Aggressionen im Vorschulalter

Eine kritische Betrachtung der kindlichen Verhaltensauffälligkeit

Autor:in - Katharina Allgeuer
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung des Magistertitels der Philosophie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, eingereicht bei a.o.Univ.-Prof.Dr. Volker Schönwiese, Institut für Erziehungswissenschaften, März 1998
Copyright: © Katharina Allgeuer, März 1998

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Der reißende Fluß wird gewalttätig genannt, aber das Flußbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.

(Bert Brecht)

Was du zusammendrücken willst,

das mußt du erst richtig sich ausdehnen lassen.

Was du schwächen willst,

das mußt du erst richtig stark werden lassen.

Was du vernichten willst,

das mußt du erst richtig aufblühen lassen.

Wem du nehmen willst,

dem mußt du erst richtig geben.

(Laotse)

Bildbeschreibung: Auf dem Bild wird dargestellt wie ein Kind ein anderes schlägt

Wann kann Pädagogik dazu beitragen, der zunehmenden Aggressions- und Gewaltbereitschaft unserer Kinder hilfreich zu begegnen? Eltern, Erzieher und Pädagogen sind immer ratloser im Umgang mit aggressiven, verhaltensauffälligen Kindern.

Ich versuche mit dieser Arbeit durch ein neues Verständnis kindlicher Verhaltensweisen Denkanstöße zu bieten, wie kindliche Aggressionen verstanden werden können und wie damit umgegangen werden kann.

Daher kann nicht auf Aggressionsdefinitionen, Begriffserklärungen und herkömmliche Theorien der Aggressionsentstehung verzichtet werden.

Hauptaugenmerk werde ich dem Paradigmenwechsel innerhalb der psychotherapeutischen Theorien schenken. Dieser langwierige Prozeß entwickelt sich vom linearen oder monokausalen Modell hin zu einem vielschichtigen, zirkulären, systemischen Verständnis.

Dadurch nehme ich schlußendlich Abschied von den herkömmlichen Theorien und betrachte die kindliche Aggression in ihrem gesamten Umfeld, welches sich nicht nur aus der Familie, sondern auch der Nachbarschaft, dem Kindergarten, der Schule, eben dem gesamten Bekanntschaftskreis des jeweiligen Kindes und insbesondere auch der Ökologie, in der es heranwächst, zusammensetzt.

Ein Kind kann also nur in einer Umgebung, die ihm freie Entfaltung ermöglicht, in der es ernstgenommen wird und vor allem mit seinem "Eigen- Sinn" Akzeptanz erfahren kann, lernen, seine natürliche Bereitschaft zur Aggression sinnvoll umzusetzen. Dies wird ihm in einer Gesellschaft, die kindgerecht ist und denkt, ermöglicht. Dadurch wird vom Pädagogen ein Prozeß des Umdenkens und Umlernens erwartet, dessen Ziel es ist zu akzeptieren, daß das störende Kind sich "gesund" verhält vor dem Hintergrund einer krankmachenden Welt. Die Verhaltensauffälligkeit des Kindes ist daher als Signal zu verstehen, daß das Kind in seiner gestörten Lebenswelt ernstgenommen werden muß.

Deshalb muß ein vielschichtiges Umdenken der Bevölkerung im Umgang mit ihren Kindern erfolgen, und die Gesellschaft muß kindgerechter werden, sie muß auf die Fragen und Probleme der Kinder besser eingehen. Die Rechte des Kindes werden in dem Grundgesetz der UNO- Konvention festgehalten. Nicht nur der Erwachsene, sondern auch das Kind hat demnach ein Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das Recht darauf, daß auch seine Belange berücksichtigt werden.

Um diesem Grundgesetz Geltung zu verleihen, ist eine neue Einstellung zum Kind notwendig. Erziehung muß sich am Wohl des Kindes orientieren, und um diese Anforderung realisieren zu können, muß die Erziehung auf entwürdigende Maßnahmen verzichten. Dem Kind müssen mehr Möglichkeiten geboten werden, in eigenen Lebensbereichen zur verantwortungsvollen Beteiligung und Gestaltung zu gelangen.

