Neues Selbstverständnis der Physiotherapie bei Kindern mit Bewegungsstörungen wie zum Beispiel Kinder mit MMC

Autor:in - Monika Aly
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Als Sonderveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages, entnommen aus: T. Michael, A. von Moers, A.E. Strehl (Hrsg.): Spina bifida - Interdiszipkinäre Diagnostik, Therapie und Beratung.
Copyright: © Walter de Gruyter, Berlin - New York 1998.

Einleitung

Die krankengymnastische Behandlung von Kindern mit einer Behinderung hat sich in den letzten 2O Jahren zunehmend spezialisiert. Die Spezialisierung folgte nicht in erster Linie dem Ziel den Kindern mit ihren jeweiligen Behinderungen ein besseres Leben zu ermöglichen, vielmehr ging es dabei um eine genauere Sichtweise von Problemen, von Pathologien und ihrer Zuordnung zu immer enger gefaßten und damit vermehrten Krankheitsbildern. Methoden wie Bobath oder Vojta helfen den Therapeuten, sich sicherer zu fühlen im Umgang mit Behinderung - gleich welcher Art. Es besteht die Hoffnung Behinderungen mehr beherrschen zu können, sie in den Griff zu bekommen - sie zu verändern, zu reduzieren oder gar zum Verschwinden bringen zu können.

Sicherer fühlt sich vielleicht auch der Arzt, wenn er nach der Diagnose einer Bewegungsstörung den Eltern ein therapeutisches Angebot nach Vojta oder Bobath empfehlen kann. Was im Einzelnen dort passiert, welche genaueren Ziele damit erreicht werden könnten, ob die Therapieform für das jeweilige Krankheitsbild besonders indiziert ist, weiß er meist nicht genau und wird er im Allgemeinen auch nicht gefragt. Vielleicht weiß der Arzt, daß Vojta unsanft ist und daß das Kind unter Umständen schreit. Er wird die Eltern damit beruhigen, daß sich Kinder in der Regel daran gewöhnen würden - da eben durch müßten. Von der Bobath-Methode weiß er vielleicht, daß der Säugling auf einen großen Ball gelegt wird und dort turnt.

Beide Methoden sind allgemein bekannt und werden als die einzigen Frühtherapiemethoden angepriesen. Allerdings gibt es bisher keine wissenschaftliche vergleichende Studie, die die Entwicklung von Kindern mit Bewegungsstörungen zum Gegenstand hat, die nicht nach diesen Methoden behandelt wurden, sich aber dennoch weiter entwickelt haben. Vielleicht wäre eine solche Untersuchung Markt schädigend Schließlich ist das Ansehen der Therapeuten, die diese Methoden beherrschen, in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen und damit auch die Hoffnung der Eltern behinderter Kinder.

Meine Sichtweise als Krankengymnastin ist eng mit meiner persönlichen beruflichen Entwicklung verbunden. Als ehrgeizige Bobaththerapeutin hatte ich in den Anfangsjahren in der Arbeit mit kleinen behinderten Kindern den Glauben an das "Machbare" oder "Beherrschbare". Mit Hilfe entsprechend gelernter Griffe und Übungen, etwa dem Einüben der Kopfkontrolle, des Gleichgewichts auf dem Ball - der Rotation, glaubte ich Behinderungen reduzieren oder vielleicht gar heilen zu können. Mit der Einsicht, daß nach Therapiepausen z.B. während der Ferien, Kinder sich auch weiterentwickelten, begann ich an "meinen" Ergebnissen zu zweifeln und begab mich auf die Suche nach anderen "Methoden". Mein damaliger Lehrer, der leider verstorbene fiorentiner Neuropäsiater Adriano Milani-Comparetti, brüskierte mich mit der Aussage "die beste Krankengymnastin sei die, "die alle Techniken in der Tasche hat - ihre Hände am besten auch". Milani meinte, daß sie ihre Hände nur dann gebrauchen solle, wenn sie ein Problem des Kindes nicht verstehe, um es möglicherweise "mit den Händen zu erfühlen". Ich war schockiert. Denn ich wußte nicht, was ich statt dessen während der Be-Handlung hätte tun sollen - das Berufsbild des Krankengymnasten, besonders auch in der Arbeit mit Kindern, besteht nun einmal im Hand-Anlegen. Die Frage, was mache ich, wenn ich das Kind nicht direkt anfassen, auf das sehr wörtlich gemeinte therapeutische Eingreifen verzichten soll, ist verwirrend, sie berührt das traditionelle Rollenverständnis des Berufes von Krankengymnasten. Was also kann ich tun, ohne etwas zu tun?

