftmals anders aussieht als diese Fiktion, ist trivial. Entscheidungen der Eltern werden im Rückblick als verhängnisvoll und obendrein irreversibel kritisiert. Aber auch nicht im schlimmsten Fall fehlgelaufener Erziehung haben pädagogische Entscheidungen Folgen, die sich mit der Ermöglichung oder Verunmöglichung des Rechts auf Leben vergleichen ließen. Hier ist das Risiko, falsch entschieden zu haben, d.h. anders, als der Betroffene nachträglich entscheiden würde, grundsätzlich nicht mehr korrigierbar.

3. Zur utilitaristischen Ethik P. SINGER's - die Frage nach der Transzendenz

Woran sollen sich heute Eltern halten, wenn sie nach Entscheidungshilfen für diese bedrängenden Fragen suchen? Der Eindruck ist verbreitet, daß der Handlungsvorsprung der Naturwissenschaften zu groß geworden ist, als daß die Normalreflexion noch Schritt halten könnte. Es passiert das, was die philosophische Ethik einen naturalistischen Fehlschluß nennt: Was der Mensch tun darf, richtet sich mehr und mehr nach dem, was er kann. Moralentwicklung als Anpassung der Normen an die vollendeten Tatsachen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse.

Eine Ausnahme könnte da die Ethik des australischen Philosophen P. SINGER sein. Sie ist streng rationalistisch, prinziporientiert und gibt sich selbst dabei im Einklang mit evolutionstheoretischen Erkenntnissen der Biologie (SINGER 1984 und 1989; vgl. HENNINGER 1985). Sie gehört zum Spektrum einer breitgefächerten utilitaristischen Denkrichtung, die in der englischsprachigen Welt, anders als im deutschen Sprachraum, eine lange Tradition hat. SINGER geht über das bisher Besprochene insofern hinaus, als er auch dann noch ein Recht auf Lebensqualität über das Recht auf Leben stellt, wenn dieses Leben bereits geboren und schwer geschädigt ist ("severely disabled"), und das grundsätzlich, nicht etwa pragmatisch. Diese Art Prävention gegen das Leid von Eltern und behindertem Kind ist, wie SINGER meint, frei von den Unsicherheiten pränataler Diagnostik. Sie sei damit besonders effektiv und sie schone zugleich Menschenleben, weil sie solche Schwangerschaftsabbrüche unnötig mache, die lediglich vorgenommen werden, um auch mögliche Risiken einer Schädigung des Kindes, nicht nur nachweisbare, auszuschließen (1984, 186 f.).

SINGER konfrontiert den Leser seiner Schriften (im folgenden: SINGER 1984; KUHSE & SINGER 1985) mit einem irritierenden Gegensatz. Einerseits betont er sehr wohl ein Recht auf Leben, und das nicht nur für menschliche Lebewesen, sondern für alle, die schmerzempfindlich sind. Recht auf Leben ist hier kein Gattungsrecht des Menschen, es wird zu einem universalistischen Prinzip für Menschen und Tiere.

Auch Tiere gehören zu denen, die von unseren Handlungen betroffen sind und deren Wohlergehen wir folglich zu achten haben. Das ist SINGER's zentraler Kritikpunkt an der Doktrin von der Heiligkeit des Lebens, daß ihre Anhänger darunter in Wirklichkeit nur die Heiligkeit des menschlichen Lebens verstünden (KUHSE & SINGER 1985, 118 ff.; dagegen SCHWEITZER 1960). SINGER kommt hier im fortschrittlichen Gewand des Ökologen daher, der der bedenkenlosen Vernichtung der tierischen Arten durch den Menschen das Prinzip gleiche Interessen von Mensch und Tier entgegenstellt. Er möchte das Gleichheitsprinzip über unsere Gattung hinaus verwirklicht sehen und damit seine bisherige Eingrenzung auf das Verhältnis zwischen Menschen, etwa zwischen Geschlechtern, den Rassen, den Völkern überwinden (1984, 70 ff.). SINGER schließt damit an frühen Kronzeugen utilitaristischer Ethik an, den englischen Philosophen J. BENTHAM, der vor etwa zweihundert Jahren in einem berühmten Plädoyer die Rechte von Tieren so begründet hat (sinngemäß zitiert nach HÖFFE 1984, 134): Die Frage ist nicht, ob Tiere Verstand haben, ob sie sprechen können; die Frage ist, ob sie leiden können. In der Rücksichtnahme auf Schmerz- und Angstunfähigkeit hat jede Tierschutzethik, so auch der Schweizer Philosoph HÖFFE, ihren letzten Grund (1984, 134).