Da die Einbindung des kleinen Kindes in die Erwachsenenwelt nur sehr dürftig gewährleistet ist, können aggressive Akte von Kindern auch als "Schrei nach Wärme" bezeichnet werden, da das Kind mit den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen ohne Unterstützung der Erwachsenen völlig überfordert ist. Dadurch wird begründet, daß die zunehmende Gewalt von Kindern an der Kälte, beziehungsweise der fehlenden Wärme liegt. Diese Kälte setzt sich aus folgenden sozio- kulturellen und psychosozialen Bedingungen zusammen:

  • Veränderte Kindheit

  • Zusammenbruch der Familie

  • Unkontrollierter Medienkonsum

  • Eltern- Kind- Verhältnis

  • Wirtschaftliche Bedingungen

  • Fehlende Emotionalität

  • Orientierungslosigkeit durch Werteverlust

Im weiteren möchte ich in meine Arbeit Fallbeispiele einfließen lassen. Diese sollen unterstreichen, daß eine gesunde Entfaltung der Kinder eine Erziehung fordert, die den Selbst- Wert des Kindes stützt und vor allem eine Hilfe bietet, im Durcheinander unserer Gesellschaft zurechtzukommen.

Es erscheint mir wichtig, da ich mich mit dieser Arbeit an all jene Personen richte, die in direktem Umgang mit Vorschulkindern stehen (Eltern, Kindergärtnerinnen und sonstige Erzieher und Therapeuten), einige Überlegungen zur Gewaltprävention und Friedenserziehung zu nennen, die ihnen in direkten Problemsituationen helfen sollen, adäquat auf die ihnen anvertrauten Kinder reagieren zu können.

Das Phänomen Aggression als Form kindlicher Verhaltensauffälligkeit

Aggressivität

Aggressivität wird als langzeitig überdauernde Bereitschaft und Einstellung zu aggressivem Handeln betrachtet, während es sich bei Aggression um die Handlung selbst handelt. Das Verhältnis zwischen Aggressivität und Aggression ist daher wie das der Gewaltbereitschaft zur Gewalt zu verstehen. Aggressivität ist demnach eine, zur Gewohnheit gewordene aggressive Haltung, die die Grundstimmung des Menschen darstellt (Fühlen, Denken, Handeln einer Person). Sie führt zu aggressiven Handlungen in Kombination mit besonderen Situationen. Dieser Begriff wird daher hauptsächlich beim Diagnostizieren bestimmter Verhaltensstörungen eingesetzt.[1]

Aggression

Aggression ist ein Verhalten, dessen Ziel es ist, anderen Individuen eine Verletzung oder Beschädigung zuzufügen. Sie wird als Verhalten bezeichnet, das darauf ausgerichtet ist, einen Organismus oder ein Organismussurrogat zu schädigen. Aggression kann auch gegen die eigene Person gerichtet sein. Es wird dann von Autoaggression gesprochen.[2]

Die Aggression umfaßt allerdings nicht nur negative Eigenschaften wie Streitsüchtigkeit, Gewalttätigkeit, Dominanz, Ungezogenheit etc., sondern auch positive wie Selbstsicherheit, Tatkräftigkeit, Direktheit, Ehrlichkeit und Willensstärke. Diese positive Form der Aggression wird von Franz Petermann als "angemessene Selbstbehauptung" bezeichnet. Diese Bezeichnung ist allerdings nicht ausreichend. Diese positiven Verhaltensweisen sind für die Entwicklung des Kindes zu einer eigenständigen Persönlichkeit von großer Bedeutung. Sie sollten daher einen viel höheren Stellenwert als den einer "angemessenen Selbstbehauptung" erhalten. Diese gesunde Form der Aggression sollte daher nicht nur toleriert, sondern gefördert werden.

Da aggressives Verhalten immer im sozialen Kontext auftritt, wird von Verhaltensauffälligkeit oder -störung gesprochen. Um ein bestimmtes kindliches Verhalten als Verhaltensstörung bezeichnen zu können, muß das negative Verhalten vielseitiger, entschieden häufiger, ausgeprägter und ausschließlicher als bei anderen Kindern auftreten und vom Mediziner ausdrücklich diagnostiziert werden. Da kindliches Verhalten von dem jeweiligen Entwicklungsstand abhängt und Entwicklung individuell verläuft, muß mit der Diagnose "Verhaltensstörung" sehr vorsichtig umgegangen werden. Wenn ein Kind eine vorübergehende Entwicklungskrise durchlebt, sollte ihm erspart bleiben, den lebenslangen Stempel einer Verhaltensstörung tragen zu müssen.

