Das Sorgenkind im ersten Lebensjahr.

Frühgeboren, entwicklungsverzögert, behindert - oder einfach anders? - Ein Ratgeber für Eltern

Autor:in - Monika Aly
Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Copyright: © 1999

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Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Monika Aly

Titel: Das Sorgenkind im ersten Lebensjahr. Frühgeboren, entwicklungsverzögert, behindert - oder einfach anders? - Ein Ratgeber für Eltern.

Infos: Springer-Verlag Berlin-Heidelberg 1999. 50 Abb., 1 Tab., XV, 182 Seiten. DM 29.90, öS 219.00, sFr 27. Themenbereich: Therapie

Kurzbeschriebung:

Buchbesprechung von Hans von Lüpke

"Niemand kann Eltern die Verantwortung für ihr Sorgenkind abnehmen, man kann ihnen aber helfen, nötige Entscheidungen einigermaßen sicher zu treffen."

Mit diesen Worten beschreibt Monika Aly ihr Anliegen auf dem Hintergrund intensiver Auseinandersetzung mit dem Entwicklungskonzept von Emmi Pikler, den Rehabilitationsvorstellungen von Milani Comparetti und Gidoni sowie ihrer eigenen langjährigen Erfahrung, als Krankengymnastin Eltern in einem besonders schwierigen Lebensabschnitt Orientierungen zu geben. Das erste Lebensjahr ist bei vielen Kindern eine Grauzone mit befürchteten Auswirkungen von Schwangerschaft und Geburt ("Risikokind"), vorübergehenden Auffälligkeiten und Frühzeichen einer Behinderung. Die fortschreitende Verfeinerung von diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten bringt nicht nur Chancen, sondern auch das Risiko zusätzlicher Verunsicherungen. Was wurde diagnostisch versäumt? Hätte eine Hilfe früher einsetzen müssen? Gibt es eine andere Methode, die - rechtzeitig angewendet - vielleicht zu anderen Ergebnissen geführt hätte? Viele Verheißungen führen in die Irre, nähren Illusionen, die zu neuen Enttäuschungen Anlaß geben, belasten die Beziehung zum Kind, zum Partner. Schon das Konzept vom "Risikokind", ursprünglich gedacht, um sich bei einem unauffälligen Kind mit belasteter Vorgeschichte durch zusätzliche Diagnostik abzusichern, kann dazu führen, daß die Behinderung ständig erwartet wird und schon dadurch sich Störungen entwickeln. Gerade im ersten Lebensjahr ist auch von den kompetentesten Fachleuten nicht immer mit Sicherheit zu entscheiden, ob eine Auffälligkeit als ein "Durchgangssyndrom" nur vorübergehender Natur ist oder ob sie das erste Zeichen einer sich entwickelnden Behinderung darstellt.

Bereits das erste Kapitel mit seiner Darstellung der "regelrechten Entwicklung" beschreibt die Grundlagen der späteren diagnostischen und therapeutischen Strategien. "Das Kind sollte vom ersten Lebenstag an als Person ernstgenommen werden". Voraussetzung für Entwicklung ist einmal die Wahrnehmung und Entfaltung von Eigeninitiative und zum anderen die Sicherheit einer schützenden und bestätigenden Umwelt. Verläßlichkeit und Selbstvertrauen, die Erfahrung von Kontinuität durch den Rhythmus des Alltäglichen, die Möglichkeit sowohl im Aufbau der Bewegungskompetenzen wie auch beim Spielen und Lernen Eigenaktivität zu entwickeln. Dahinter steht das Vertrauen in den "individuellen Zeitrhythmus" des Säuglings. Nichts kann Entwicklung mehr stören als sie künstlich zu forcieren, sei es dadurch, daß das Kind in Positionen gebracht wird, die es noch nicht selbst erreichen kann oder daß es mit Spielangeboten überschüttet wird, die nicht seiner eigenen Orientierungsmöglichkeit und Aktivität entsprechen. Im Gegensatz zu den in manchen Tabellen angegebenen Daten entscheidet nicht das Tempo - sogenannte "Meilensteine" - über die Qualität von Entwicklung, sondern die Frage, ob Entwicklung Ausdruck eigener Initiative ist. Wichtiger als die Endresultate ist das "Wie" einer Bewegung, etwa die Fähigkeit, sicher von einer Position in die andere zu kommen, die sogenannten "Übergangspositionen" zu beherrschen: "In den gängigen Entwicklungstabellen kommt das Drehen auf den Bauch, das Sitzen, das Stehen und das Gehen vor; nicht aber das Drehen auf die Seite, die seitliche Ellenbogenstütze oder der abgestützte Seitsitz und auch nicht das Klettern".

Im zweiten Abschnitt geht Monika Aly auf die beeinträchtigte Entwicklung ein. Sie beginnt mit den Problemen der zu frühen Geburt, nicht nur im Hinblick auf die besondere Verletzlichkeit des Kindes, sondern auch unter dem Aspekt von Enttäuschung und Schuldgefühlen bei den Eltern. übergriffige forcierende "Frühtherapie" kann solche Schuldgefühle entlasten, dem Kind jedoch mehr schaden als nützen. Hier sollte der Therapeut versuchen "jede Überforderung des Kindes und überhöhte Erwartungen der Eltern zu vermeiden, indem er die im Moment vorhandene Aktivität und Persönlichkeit des Säuglings aufmerksam und präzise beobachtet und deren Qualität zum Thema macht". "Die Initiative und das Interesse am Kontakt müssen vom Säugling ausgehen."