Wie verträgt sich nun aber eine solche Wertschätzung tierischen Lebens durch SINGER mit der Tatsache, daß er Tötung menschlichen Lebens, jedenfalls dann, wenn dieses gravierend geschädigt ist, moralisch billigt? Während HÖFFE keinen Zweifel daran aufkommen läßt, daß zwischen Mensch und Tier nicht nur Gleichheit bestehe, sondern auch Ungleichheiit, und daß erst sie, nämlich die moralische Einsichtsfähigkeit des Menschen, seine besondere Verantwortung für das Tier begründe (1984, 130 ff.), läßt SINGER eine solche Gattungsgrenze für die Rechte von Lebewesen nicht gelten. Sein Maßstab, nach dem er alles Leben bewertet wissen will, heißt Personalität, im wesentlichen verstanden als Bewußtsein von sich selbst, Vernunftbegabtheit und Kommunikationsfähigkeit.

Folgenreich für seine Argumentation ist SINGER's Unterscheidung zwischen Person und Nicht-Person. Sie fällt bei ihm nicht in der uns gewohnten Weise zusammen mit der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Nach seiner Definition sind auch nicht-menschliche Lebewesen wie etwa das Schwein oder der Schimpanse offensichtlich Personen, während andererseits Menschen, z.B. ein neugeborenes Kind etwa bis zum Alter von 1 Monat, erst recht, wenn es geschädigt ist, oder ein geistesgestörter Erwachsener keine Personen sind. Das hat Folgen für den Wert ihres Lebens. SINGER "scheint es, daß etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine Person ist" (1984, 135). Darin liegt auch der Grund, warum er keinen grundsätzlichen Unterschied zu sehen vermag zwischen einer Abtreibung und der Tötung eines Babys, sind doch beide, Fötus wie Neugeborenes, für ihn nicht Personen (ebd., 168 ff.). Wer die Abtreibung rechtfertige, müsse logischerweise auch einer Kindestötung kurz nach der Geburt zustimmen - unter der Voraussetzung, daß dies im Einverständnis mit den Eltern geschieht und eine Adoption so wenig wie staatliche Fürsorge möglich ist (ebd., 173; KUHSE & SINGER 1985, 191 ff.). Diese normativen Aussagen implizieren, Lebewesen nach ihren tatsächlichen Fähigkeiten zu beurteilen und erst davon die ihnen zustehenden Rechte, so das Recht auf Leben, abzuleiten. Für SINGER ist es schierer "Gattungsegoismus", Lebewesen (wie z.B. schwer geistesgestörte Menschen) nach den Merkmalen zu beurteilen, die für ihre Gattung normal sein mögen, über die sie selbst aber nicht verfügen.

Das Ergebnis ist für mich bestürzend: eine ökologiebewußte Ethik für ein Lebensrecht menschlicher und tierischer Lebewesen führt faktisch dazu, daß manchem Tier dieses Recht eher eingeräumt wird als manchem Menschen. Man kann zugespitzt sagen: SINGER argumentiert im Namen der Gleichheit aller Lebewesen, auch der tierischen, gegen eine Gleichheit aller Menschen. Damit verschwimmen die Konturen des spezifisch Menschlichen ebenso wie die Vorrangstellung mitmenschlicher Solidarität verlorengeht. An der Hürde einer Personalität sensu SINGER scheitern nicht nur Schwerstbehinderte - wobei SINGER hauptsächlich an Down-Syndrom-Kinder mit einer zusätzlichen Schädigung denkt (SINGER & KUHSE 1985, 11ff.) -, auch manche geistig Behinderte. Sie verlieren mit dem von SINGER kritisierten Gattungsegoismus eine Art Schutzschild, unter dem sie bisher im Schutz der Rechte Nichtbehinderter leben können. Unter ihnen sind Menschen, die den Zustand der Mündigkeit vielleicht nie erreichen, denen gegenüber ein Leben lang advokatorisch gehandelt werden muß - wie übrigens auch, in anderer Weise, gegenüber Tieren.