Dennoch müssen bestimmte Klassifikationsschemen Aufschluß über die Symptome der kindlichen Aggression gewährleisten. Sie stellen Hilfsquellen für besorgte Eltern oder Erzieher dar, zwingen die Betroffenen, ihr Problem ernstzunehmen und zu intervenieren.

Abschließend möchte ich beifügen, daß kindliches Verhalten niemals ausreichend in einem Klassifikationsschema erörtert werden kann, da es vielseitige Ausprägungen kindlichen Verhaltens gibt. Alle Kinder sind verschieden, daher wird ein vielseitigerer Umgang mit kindlichen Aggressionen notwendig. Dennoch glaube ich, daß es unmöglich ist, auf die Klassifikationen kindlichen Störverhaltens zu verzichten, da sie oft erst auf ein bestimmtes Problem aufmerksam machen.

Formen von Aggressionen

Die verschiedenen Aggressionsformen werden oft in Kategorien oder nach Symptomen aufgelistet. Ich möchte mich darauf beschränken, die wichtigsten Formen, die mir für die Auseinandersetzung mit der kindlichen Aggression als wesentlich erscheinen, kurz anzuführen und verständlich zu erklären.

Aggressionen können sich in verschiedenen Formen ausdrücken. So können sie beispielsweise nach außen, gegen irgendwelche Personen, aber auch abgespaltet und letztendlich gegen die eigene Person gerichtet werden. Beide Möglichkeiten zeigen Probleme des Kindes auf und müssen ernstgenommen werden. Von intrafamiliären Aggressionen sind nur Familienangehörige betroffen, während Kinder mit extrafamiliären Aggressionen Gleichaltrigen (peer- groups) oder anderen Personen ihres Umfeldes aggressiv begegnen. Aggressivität kann sowohl direkt (gegen andere Personen gerichtet) als auch indirekt ausgelebt werden, indem sie gegen Gegenstände gerichtet ist. Sie kann offen gezeigt, daher für Betroffene gleich erkennbar sein, aber auch verdeckt ausgeführt werden. Kinder können ihre Aggressionen sowohl verbal ausdrücken als auch rein körperlich ausagieren.[3]

Zu diesen Aggressionsvorgaben kommen noch vielerlei verschiedene Möglichkeiten hinzu, da Aggressionen immer verbunden mit Gefühlszuständen auftreten und Emotionen bekanntlich nicht nach irgendwelchen Schemata oder Kategorien verallgemeinert werden können. Jede Form kindlicher Aggression soll daher als Signal eines hilflosen Kindes betrachtet werden, das in seiner Unsicherheit diesen bestimmten Weg einschlägt, um Erwachsenen mitzuteilen, daß es Schutz und Unterstützung in einer Lebenskrise erwartet.

Klassifikationen

Ebenso diffus wie die Formen der Aggression scheinen die verschiedenen Klassifikationsversuche der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten, insbesondere der Aggression. So werden in den meisten Ansätzen kindliche Aggressionen den einzelnen Bereichen, beispielsweise dem sozialen, psychischen, somatischen und dem Lern- bzw. Leistungsbereich zugeordnet. Eine solche Zergliederung des Menschen in seine Teilbereiche ist, wegen seiner integrierten Ganzheit, allerdings unzulänglich, und daher für ein Verständnis kindlicher Auffälligkeit unbrauchbar. [4]

Das von Feinbier (1981) angestrebte Ziel einer Systematisierung der Phänomene und einer verbesserten Kommunikation für eine interdisziplinäre Betrachtungsweise kindlicher Verhaltensauffälligkeiten, wie auch das Formulieren einer Prognose durch die Zuordnung eines Phänomens zu einer spezifischen Kategorie ist aber wegen der subjektiv- normativen Relationalität der Verhaltensauffälligkeiten nicht möglich. [5]

Die noch heute vorherrschenden Klassifikationsversuche sind meistens statistische Vorgangsweisen, die zwar die subjektiven Beobachtungen und Bewertungen eines kindlichen Verhaltens widerspiegeln , die aber kaum zu einer differenzierten Betrachtung der kindlichen Verhaltensauffälligkeit beitragen. Daher kann wohl kaum von einem allgemein gültigen und akzeptablen Klassifikationsschema für kindliche Aggressionen die Rede sein.