Von Emmi Pikler, einer Kinderärztin aus Budapest - sie ist 1984 gestorben - lernte ich die Kriterien und die Fähigkeit zur Beobachtung der selbständigen motorischen Entwicklung von Kleinkindern. Das Wissen um diese pädagogischen Grundbedingungen gaben mir ein zunehmend größeres Vertrauen und auch eine wesentlich genauere Kenntnis des frühkindlichen Entwicklungsprozesses.

Diese Überlegungen gelten generell, sie lassen sich aber auch für die krankengymnastische Begleitung von Kindern mit Spina bifida. Das Konzept über die Habilitation von Kindern mit MMC lernte ich während meiner Tätigkeit in Italien kennen. Adriano Ferrari, ein Schüler Milani-Comparettis, hatte dort ein Behandlungskonzept für Kinder mit MMC entwickelt, mit dem wir seit fast zehn Jahren hier in Berlin Erfahrungen machen. Auch dieses Konzept bewirkte zunächst Verunsicherung, doch hat es mir sehr geholfen eine zukunftorientiertere Sichtweise für die Rehabilitation zu erlangen. Wie Sie in den nachfolgenden Vorträgen meiner Kolleginnen hören werden, ist die Verunsicherung nur vorübergehend. Denn das Konzept gibt auch Raum für vielseitigere Professionalität. Theo Michael wird das Ferrari`sche Konzept genauer beschreiben.

Bisherige Rolle der Krankengymnasten?

Die Arbeit mit Spina bifida Kindern - wie wir es in unserer Ausbildung gelernt haben, war unmittelbar auf das Kind gezielt und auf das vorhandene, sichtbare Defizit ausgerichtet. Da war vor allem der Blick auf die muskulären Ausfälle, die Lähmungen gerichtet. Wir lernten einen Muskelstatus durchzuführen. Die Behandlung bestand vor allem darin die Muskulatur zu kräftigen, die paretische/gelähmte Muskulatur zu stimulieren, mit dem Ziel, möglichst viel aus dem Kind - aus seiner Muskulatur - "herauszuholen".

Bei der Vojta-Therapie schien dies genau zu geschehen: Es (Zitat) "soll das Fixieren von pathologischen Bewegungen verhindert und physiologische Reaktionen hervorgerufen werden". Ein weiteres Ziel sei die Innervationsschulung der gelähmten Gliedmaßen, ebenso Verbesserung der Gelenksbeweglichkeit und darüberhinaus Gleichgewichtsschulung. Ziele, wie sie früher und heute für alle bewegungsgestörten Kinder formuliert werden, unabhängig vom jeweiligen Krankheitsbild: Eine Förderung auf der Grundlage einer neurophysiologischen Methode. Wir lesen weiter in dem Heft des ASbH über die Krankengymnastik: "Die Vojta- und die Bobath-Therapie möchten dem Kind die Vorraussetzungen geben, sich so gut und so normal wie möglich zu bewegen". Diese Behandlungstechniken würden deshalb angewendet werden, weil, (Zitat) "sie ja auch den ganz Körper betreffen können" und "daß auch eine hydrocephalusbedingte zentrale Bewegungsstörung vorhanden sein könnte, und diese Arme und Hände betreffen würde". Das heißt, je umfassender, um so eher kann man den bestehenden Probleme, zum Beispiel der Querschnittslähmung, und den möglichen vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Problemen unterstützend entgegenwirken."Mehr" könnte also nicht schaden. Das Ziel zum Beispiel bei der Vojta-Therapie ist die einerseits gelähmte Muskulatur zu aktivieren (Innervationsschulung), andererseits die sogenannte gute Muskulatur - besonders die des Rumpfes - noch mehr zu kräftigen. Bei dieser Art der Kräftigung kann es - je nach Läsionsniveau - zu einer Verstärkung des muskulären Ungleichgewichts zwischen gelähmter und gesunder Muskulatur kommen, was den Vertikalisierungsprozess entscheidend einschränkt. Vermutlich kann die Folge von großer Muskelanspannung und dabei die-Luft-anhalten zu Blockierungen im Hals/Kopfbereich führen, was vorstellbar wäre, aber noch spekulativ ist.

