Gedanken zur Bewegungsentwicklung und zur Krankengymnastik beim Kind mit Down-Syndrom im ersten Lebensjahr

Autor:in - Monika Aly
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Artikel
Copyright: © Monika Aly 1997

Einleitung

Im ersten Lebensjahr ist die Bewegungsentwicklung von Säuglingen das sichtbarste Merkmal von Entwicklung. Die Erwartung der Umwelt richtet sich auf das Sitzen und Gehen des Säuglings. Diese ist im ersten Lebensjahr die schwierigste Aufgabe.

Der Säugling lernt nicht nur die Aufrichtung, er lernt auch die Aufrechterhaltung seines dynamischen Gleichgewichts und seine innere Sicherheit unter immer schwierigeren Bedingungen zu beherrschen: Die Stützfläche wird immer kleiner und der Schwerpunkt entfernt sich immer weiter vom Boden. Der Säugling lernt Bewegungsübergänge, um von einer Position in die nächste zu kommen. Er lernt dabei sein Gleichgewicht immer feiner auf die Bewegungsübergänge abzustimmen und so seine Umgebung zu erforschen und Erfahrungen zu machen. Er lernt sich Ziele zu setzen, probiert aus und stellt neue Fragen. Er lernt dabei nicht nur, sich zu bewegen, sondern er lernt - wie es Emmi Pikler formuliert hat - vor allem auch das Lernen.

Bei einem Säugling mit einem Down Syndrom besteht die große Sorge, daß die Bewegungsentwicklung aufgrund der meist hypotonen Muskulatur langsamer oder vielleicht auch abweichend verlaufen könnte. Eltern und Therapeuten glauben zumeist, daß diese Verzögerung sich nachteilig auf die kognitive Entwicklung auswirken könnte. Ein sitzendes Kind könne mehr von der Umwelt wahrnehmen, intensiver spielen und somit auch leichter lernen als ein am Boden liegendes Kind. Aus diesem Grund werden gerade Kinder mit Down Syndrom häufig schon frühzeitig aufgesetzt.

Eine Vielzahl von Säuglingen mit Down Syndrom bekommen im ersten Lebensjahr eine krankengymnastische Behandlung. Ziel ist es, die hypotone Muskulatur zu aktivieren und die Bewegungsentwicklung zu fördern, manchmal sogar zu beschleunigen, um den motorischen Entwicklungsrückstand möglichst gering zu halten. Die Eltern bekommen vom Therapeuten gezeigt, wie sie ihr Baby tragen und handhaben können - und vielleicht noch ein paar Übungen dazu. Sie sind im allgemeinen im ersten Lebensjahr mit diesem Angebot zufrieden und freuen sich über die Fortschritte ihres Kindes.

Geht es aber bei der Entwicklung eines behinderten Kindes nicht um mehr als um das Erreichen von Bewegungsresultaten? Ein Säugling, der eine geistige Behinderung hat, lernt im allgemeinen langsamer; er braucht viel Zeit und viele Wiederholungen, um Eindrücke zu verarbeiten. Das Erlernen von Bewegungen ist ein Lernprozess. Auch wenn die Bewegungsabläufe bis zum Gehen genetisch vorprogrammiert sind, gibt es doch große Unterschiede in der Bewegungsqualität und im zeitlichen Ablauf.

Für den Therapeuten sind hier die wichtigsten Fragen: Wie kann ein kleiner Säugling lernen, die Initiative zu ergreifen, wie kann er Vertrauen und Sicherheit in seine Fähigkeiten gewinnen, und wie kann seine Eigenaktivität gestärkt werden? Wie wenig Unterstützung ist nötig, damit das Kind seine Kompetenz vermehren kann? Und was bedeutet es für den Säugling, wenn er sich das erste Mal auf die Seite dreht, die Sicherheit der Rückenlage - der größeren und sicheren Auflagefläche - verläßt und sich auf der Seite im Rumpf ausbalancieren muß. Wir fragen uns, wie häufig er diese Positionsveränderung ausprobieren wird und mit welchen Variationen. Irgendwann wird er seinen Kopf abheben und auf dem Bauch landen. Er lernt sein Ruhe- und Aktivitätsbedürfnis wahrzunehmen, seine Muskelspannung zu regulieren, und er beginnt sich mit seinem Gleichgewicht auseinanderzusetzen, während er Übergangspositionen übt wie die Seitlage, den abgestützten Seitsitz und andere wichtige Bewegungsübergänge. Der Säugling aktiviert seine Muskulatur und übt sie dabei ständig.

Ein Kind mit Down Syndrom, das vorzeitig aufgesetzt wird, kann sich vielleicht selbständig im Sitzen halten, aber von dieser Position nicht in eine andere gelangen. Es kann sich auch nicht ausruhen, wenn es nicht mehr sitzen möchte. Es ist abhängig vom Erwachsenen, der es "retten" muß. Mehr noch: das kleine Kind spürt frühzeitig eine Erwartung, die es selbst noch nicht erfüllen kann. Es erlebt Hilflosigkeit. Ein Säugling mit hypotoner Muskulatur benötigt die breite Basis des Bodens viel längere Zeit zur Sicherung seines Gleichgewichts und seiner Stabilität. Das heißt auch, daß er viel längere Zeit in Rückenlage am Boden verbringt, bevor er selbständig in der Lage ist, sich in eine unsicherere Position zu begeben - zunächst die der Seitlage.