Aufgrund der bestehenden Diffusität der verschiedenen Ansätze, die der Erklärung und Behandlung aggressiver Verhaltensweisen von Kindern dienen soll, entstand eine Vielfalt verwirrender und unzureichender Umgangsformen mit kindlichen Verhaltensauffälligkeiten. Aus dieser Problematik geht deutlich hervor, daß es unzulänglich ist, kindliche Verhaltensweisen einer bestimmten Kategorie zuzuordnen, und daraus Prognosen zu erstellen sowie Möglichkeiten der Veränderung zu entwickeln.

Um mit kindlichen Verhaltensweisen wirklich sinnvoll umgehen zu können und sie verstehen zu lernen, ist die Feststellung nötig, daß sozial auffälliges Verhalten ein Phänomen ist, das sich erst im Kontext seines psychosozialen Funktionsnetzes erschließt. Diese Betrachtungsweise setzt die Überwindung eines defekt- beziehungsweise störungsorientierten Klassifikationsversuchs voraus. Für ein wirklich sinnvolles und brauchbares Klassifikationsmodell ist die Orientierung an den Bedürfnissen des Kindes und seines gesamten Bezugssystems eine bedeutungsvolle Voraussetzung, welche zu einer Perspektive führt, die das Kind mit seiner Verhaltensproblematik im Kontext seiner Familie, seines Kindergartens oder seiner Schule und seiner Gemeinde betrachtet und sich bemüht, die besonderen Bedürfnisse des jeweiligen Systems wahrzunehmen.

Häufigkeiten

Es wird immer wieder der Versuch unternommen, mittels Untersuchungen Angaben über Häufigkeiten der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten zu machen. Meistens handelt es sich dabei um subjektive Einschätzungen (sogenannte Erfahrungswerte), die Experten mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Methoden ermitteln. Die folgende Auflistung einiger Untersuchungen zeigt die vielen verschiedenen Ansätze, die zu recht unterschiedlichen Ergebnisse führen, auf: [6]

  • THALMANN (1971) befragte die Eltern von 150 Reutlinger Jungen im Alter von 7 bis 10 Jahren. 20% der Kinder wurden dabei als deutlich und 30% als mäßig verhaltensgestört eingestuft.

  • STEUBER (1973) befragte die Klassenlehrer von Grundschülern. Von insgesamt 621 Schülern wurden dabei 157 (25,3%) als auffällig bezeichnet.

  • WELDINGs (1977) Untersuchung bei Göttinger Kindergartenkindern hatte zum Ergebnis, daß bei 13% der Kinder Verhaltensauffälligkeiten vorlagen.

  • MYSCHKER (1980) befragte 71 Lehrer an 6 Hamburger Sonderschulen über Verhaltensstörungen ihrer Schüler. Dabei wurden 46% als verhaltensgestört bezeichnet.

  • CASTELL (1980) führte eine Felduntersuchung und Ärztebefragung bezüglich psychiatrischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlicher durch. Der Felduntersuchung zu Folge wurden bei 5% der 3 - 14 jährigen Kinder und Jugendlichen psychische Störungen festgestellt. Die Häufigkeit psychiatrischer Diagnosen erhöhte sich auf 18 bis 21%, wenn Verhaltensauffälligkeiten wie Ticks, Schlafstörungen, Einnässen und Einkoten mitberücksichtigt wurden.

Es muß festgehalten werden, daß solche Untersuchungen wenig Aussagekraft haben, da auffällige Verhaltensweisen keine objektiv definierbaren Kriterien, sondern vielmehr Beobachterkriterien sind, die nur in dem je spezifischen normativen Bezugsrahmen Gültigkeit besitzen. Da es allerdings keine objektiven, validen und reliablen Kriterien für die Bestimmungen eines Verhaltens gibt, bleiben die Schätzungen über Häufigkeiten kindlicher Verhaltensauffälligkeiten subjektive Annahmen.

"Häufig sind die Kategorien nicht eindeutig definiert, völlig heterogene Beobachtungen werden manchmal zu einer Kategorie zusammengefaßt, über die Operationalisierung des Begriffes "verhaltensgestörter Schüler" herrscht wenig Übereinstimmung und nur selten enthalten die Arbeiten irgendwelche Angaben über Reliabilität und Validität ihrer Ergebnisse." (Havers 1981) [7]

Aufgrund der Relativität des Bereiches der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten, ist es daher sinnlos, irgendwelche Zahlen über die Häufigkeit zu nennen.