Was begründet es bei dieser Sachlage, ihnen, den Menschen gleichwohl mehr Schutz, mehr Hilfe angedeihen zu lassen als Tieren? M. a. W.: Was spricht für eine "abgestufte Solidarität" zwischen Mensch und Tier in dem Sinne, daß "im Konfliktfall ... dem Menschen (in jeder Gestalt; G.A.) der Vorrang vor dem Tier" gebührt (HÖFFE 1984, 134)? Aber ist denn der Mensch nur durch seine Fähigkeit zu kennzeichnen, mündig zu werden in einem langen Weg der Erziehung? Gibt es nicht auch Würde, Integrität? BRUMLIK möchte die Würde des Menschen noch vor das Prinzip der Mündigkeit gestellt sehen, angesichts einer Zeit, in der unvernünftiges menschliches Leben kurzerhand zu lebensunwert erklärt wurde (1987, 70). Aber auch das Tier hat Würde. Was ist dann der Grund dafür, daß wir - anders als SINGER - die Würde eines jeden Menschen über die eines jeden Tieres stellen sollen?

SINGER, der innerhalb eines strikt innerweltlichen Bezugssystems überzeugend argumentiert, läßt eigentlich nur zwei Auswege, das Vorrecht des Schwerstbehinderten vor irgendwelchen Tieren, also "Gattungsegoismus" zu behaupten. Der eine ist die Stimme der Natur in uns, unsere "moralische Intuition" (HABERMAS). Als ich Kölner Studenten in einem Ethik-Seminar mit dem SINGER-Zitat (Vergleich von Schimpanse und Säugling) konfrontierte, gab es spontane Reaktionen der Abwehr und der Entrüstung. Der andere Ausweg, falls wir nicht bereit sind, die Natur als zuverlässige Berufungsinstanz zu akzeptieren, ist die Suche nach transzendentalen Gründen. Ein beeindruckendes Beispiel hat der niederländische Sonderpädagoge STOLK (1988) in seinem Beitrag über Euthanasie gegeben. Ein anderes stammt von THIMM, der eine zentrale Aussage der Heilpädagogik HANSELMANN's so zusammenfaßt: "Die gemeinsame Gotteskindschaft aller Menschen ist letzter Grund" sonderpädagogischer Hilfe (1985, 135). Der religiöse Kern einer solchen Helferethik beruht auf einem Akt des Glaubens. Ob es möglich ist, ihn auch rational zu begründen, weiß ich nicht. Hoffnungen setze ich diesbezüglich auf eine transzendentale Argumentation, etwa im Rahmen einer Theorie der idealen Kommunikationsgemeinschaft im Sinne von APEL und HABERMAS.

Eine überraschende Parallele dazu findet sich übrigens, bei allen sonstigen Unterschieden, in dem dialektischen Personbegriff, wie er aus der christlichen Tradition bekannt ist: Der Mensch wird, empirisch, Person, aber er ist transzendental, kontrafaktisch 'immer schon' Person (vgl. SCARBATH 1983, 226). Kontrafaktisch heißt, gegen die (beweisbaren) Fakten. Das ist etwas anderes als realitätsblind. Kontrafaktisch ist z. B. die Antwort KALAKOWSKI's auf die Frage, ob man behinderte Kinder töten dürfe: "Wir können es nicht beweisen, daß es verboten ist, behinderte Kinder zu töten." Aber auch ohne einen solchen Beweis, so KOLAKOWSKI weiter, müssen wir an dem Verbot festhalten, weil wir "mit Grund (!) glauben, daß (seine) Abschaffung ... einen Verzicht auf Humanität in unserem Sinne oder gar das Ende einer menschlichen Welt bedeuten würde" (1983, 1098).

Ein anderes Beispiel für kontrafaktische Annahmen findet sich in der Pädagogik Schwerstbehinderter. Schwerstbehinderte lernen - nicht nur, aber auch! -, indem Pädagogen mit ihnen so umgehen, so zu ihnen sprechen, als seien sie bereits in der Lage zu verstehen. Der Wirkmechanismus kontrafaktischen Umgangs ist aus der Sozialpsychologie als self-fulfilling prophecy bestens bekannt. Umgekehrt mag es Kinder geben, die ohne Betreuung aufwachsen mit der Folge, daß sich Kommunikationsfähigkeit und Denken viel später als gewöhnlich entwickeln (vgl. dazu das historische Beispiel des "Wilden von Aveyron" in: MALSON et al. 1972). Person ist auch ein Interaktionsbegriff. SINGER verfehlt diese Beziehungsebene, wenn er die Grenze zwischen Person und Nicht-Person allein nach dem Lebensalter zieht. Auch die Situation einer schwangeren Frau mit einem geschädigten Fötus im Bauch stellt eine Beziehung zwischen zwei Lebewesen dar, deren Interessen auf eine konflikthafte Weise gegeneinander abzuwägen sind (vgl. SPECK 1987). Für Eltern, die sich dieses Konflikts und ihrer Stellvertreterrolle darin bewußt sind, bietet die Ethik SINGER's jedenfalls keine Entscheidungshilfe. Sie bleibt im Gegenteil unter dem zu fordernden Problemniveau. Aber kann man von der Philosophie überhaupt Hilfe erwarten? HABERMAS äußert sich skeptisch: " ... die Philosophie nimmt niemandem die praktische Verantwortung ab" (1986, 33).