Krankengymnastische Ziele

Im ersten Lebensjahr besteht die krankengymnastische Betreuung im Kennenlernen des Säuglings, seiner Beobachtung und Begleitung sowie der Unterstützung der Eltern. Allgemeines Ziel ist es, Überforderungen zu verhindern und Fähigkeiten des Kindes aufzudecken; Zusammenhänge zwischen persönlicher Entwicklung sowie Bewegungs- und Spielentwicklung sind zu erkennen und zu unterstützen.

In der Krankengymnastik wird die Initiative und Eigenaktivität des kleinen Kindes unterstützt. Im Mittelpunkt steht das Lernen von Übergangsbewegungen und -positionen. Der Säugling lernt für seine kognitive und auch muskuläre Entwicklung vor allem durch dynamische Bewegungsabläufe und weniger durch statische Positionen. Gerade weil ein geistig behindertes Kind kognitiv eher weniger Fähigkeiten hat, Variationen einer Aufgabe zu entdecken, kann es diese besonders gut durch die Bewegungsentwicklung lernen. Vorraussetzung ist jedoch eine Umgebung, die selbständiges Ausprobieren ermöglicht. Das Anbahnen von Positionen und Übergängen oder das Korrigieren von Haltungen stört in dieser frühen Zeit das Kind bei seinen Selbstentdeckungen und stört daher auch sein Lernen; es fördert Unselbständigkeit und Abhängigkeit. Dies ist bei motorisch sich sehr langsam entwickelnden Kindern nicht leicht und setzt einerseits ein hohes Maß an Zurückhaltung voraus, andererseits aber eine gute Beobachtungsfähigkeit und ein genaues Wissen über die Bewegungsentwicklung.

Ziel der therapeutischen Sitzungen ist es, dem Kind den Raum für Bewegungserfahrung zu ermöglichen. Dies ist für lange Zeit der Boden, auf dem es sich drehen und rollen kann und wo das Kind seiner Entwicklung entsprechende Spielgegenstände angeboten bekommt. Als nächster Schritt kommen kleine Hindernisse und geringfügige Höhen in Form von Ebenen oder großflächigen Klötzen dazu. Hier lernt das Kind, sein Gleichgewicht zu verlagern, um so einen Gegenstand von einer Höhe zu nehmen oder auch eine Höhe durch Robben zu überwinden, und zwar bevor es krabbeln oder gar sitzen kann. Er lernt durch die höheren Ebenen Übergänge und Übergangspositionen in unterschiedlichen Höhen. Der Säugling ist im allgemeinen wenig am Sitzen interessiert, da dies häufig eine Sackgasse ist, da es für das kleine Kind zunächst sehr mühevoll ist, aus der Sitzhaltung in eine andere Position zu kommen. Die Bewegungserfahrung mit immer schwierigeren Hindernissen und Höhen fordert vom Kind, seinen Körper gut zu beherrschen; es spürt - weil es dann nicht weiter kommt - wenn seine Beine in Abduktion fallen. Es lernt Gefahren abzuschätzen und seine Fähigkeiten einzuschätzen. Dabei lernt es vor allem, selbstverantwortlich für sich zu werden. Die Eltern lernen bei der Beobachtung die Fähigkeiten ihres Kindes kennen und können dies möglicherweise in ihr häusliches Umfeld übertragen.

Das Kennenlernen der eigenen Initiative beginnt für das Kind bereits in den ersten Lebensmonaten. Die Aufgabe der Krankengymnastin ist es zu erkennen, wie sie die Umgebung des Kindes gestalten muß. In den ersten Monaten gibt es noch nicht so viel zu tun, da geht es um die Rückenlage und besonders um Gegenstände, die neben das Kind gelegt werden. Vor allem gilt es zu beobachten, zu kommunizieren und abzuwarten. Diese Tätigkeit ist viel schwieriger und intensiver als die "Verabreichung" eines Übungsprogrammes.

Schluß

Ein kleines Kind mit Down Syndrom ist meistens in seiner Bewegungsentwicklung viel langsamer als ein gleichaltriges Kind. Eine Beschleunigung seiner Entwicklungsschritte durch Vorwegnahme von nicht selbständig erreichten Bewegungspositionen vermindert schließlich seine Eigenaktivität. Sie verhindert auch das selbständige Ausprobieren und das Lernen. Erreichte Bewegungsschritte messen sich nicht an der Zeit, sondern an der Qualität der Bewegung und seiner Sicherheit.

Ein behindertes Kind, das initiativ und sicher in seinen Bewegungsabläufen ist, kann sich mit aller Aufmerksamkeit seinem Spiel hingeben. Wir wissen alle, daß ein Kind mit Down Syndrom das Gehen lernen wird. Wir wissen auch wie wichtig die Selbständigkeit und Selbstsicherheit für die Persönlichkeitsentwicklung eines behinderten Menschen ist. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten - "ich versuche es - ich schaffe es - ich lerne lernen" beginnt bereits im Säuglingsalter. Unterstützen wir das Kind und vor allem auch seine Eltern: das Kind, seiner eigenen Entwicklungskompetenz zu vertrauen, und die Eltern, ihr Kind auf diesem Weg zu stärken.

Monika Aly, März 1997

Quelle:

Monika Aly: Gedanken zur Bewegungsentwicklung und zur Krankengymnastik beim Kind mit Down-Syndrom im ersten Lebensjahr

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.03.2005

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