Bei der Bobaththerapie geht es neben der ebenso gewünschten Aktivierung der Muskulatur um die Förderung einzelner Entwicklungsschritte, oft auch um deren Beschleunigung.

Ob sanft oder mit dem Schreien des Kindes verbunden, gemeinsam ist beiden Methoden, der Eingriff in den körperlichen Entwicklungsprozess .

Die Entwicklung über die Therapiestunden hinaus, waren mehr dem Selbstlauf überlassen. Schließlich sollte das Spina-bifida Kind möglichst auch selbständig werden, auch wenn die Vertikalisationsversuche sehr mühsam waren.

Zu Hause oder auch im Kindergarten hat das Kind sich mit den gegebenen Bewegungsmöglichkeiten abzugeben, meist ist es allerdings gesessen, da es den geringsten Einsatz erfordert. Die Zunahme an Deformitäten, besonders der Füße und des Beckens hat man oft der zu frühen Vertikalisation zugeordnet. Wenn dann die Deformitäten an den Gelenken nicht mehr zu übersehen waren, die Kinder sich nicht durch eigene Kraft korrigieren konnten, begann man - oft erst dann - an Orthopädie-Technik zu denken. Für uns Krankengymnasten war dies oft der letzte Schritt, verbunden mit dem Gefühl "es nicht geschafft zu haben". Oft hatte ich das Gefühl den Problemen nur hinterherrennen zu können, nur waren wir nicht immer schnell genug um die Zunahme an Deformitäten aufhalten zu können. Wir sahen die Orthopädietechnik als Notlösung, als die Grenze unserer physiotherapeutischen Möglichkeiten an. Das Ziel in der Krankengymnastik war weiter auf das "jetzt" gerichtet, auf das zu reagieren, was sich im Moment als Problem entwickelte.

Und die Ärzte?

Die therapeutische Arbeit mit dem Kind, war zwar auf Anordnung des Arztes, dennoch war und ist der Krankengymnast mit allen Problemen auf sich selbst gestellt. Zwar kann man dem Orthopäden Deformitäten und Verkürzungen zeigen, die Behandlung der Behinderung blieb und bleibt meistens allein in den Händen der Krankengymnasten. Was auch heißt, daß sie große Verantwortung tragen.

Und die Eltern?

Verantwortung tragen die Therapeuten auch für die Hoffnung der Eltern, daß sich unter den Händen der krankengymnastischen Übungsbehandlung etwas tut. Die Hoffnung, ob die Anfangs als gelähmt diagnostizierte Muskulatur, nicht doch vielleicht noch gekräftigt werden kann, ist verständlicherweise sehr groß.

Es ist für Eltern schwer ihr Kind zu sehen wie es ist - mit seiner Behinderung. Ganz besonders dann, wenn nach intensiven neurophysiologische Übungsbehandlungen am Ende Schienenapparate und Rollstuhl stehen - für sie mit Sicherheit nicht eingeplant.

Und das Kind?

Zu viel Frühfördermaßnahmen können die Eigeninitiative seiner Entwicklung stören und eine realistische Einschätzung seiner Kompetenz erschweren. Es hatte vielleicht über ein Jahr lang 2 mal wöchentliche krankengymnastische Übungsbehandlung, Spannungsübungen - vielleicht sehr anstrengend, vielleicht auch schmerzhaft. Die Eltern haben ihm gesagt,"nur so wirst Du es zum Laufen schaffen"... Und am Ende werden die Schienen immer höher und das Gehen immer mühsamer. Die Therapiestunden werden seltener, denn es wird immer deutlicher, daß die Ergebnisse der anfänglichen Zielsetzungen sich vielleicht nicht bewahrheiten, unerreichbar bleiben. Die Motivation von Kind und Therapeut nimmt ab, beide werden Therapiemüde. Die Eltern, die vielleicht gute Cotherapeuten für ihre Kinder geworden sind, bleiben vielleicht mit einem Gefühl zurück, nicht genug mit ihren Kindern geübt zu haben - nicht häufig genug, wie es die Vojta-Therapie vorschreibt.