Literatur

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BRUMLIK, M.: Über die Ansprüche Ungeborener und Unmündiger. Wie advokatorisch ist die diskursive Ethik? In: KUHLMANN, W. (Hrsg.): Frankfurt 1986, 265-300

BRUMLIK, M.: Ist eine advokatorische Ethik möglich? In: RAUSCHENBACH, Th. & THIERSCH, H. (Hrsg.): Die herausgeforderte Moral. Lebensbewältigung in Erziehung und sozialer Arbeit. Bielefeld 1987, 59-72

CAPLAN, G.: An Approach to Community Mental Health. London 1971

VAN DEN DAELE, W.: Mensch nach Maß? Ethische Probleme der Genmanipulation und Gentherapie. München 1985

DEUTSCH, E.: Unerwünschte Empfängnis, unerwünschte Geburt und unerwünschtes Leben verglichen mit wrongful conception, wrongful birth and wrongful life des angloamerikanischen Rechts. Monatsschrift für Deutsches Recht 38 (1984), 793-795

HABERMAS, J.: Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: KUHLMANN (Hrsg.) 1986, 16-37

HANSELMANN, H.: Grundlinien zu einer Theorie der Sondererziehung. Zürich 1941

HENNINGER, H.: Der Mensch - eine Marionette der Evolution? Eine Kritik an der Soziobiologie. Frankfurt 1985

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HÖFFE, O.: Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse. Freiburg/München 1975

HÖFFE, O.: Der wissenschaftliche Tierversuch: eine bioethische Fallstudie. Anhang: Der wissenschaftliche Tierversuch im Spiegel der neueren Rechtsentwicklung. In: STRÖKER, E. (Hrsg.): Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. München 1984, 117-150

JONAS, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt 1980

KLAUER, K.J.: Erzieherische Einwirkung und Selbstbestimmung: Wie haben wir uns vorzustellen, daß pädagogische Einflüsse wirksam werden? In: WINKEL, R. (Hrsg.): Deutsche Pädagogen der Gegenwart. Band 1. Düsseldorf 1984, 163-180

KOLAKOWSKI, L.: Killing handicapped babies - ein philosophisches Problem. Merkur 27 (1973), 1093 - 1100

KUHLMANN, W. (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt 1986

KUHSE, H. & SINGER, P.: Should be Baby Live? The Problem of Handicapped Infants. Oxford 1985

MALSON, L. u. a.: Die wilden Kinder. Frankfurt 1972

OELKERS, J.: Die Herausforderung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Literarische Reflexionen in pädagogischer Absicht. Weinheim 1985

SCARBATH, H.: Was ist pädagogische Kompetenz? In: DIETERICH, R. (Hrsg.): Pädagogische Handlungskompetenz. Paderborn/München/Wien/Zürich 1983, 224-248

SCHWEITZER, A.: Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. In: Ders. (Hrsg.): Kultur und Ethik. München 1960, 328-353

SINGER, P.: Sanctity of Life or Quality of Life? Pediatrics 72 (1983), 128-129

SINGER, P.: Praktische Ethik. Stuttgart 1984

SPECK, O.: Die Schwächsten das Leben lehren. Süddeutsche Zeitung Nr. 55, 7./8. März 1987

SPRANGER, E.: Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung. Heidelberg 1962

STOLK, J.: Euthanasie und der Wert des Lebens schwer behinderter Kinder. Beitrag zu den Gesprächstagen "Ethische Aspekte der Hilfen für Behinderte" in Bad Zwischenahn vom 28. - 30. Januar 1988

THIMM, W.: Leiden und Mitleiden - ein unbewältigtes Problem der Behindertenpädagogik. Vierteljahreschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 54 (1985), 127-141

Quelle:

Georg Antor: Behindertes Leben und Lebensqualität - Offene Fragen zum Schwangerschaftsabbruch aus Sicht der Sonderpädagogik

In: Hans Wocken, Georg Antor, Andreas Hinz (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen, Hamburg: Curio Verlag 1988; S. 471-488

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Stand: 23.05.2005

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