[1] Petermann/Petermann; Training mit aggressiven Kindern; 1978; S.1

[2] Berkowitz L.; Aggression; 1980; S.27

[3] F. und U. Petermann; Training mit aggressiven Kindern; 1978; S.1

[4] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.13

[5] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.13

[6] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S 14

[7] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.16

Modelle der Aggressionsentstehung- Aggressionstheorien

Psychodynamische Ansätze

Triebtheorie nach S. Freud

Den Ausgang jeglicher systematischen Aggressionsforschung bildeten S. Freud (Psychoanalyse) und A. Adler (Individualpsychologie) schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Seit ihrer gemeinsamen Beschäftigung mit dem Phänomen Aggression in Wien, in den Jahren 1902-1911 steht die menschliche Aggression ununterbrochen im wissenschaftlichen Diskurs. Für die triebdynamischen Theorien der Aggressionsentstehung ist das Konzept Freuds von zentraler Bedeutung. [8]

Ursprünglich wurde von Freud der Versuch unternommen, die menschliche Aggressivität auf einen biologisch verankerten Trieb zurückzuführen. S. Freud, der dieses trieb- und instinktorientierte Model mehrmals modifizierte, entwickelte 1920 sein dualistisches Modell, bei dem sich zwei Urtriebe gegenüberstehen.[9]

  • Destrudo (Todestrieb)

  • Eros (Lebenstrieb)

Nach Freud entsteht menschliches Verhalten durch das Zusammenspiel dieser beiden Triebstrebungen. Das Ziel des Todestriebes besteht darin, das Lebendige zum Tode zu führen. Normalerweise erreicht der "Thanatos" sein Ziel nicht so einfach, da sein Gegenspieler "Eros" ihn unschädlich macht, indem er ihn gegen Objekte in der Lebenswelt richtet. Unsere Aggressionen gegen die Außenwelt sind aber in der Regel nicht so stark, wofür kulturelle Zwänge verantwortlich sind, die die Instanz "Über- Ich", unser inneres Gewissen überwacht. Dadurch wird ein Ausleben der Aggressionsneigungen verhindert, was zu ihrer Sublimierung führt. Aggressionen werden demnach nach innen, gegen sich selbst gerichtet. [10]

Im "Thanatos" liegt eine ständig treibende Kraft, welche Spannung erzeugt, und die wieder abgebaut werden muß. Die einzige Möglichkeit, diese Energie zu kanalisieren, besteht daher im Versuch, die aggressiven Strebungen in moralisch annehmbare Formen zu verwandeln und sie so auf kulturell akzeptable Weise abzuleiten. Als Hilfsmittel für den Umgang mit Aggressionen nennt Freud Abwehrmechanismen wie Sublimierung, Projektion, Verschiebung oder Hemmung.

In Form des Dampfkesselprinzips werden aggressive Impulse natürlicherweise permanent innerlich erzeugt, stauen sich auf und drängen nach Entladung. Dies könne auch über Ersatzhandlungen ablaufen.

Triebtheorie nach A. Adler

Alfred Adler betrachtet Aggression als einen Trieb oder Instinkt zum Kämpfen, der auf einer allgemein biologischen Grundlage alle Bereiche motorischen Verhaltens beherrscht. Im Gegensatz zu Freud, der den Aggressionsinstinkt der "Libido", dem Lustprinzip zuschreibt, bedeutet er für Adler eine zentrale Rolle innerhalb der individuell- dynamischen Prozesse. Wird dieser Aggressionstrieb durch Einflüsse der Umwelt unterdrückt, entsteht beim Individuum Angst. Beim durchschnittlichen Menschen zeigt sich, laut Adler, dieser Aggressionsinstinkt meistens in veränderter Form, beispielsweise als Sport, aber auch, nach kultureller Transformation, als Hilfsbereitschaft oder Altruismus.[11]

In späteren Theorien Adlers kommt der Aggression nur mehr eine untergeordnete Stellung zu. Sie wird nicht mehr als rein biologischer Instinkt betrachtet. Adler versteht nun vielmehr darunter eine teilweise bewußte teilweise unbewußte Tendenz zur Bewältigung alltäglicher Schwierigkeiten und Konflikte. Dadurch erhält Aggression in Adlers Theorie rein reaktiven und instrumentellen Charakter.[12]