Zusammenfassend bestand unsere Rolle als Krankengymnasten in der:

- Muskelfunktionsprüfung

- Arbeit an der Muskulatur des Kindes (Spannung/Innervation)

- Förderung seiner Entwicklung

- Anleitung der Eltern (Übungen und/oder Handling))

Kritikpunkte:

  • Störung des Entwicklungsrhythmus des Kindes durch vorzeitiges förderndes Eingreifen

  • Krankengymnastisches Üben von Entwicklungsabläufen, die von selbst kommen werden

  • Schwerpunkt auf bleibender paretischer Muskulatur

  • Verstärkung des muskulären Ungleichgewichts durch Spannungsübungen

  • Zu lange belastende Behandlung - zu späte Versorgung mit Hilfsmitteln

  • Übung auf Therapieraum begrenzt - kein Konzept für Umweltanpassung.

Daß Kinder, die über längere Zeit Therapie bekommen haben therapiemüde werden, ist bekannt. Es wird sich nun jeder hier fragen, was an unserem Konzept anders ist, wie das gerade Beschriebene. Anders, und daß kann man sehen, sind vielleicht die Schienen, aber was unterscheidet die Krankengymnastik?

Ich werde versuchen dies in groben Zügen zu beschreiben. Konkret und nachvollziehbar wird es dann durch die Ausführungen meiner Kolleginnen.

Therapeutischen Grundfragen bei Kindern mit MMC

Bei kaum einer anderen frühkindlichen Schädigungsart läßt sich unsere krankengymnastische Therapie so planen: Das Ausmaß der Schädigung ist weitgehend und frühzeitig sichtbar. Die Entwicklung von möglichen Sekundärproblemen meist vorhersehbar.

Das Hauptproblem, für die Bewegungsentwicklung und die spätere Vertikalisation des Kindes, ist das durch die Schädigung gestörte muskuläre Gleichgewicht zwischen Streck- und Beugemuskulatur. Dieses Ungleichgewicht kann das Kind weder aus eigener Kraft noch mit bewegungstherapeutischer Unterstützung ausreichend kompensieren. Aus diesem Grunde ist die rechtzeitige und korrekte Versorgung mit Orthesen als Vorbereitung für die Vertikalisation fast immer erforderlich. In unserer krankengymnastischen Therapie geht es nicht darum, die neurologische Läsion zu behandeln, sondern zu versuchen primäre Schädigungen wie z.B. Hüftbeugekontraktur oder Klumpfußstellung zu mildern und sekundären Schädigungen durch Dehnungen, Lagerung und Schienen vorzubeugen. Ich nenne dies pflegerische Therapie. Im Vordergrund steht für uns die Frage: Was kann das Kind mit den ihm verblieben motorischen Möglichkeiten aus eigener Kraft erreichen, und welche Hilfen braucht es zu welcher Zeit. Diese Überlegungen unterliegen nicht der Spekulation, sie sind durch den Schädigungsgrad weitgehend festgelegt und können durch Krankengymnastik nicht erweitert werden.

Über die spezifischen Grundfragen hinaus, habe ich mir die Frage gestellt: Welche Unterstützung, welche Hilfen braucht das Kind, um sich selbständig entwickeln zu können - so wie es für mich bei Kindern, die eine Bewegungsstörungen haben, selbstverständlich geworden ist.

Eine gewohnte Übungsbehandlung auf neurophysiologischer Grundlage, zum Beispiel nach Bobath, erschien mir als ein zu großer Eingriff, da diese Kinder zwar Paresen haben, nicht aber in ihrer gesamten Bewegungsentwicklung gestört sind. Die Beobachtung, daß Säuglinge trotz kompletter oder auch teilweiser Querschnittslähmung auch mit Schienen beginnen sich selbständig zu drehen, zeigte mir, daß die Entwicklung ähnlich wie bei jedem Kind abläuft, nur etwas langsamer, manchmal mit Umwegen.

Zusammenfassung der therapeutischen Grundfragen

  • Frühzeitige Planung

  • Keine Therapie der neurologischen Läsion

  • Pflegerische Therapie (Dehnung/Lagerung)

  • Kompensation des Muskelungleichgewichts durch Orthesen

  • Hilfen zur Unterstützung selbständiger Entwicklungsschritte

Planung in einem multidisziplinären Team - Krankengymnastische Betreuung

Ich war, wie viele meiner Kollegen gewohnt auf Anordnung des Arztes zu arbeiten, aber alleine. Nicht aber als ein gleichberechtigtes Mitglied in einem Team - dies habe ich erst in Italien kennengelernt.

Ein Kind, was sowohl bewegungsfunktionelle, wie orthopädische, technische und auch medizinische, vielleicht auch psychische Probleme hat, braucht von Anfang an eine interdisziplinäre Betreuung, unter der Vorraussetzung einer gemeinsamen, gut strukturierenden Behandlungsplanung.