Ein weiteres Kapitel befaßt sich mit der "verzögerten Entwicklung". Diese relativ häufige Diagnose führt nicht selten zu Therapien, ohne daß die Grundlagen dafür genauer analysiert werden. Sie setzen mit Selbverständlichkeit voraus, daß das Zeitmaß ein Kriterium für Entwicklungsqualität ist. Sie berücksichtigen nicht, daß gerade die verzögerte Entwicklung eine schützende Strategie sein kann, um Überforderungen, insbesondere der Orientierungsfähigkeit zu verhindern. "Eine langsame Entwicklung kann und darf man nicht beschleunigen." Konsequenzen für die Bereiche Motorik und Wahrnehmung werden diskutiert sowie Anregungen für den Alltag im Umgang mit besonders ruhigen, besonders unruhigen oder schmerzunempfindlichen Kindern beschrieben.

Im Gegensatz zu den vorübergehenden und unter günstigen Bedingungen voll ausgleichbaren Entwicklungsbeeinträchtigungen geht es bei der "gestörten Entwicklung" um Situationen, in denen ein voller Ausgleich nicht erwartet werden kann. Im einzelnen werden hier die bleibende Retardierung, das Down-Syndrom, die Spina bifida und die Zerebralparese besprochen. Gerade diese Kinder sind in besonderer Weise gefährdet, durch die Hoffnung auf Normalisierung einem Übermaß an Eingriffen ausgesetzt zu sein, das keinen Raum mehr für Eigeninitiative und Orientierung läßt. Gerade bei Kindern mit geistiger Retardierung betont Monika Aly die Bedeutung des Faktors Zeit und die Gefahr, durch therapeutischen Druck Entwicklungschancen zu vermindern: "Wird ein so empfindliches Kind gleichzeitig angesprochen, angefaßt und gedreht, verschließt es sich um des Selbstschutzes willen, versteift sich "äußerlich und innerlich oder beginnt zu weinen". Vor allem bei Kindern mit Zerebralparese besteht nicht selten die Illusion, durch möglichst frühe intensive Therapie den Schaden noch auszugleichen und eine "normale" Entwicklung zu erreichen. Dem gegenüber betont Monika Aly, daß nach den vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen keine Behandlungsmethode zu einer solchen Normalisierung führt, und daß es vielmehr darauf ankommt, die besondere Empfindlichkeit der Kindern zu berücksichtigen, Erfahrungen mit ihrer Eigeninitiative zu fördern und dadurch die Entwicklung von Wahrnehmungsstörungen nach Möglichkeit zu verhindern. Mit dieser ganzheitlichen Betrachtung der Zerebralparese wird insbesondere Bezug auf das Konzept des Kinderneurologen Ferrari genommen. Das Schwergewicht der Rehabilitation liegt auf der Seite der Förderung der gesunden Anteile, der Möglichkeiten zur Kompensation der als solche nicht behebbaren Beeinträchtigung.

In den abschließenden Kapiteln geht Monika Aly nochmals grundsätzlich auf Diagnostik und Therapie ein. Im Mittelpunkt der Diagnostik steht für sie die Beobachtung und das Ernstnehmen dessen, was den mit dem Kind am besten vertrauten Personen, den Eltern, auffällt. Im folgenden werden die einzelnen Therapiemethoden besprochen (Bobath, Vojta, Doman, Kozijawkin, Pet"). Trotz aller Kritik, die sich aus dem Grundkonzept ergibt, ist hier ein deutliches Bemühen um sachliche Darstellung zu erkennen. Abschließend wird gezeigt, daß auch dann, wenn der Anspruch auf vollständige Korrektur aufgegeben wird, für die Therapeuten noch ein beträchtlicher Handlungsspielraum bleibt. Dieser Handlungsspielraum bezieht sich jedoch eher indirekt auf das Kind. Es gilt das Motto, "daß entwicklungsgestörten Kindern dasselbe gut tut, was für das Gedeihen aller Kinder nützlich ist". Wieder wird betont, daß Entwicklung Eigenmotivation voraussetzt und auch Therapie nur auf dieser Grundlage hilfreich sein kann. "Diese Art der Therapie, die auf manuelle Intervention verzichtet, respektiert die Autonomie des Kindes in hohem Maß und trägt der Tatsache Rechnung, daß die Bewegung eines jeden Menschen immer von Zielen, Wünschen und Vorstellungen geleitet wird".

Monika Aly wendet sich in erster Linie an Eltern. Das Buch bringt eindrucksvolle Fotos, Leseempfehlungen und einen Überblick über Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Organisationen. Durch die kompetente Darstellung komplizierter diagnostischer und therapeutischer Konzepte sowie die vielfältigen weiterführenden Literaturangaben bietet es auch für Professionelle in Ausbildung und Praxis vielfache Anregungen.

Hans von Lüpke

Quelle:

Rezensiert von Hans von Lüpke

Entnommen aus: Behinderte 3/99

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 28.02.2006

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