Ethologisches Instinktkonzept nach K. Lorenz

In Konrad Lorenz' Trieblehre, die er 1963 veröffentlichte, gibt es 4 bedeutende Triebe, darunter den Aggressionstrieb, der mehrere biologische Funktionen erfüllt. Nach Lorenz gilt weder tierische noch menschliche Aggression reaktiv. Aggressionen werden nicht zu jedem Zeitpunkt geäußert, sondern sie haben arterhaltende Funktion und sollen, in Form von Flucht oder Angriff, in erster Linie das Überleben sichern. Auch spricht Lorenz davon, daß sich die Aggressionsenergie ständig neu nachbildet, und nach Abfuhr drängt, die von auslösenden Reizen stark abhängt. Sollten solche Reize zu lange ausbleiben, kann es zu sogenannten "Leerlaufhandlungen" kommen; die Aggressionen laufen auch ohne spezifischen äußeren Reiz ab.[13]

Lorenz, der viel mit Tierversuchen experimentierte, führt einen folgenschweren Analogieschluß durch, indem er sein an Tieren (hauptsächlich Graugänsen) beobachtetes Verhalten einfach linear auf den Menschen überträgt. Beim Menschen soll sich der Aggressionstrieb besonders verhängnisvoll auswirken, da ihm die neuzeitliche Zivilisation kaum sinnvolle Entladungsmöglichkeiten biete. In der Folge entstünden beim Menschen Störungen in der physischen wie auch psychischen Gesundheit. Lorenz schlägt zur Regulierung des Aggressionstriebes vor, die Energie auf Ersatzhandlungen umzuleiten.[14]

Frustrations- Aggressionstheorie nach Dollard

Im Gegensatz zu den Triebtheorien versuchten Dollard und seine Mitarbeiter die im psychoanalytischen Konzept enthaltenen dynamischen Eigenschaften ohne die verschwommene und unnötige Annahme eines Aggressionstriebes zu erhalten. Die von Dollard entwickelte Theorie besagt in ihrer strengsten Form: [15]

  • Frustration führt in jedem Fall zu irgendeiner Form von Aggression.

  • Das Auftreten von Aggression setzt in jedem Fall eine vorhergegangene Frustration voraus.

Als Frustration gilt in diesem Konzept die Störung einer bestehenden zielgerichteten Aktivität, und Aggression wird als Verhaltenssequenz verstanden, die auf eine Verletzung einer Person oder eines Organismussurrogats (Ersatzobjekt) abzielt. [16]

In einer späteren Weiterentwicklung wurde auf eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen offener Aggression und dem Anreiz zur Aggression (instigation to aggression) besonderes Augenmerk gelegt. Daher heißt es hier: Frustration schafft Anreize zu irgendeiner Form von Aggression.[17]

Es kommt daher nach diesem erweiterten Konzept nur dann zur Aggression, wenn der durch Frustration erlangte Reiz zur Aggression in der Hierarchie der unterschiedlichen Reize an oberster Stelle steht. Stehen andere Reize dieser Hierarchie an oberster Stelle, so wird Aggression zumindest zeitweilig verhindert und durch andere Verhaltensweisen ersetzt. Daraus geht hervor, daß je mehr nicht- aggressive Reaktionen durch lang andauernde rustrationen gelöscht werden, es wahrscheinlicher wird, daß die Möglichkeit einer aggressiven Verhaltensweise immer stärker ist.[18]

Abschließend muß festgehalten werden, daß Dollard bei seinem Aggressionskonzept von einer reinen Reiz- Reaktions- Wirkung ausgeht, was meiner Meinung nach völlig unzulänglich für das Bestimmen einer Verhaltensweise wie der Aggression ist. Unkritisch werden zwei Begriffe wie Frustration und Aggression miteinander verknüpft, und es wird von einer gegenseitigen Bedingtheit ausgegangen. In Wirklichkeit sind diese beiden Variablen so vieldeutig, daß sie wohl kaum dieser eindimensionalen operationalen Definition zuzuordnen sind.

Dollard und seine Mitarbeiter (Doob, Miller, Mowrer und Sears) nahmen auch keinerlei Bezug auf einen inneren, emotionalen Zustand des Individuums. Frustration wurde lediglich als äußerer Terminus eines Reizes, nämlich der Behinderung von Zielreaktionen betrachtet, was hinsichtlich der Mehrdeutigkeit und Unfaßbarkeit menschlichen Verhaltens äußerst unzulänglich ist.