Die Therapie bei einem Kind mit MMC besteht zum einen aus einer krankengymnastischen Behandlung, zum anderen aus der Versorgung mit geeigneten Hilfsmitteln. Meistens auch aus einer chirurgisch-orthopädischer Intervention. Das heißt, daß von Anfang an Arzt, Krankengymnast, Techniker und Orthopäde ein Team zusammen sind.

Zunächst sind wir an der Untersuchung, gemeinsam mit dem Arzt, beteiligt. Das heißt, daß das Kind bereits in den ersten Lebenswochen gemeinsam untersucht wird, um das mögliche Schädigungsniveau festzustellen. Dies kann sich zu dieser frühen Zeit noch verändern. Mit der Prognose ist gemeint, daß über die bereits gestellte Diagnose hinaus, eine Vorstellung besteht, über das, was das Kind mit seinem Schädigungsniveau überhaupt erreichen kann: Wie es zum Beispiel Sitzen wird, wie es Stehen wird, und auch welche Möglichkeiten es zur Fortbewegung haben wird. Und das liegt weitgehend fest. Es muß in der Anfangszeit öfter überprüft werden, da das Schädigungsausmaß sich leicht reduzieren kann. Diese Prognose, die gemeinsam mit dem Arzt von Zeit zu Zeit überprüft werden muß, ist die Basis unserer krankengymnastische Zielvorstellungen, die auf diese Weise Schritt für Schritt geplant werden können.

Planen heißt, eine Vorstellung zu haben in welcher Zeit und mit welchen Möglichkeiten ein Kind zum Beispiel vertikalisieren wird. Wann und welches Hilfsmittel dazu bereitgestellt werden muß, damit das Kind seine Entwicklungsschritte machen kann. Planen heißt auch, ob und wann eine chirurgische Intervention nötig ist, damit eine postoperative Behandlung eingeplant werden kann. Das heißt, daß sich Therapeut und Eltern längerfristig darauf einstellen können.

Planen hilft dem Therapeut kurzfristige und langfristigere Ziele - wie zum Beispiel ein Ende der Therapie - festlegen zu können.

Planen hilft den Eltern und dem Kind, sich zum Beispiel auf Krankenhauszeiten einstellen zu können.

Wie sehen die krankengymnastischen Behandlungsstunden aus?

Ein Teil besteht in einer regelmäßigen Beobachtung des Kindes in seiner motorisch, sensorischen und kognitiven Entwicklung. Dafür ist das Wissen um die normale Entwicklung und deren Bedingungen eine wichtige Vorraussetzung. Fragen wie der Rhythmus des Kindes, das Verhalten des Kindes bei der Pflege, bei der Nahrungsaufnahme, welches Interesse es hat, welche Spielgegenstände bevorzugt werden, stehen dabei im Vordergrund. Diese Fragen sind zu jeder Zeit wichtig, da sie auch die Eltern anregen ihr Kind zu beobachten, seine Kompetenzen sehen können. Dabei wird dem Kind im Therapieraum eine vorbereitete Umgebung gestaltet, um das Kind zu Bewegungsaktivitäten anzuregen, seine Kompetenz auszuprobieren. Das heißt, daß der Therapeut dem Kind einen besonders geeigneten Rahmen anbietet, innerhalb dem das Kind motiviert und gefordert ist sich weiter zu entwickeln - mit seiner Behinderung. Die Bewegungsaktionen selbst macht das Kind selbständig, der Therapeut begleitet und gibt Sicherheit. Gestaltung des Rahmens, die Grundlage der Therapiestunde, gehört zur Kompetenz des Therapeuten und beinhaltet das Wissen um den nächst möglichen Entwicklungsschritt.

Zu den allgemeinen, eben genannten Aufgaben des Therapeuten, kommen daneben auch die speziellen:

Zur Beobachtung gehört eine regelmäßige Überprüfung des muskulären Gleichgewichts, Beobachtung und gegebenenfalls Behandlung von primären oder sekundären Deformitäten durch Dehnbehandlungen. Beobachtung von einschleichenden Kompensationshaltungen- und Bewegungen. Überprüfen von Orthesen, Bereitstellen von Hilfsmitteln (Stehtisch, Rollator, Stöcke,Rollstuhl).