Lerntheoretischer Ansatz

Als prominenteste Autoren dieses Aggressionsansatzes gelten Albert Bandura und Mitarbeiter. Banduras Team setzte sich zunächst kritisch mit der seit vielen Jahren dominierenden Annahme der nötigen Verknüpfung von Frustration und Aggression auseinander. Sie waren auf der Suche nach anderen Bedingungen für aggressives Verhalten.

Nach einer lernpsychologischen Sichtweise werden Aggressionen, wie jedes andere Verhalten auch, gelernt. Es gibt demnach keine Triebe und auch keine spezifischen Auslöser, die Aggressionen hervorrufen, sondern es handelt sich laut Bandura um Lernprozesse. Dafür können dieselben Lernprinzipien herangezogen werden, die auch für das Erlernen anderer sozialer Verhaltensweisen gelten.[19]

Abbildung 2: Modellernen

Für das Erlernen von Aggressionen spielen deshalb sowohl Verstärker als auch drei wesentliche Lernkonzepte eine große Rolle.

Verstärker:

  • Positive Verstärkung: Mit Aggression wird ein Ziel, z.B. Anerkennung erreicht.

  • Negative Verstärkung: Ein bedrohliches Verhalten wird durch aggressives Verhalten erfolgreich verringert beziehungsweise beseitigt.

  • Selbstverstärkung: Wenn aggressives Verhalten von Kindern geduldet wird, wirkt die "stillschweigende Zustimmung " verstärkend.

Lernkonzepte:

  • Klassische Konditionierung nach Pawlow. Auf einen natürlichen Reiz erfolgt eine bestimmte Verhaltenssequenz. Dieser natürliche Reiz wird nun an einen künstlichen Reiz gekoppelt, was dieselbe Verhaltensweise zur Folge hat. Nach längerer Zeit der Aneinanderkoppelung beider Reize genügt auch der künstliche Reiz, um die gewünschte Verhaltensweise zu erlangen. Wir lernen also durch klassische Konditionierungen gefühlsmäßige Reaktionen auf neutrale Reize zu übertragen. Es können Einstellungen sowohl erlernt als auch wieder verlernt werden. Es wird jedoch kein komplexes Verhalten erlernt.

  • Operantes Lernen kann auch als Lernen durch Versuch und Irrtum bezeichnet werden. Folgt dabei auf eine Verhaltensweise eine positive Konsequenz, so wird dieses Verhalten auch in Zukunft in derselben oder einer ähnlichen Situation eingesetzt. Erfolgt aber eine negative Reaktion, so wird sie aus dem Verhaltensrepertoire gestrichen. Nach diesem Verständnis besteht das Lernen einer bestimmten Verhaltensweise aus einer Verknüpfung eines bestimmten Verhaltens mit dessen Folgen. Aufgrund von Erfahrungen wird gelernt, aus mehreren Verhaltensmöglichkeiten die geeignetste auszuwählen, die sicheren Erfolg verspricht.

  • Modellernen. Klassisches Konditionieren und operantes Lernen genügen aber nicht, komplexe Verhaltensweisen zu erwerben. Deshalb gewann später das Lernen am Modell große Bedeutung für die Psychologie und Erziehungswissenschaft. Aber auch dieses Modell hat keine große Bedeutung für den Erwerb komplexer Verhaltensweisen wie Aggressionen. Es können zwar Verhaltensweisen wie das Erlernen des Radfahrens mit Unterstützung des Modellernens bezwungen werden, für das sehr komplexe Aggressionsverhalten spielt diese Methode jedoch nur eine untergeordnete Rolle.

Systemische Theorie

Die oben angeführten Aggressionstheorien gehören zum Bereich der psychologischen Ansätze. Es handelt sich hierbei um monistische, eindimensionale Erklärungsversuche, die teilweise veraltet und daher für das sehr komplexe kindliche Verhalten bedeutungslos sind. Daher wende ich mich im folgenden Teil meiner Arbeit von diesem linearen Verständnis kindlicher Verhaltensauffälligkeit ab, und setze mich mit dem bedeutenden Wandel vom monokausalen zum zirkulären Paradigma genauer auseinander. In dieser Entwicklung werden den sozialen Bezügen des Kindes Bedeutung geschenkt, es werden systemische Aspekte miteinbezogen, die aggressives Verhalten nicht biologisch oder genetisch erklären, sondern auch familiäre, gesellschaftliche und gesamtökologische Einflußfaktoren berücksichtigen.