Die Aufgabe des Krankengymnasten ist zum einen die Sorge um die Muskulatur und Gelenke, zum anderen aber eine Rahmen-gebende Begleitung innerhalb dem das Kind selbständig übt und sich weiter entwickelt. Der Krankengymnast hat hier nicht mehr den gewohnten aktiven Part. Er bringt das Kind dazu aktiv und selbständig zu werden - durch sein genau abgestimmtes Angebot. Der Krankengymnast ist der sog. Pfleger der Entwicklungsschritte, der Vorbereiter für den nächst kommenden. Er paßt auf, daß sich das Kind nicht überfordert und nicht überfordert wird, daß es auf keinen Fall vorzeitig aufgesetzt wird und Zeit hat, seine Entwicklungsstufen nach seinen Möglichkeiten selbständig zu erreichen - so wie auch ein anderes Kind.

Anzahl und Inhalt der Therapiestunden richten sich alleine nach den individuellen Erfordernissen des Kindes. Zielvorstellungen sollten konkret und in einem überschaubaren Rahmen zu erreichen sein. Die tatsächliche Übungszeit hat das Kind zu Hause oder im Kindergarten.

Zusammenfassung der krankengymnastischen Behandlungstunden:

Allgemein:

  • Beobachtung der Entwicklung

  • Unterstützung der Entwicklungsinitiative durch vorbereitete Umgebung

  • Wissen um den nächsten Entwicklungsschritt ist Kompetenz des Therapeuten

  • Verhinderung von motorischer und psychischer Überforderung

  • Umweltanpassung gemäß der Entwicklungsschritte

  • Begleitung und Unterstützung der Eltern

Speziell:

  • Beobachtung und regelmäßige Überprüfung des muskulären Gleichgewichts / Gelenkbeweglichkeit.

  • Beobachtung, gegebenenfalls Behandlung von primären und sekundären Deformitäten.(Dehnbehandlungen).

  • Indikation und Überprüfen von Orthesen

  • Angebot von Hilfsmittel: Stehtisch,Rollator,Stöcke,Rollstuhl oder Svivle-Walker entsprechend dem jeweilige Entwicklungsstand.

Schluß

Das Kind wird nicht behandelt, weil es behindert ist, sondern weil es vielleicht mehr Bewegungsmotivation braucht, vielleicht eine Dehnung, vielleicht eine Übung mit einem Hilfsmittel, vielleicht brauchen auch die Eltern eine Unterstützung. Das heißt, daß die Behandlung eines Kindes vielleicht nur aus einer Beobachtung bestehen kann, vielleicht aus einer Begleitung in regelmäßigen Abständen, vielleicht aber auch in einer wöchentlichen Behandlung.

Möglicherweise braucht es auch eine Weile gar nichts. Die Form unserer jeweiligen Tätigkeiten richten sich zum einen nach dem Entwicklungsverlauf des Kindes, zum anderen, und dies zu einem sehr wichtigen Teil, nach dem individuellen gemeinsamen Behandlungskonzept des Rehabilitationsteams. Die Krankengymnastin hat in diesem Team eine sehr wichtige Schlüsselrolle:

Zum einen hat sie das Wissen und eine Verantwortlichkeit für die Entwicklung des Kindes, zum anderen hat sie oft den kontinuierlichsten Kontakt zu den Eltern. Ihr Kontakt zum Kind, dem Abwarten und Gewährenlassen seiner eigenen, vielleicht sehr langsamen Entwicklungsschritte helfen den Eltern, ihr Kind annehmen zu können - so wie es ist.

Vielleicht könnte das zukünftige Selbstverständnis der Krankengymnasten und Physiotherapeuten nicht allein aus dem "tun" bestehen, sondern aus ihrem "sein": Als Kontakt- und Begleitperson für das Kind und seiner Familie und als Spezialistin für Bewegungs- und Entwicklungsfragen in einem multidisziplinären Team.

Dieser Artikel ist Teil eines Buches:

Th. Michael, A.v.Moers u.a.: Spina bifida.

De Gruyter GmbH. & Co; Fachbereich Medizin; Berlin-New York vorraussichtliche Erscheinung 1998

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Quelle:

Monika Aly: Neues Selbstverständnis der Physiotherapie bei Kindern mit Bewegungsstörungen wie zum Beispiel Kinder mit MMC

Entnommen aus: T. Michael, A. von Moers, A.E. Strehl (Hrsg.): Spina bifida - Interdiszipkinäre Diagnostik, Therapie und Beratung. Berlin - New York 1998.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 13.01.2006

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