Da bei der Betrachtung von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten die Abkehr von einer defizitorientierten Sichtweise von größter Bedeutung ist, wird nach systemischer Sichtweise den komplexen und vielseitigen Wechselwirkungen innerhalb der Beziehungen des gesamten Bezugssystems die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Statt sich an Störungen zu orientieren, die es zu beseitigen gilt, werden hier die Ressourcen eines Systems gesucht und aktiviert. Nach systemischer Betrachtung ist es nicht mehr sinnvoll, das Problem im Indexpatienten allein zu suchen, das Augenmerk muß auf alle beteiligten Subsysteme gerichtet werden.



[8] H. Selg; Menschliche Aggressivität; 1974; S.25

[9] H. Selg; Menschliche Aggressivität; 1974; S.25

[10] H. Selg; Menschliche Aggressivität; 1974; S.25/26

[11] A. Schmidt-Mummendey; Bedingungen aggressiven Verhaltens; 1972; S.14

[12] A. Schmidt-Mummendey; Bedingungen aggressiven Verhaltens; 1972; S.14

[13] H. Selg; Menschliche Aggressivität; 1974; S.26

[14] H. Selg; Menschliche Aggressivität; 1974; S.27

[15] A. Schmidt-Mummendey; Bedingungen aggressiven Verhaltens; 1972; S.23

[16] A. Schmidt-Mummendey; Bedingungen aggressiven Verhaltens; 1972; S.23

[17] A. Schmidt-Mummendey; Bedingungen aggressiven Verhaltens; 1972; S.23

[18] A. Schmidt-Mummendey; Bedingungen aggressiven Verhaltens; 1972; S.24

[19] H. Selg; Menschliche Aggressivität; 1974; S.30

Disziplinenübergreifender Paradigmenwechsel vom reduktionistischen zum zirkulären Modell

Die kopernikanische Revolution in der Psychotherapie

Entwicklungsprozeß im wissenschaftlichen Denken

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begann in der Epistemiologie ein entscheidender Wandel, der zu erheblichen Unterschieden zu früheren Annahmen führte. Dieser revolutionäre Wandel, der sich in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen schon weitgehend durchgesetzt hat, wird erst allmählich auch in den Sozialwissenschaften verwirklicht. Ich beziehe mich im folgenden auf Josef Duss von Werdt und Rosemarie Welter- Enderlin, insbesondere auf ihr Werk "Der Familienmensch", in dem das systemische Denken dargestellt wird.

Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stehen sich zwei verschiedene, eigentlich einander entgegengesetzte Modelle wissenschaftlicher Theorie und Pragmatik gegenüber. Es handelt sich dabei um das reduktionistische Paradigma auf der einen und um das systemische auf der anderen Seite. Letzteres ist ein holistisches, mehrdimensionales, auch ökologisches oder organismisches Prinzip. Das zweite und herkömmliche basale Denkmodell ist monokausal und eindimensional, welches nach einem Alles- oder- Nichts Prinzip die Ätiologie beobachtbaren Verhaltens auf einen einzigen Faktor verkürzt.

Was sind nun die entscheidenden Strukturelemente dieser beiden Perspektiven, speziell im Bezug auf menschliches Verhalten? Das reduktionistische Modell ist eindimensional, reduziert beobachtbare Phänomene auf einen einzigen Faktor, eine Ursache. Daher wird auffälliges Verhalten als Folge eines organisch- biochemischen Vorgangs verstanden.

Nach systemischem Verständnis ist ein solcher Reduktionismus unzulänglich und wird daher verworfen. Verhalten wird als bedingt durch ein komplexes, transaktionelles Feld verstanden. Nach diesem Verständnis wird pathologisches Verhalten nicht auf einen Faktor verkürzt betrachtet, sondern es stellt eine Folge eines spezifischen transaktionellen Feldes dar, in dem sowohl genetische Bedingungen, ständige Lernprozesse als auch das interaktionelle Umfeld des Betroffenen mit seinem gesamten Humansystem und dessen ökologischer Umwelt mit einbezogen werden.

Dieser Paradigmenwechsel vollzieht sich im Laufe dieses Jahrhunderts, wobei der Übergang des reduktionistischen Modells zum systemischen in den Sozialwissenschaften nur sehr zögernd vor sich geht, und erst in Ansätzen realisiert werden konnte. Schon in den ersten zwei Jahrzehnten vollzog sich der Wandel in den logisch- mathematischen Wissenschaften und der Physik, eine Dekade später auch in der Biologie, und schließlich wurde er letztendlich auch in den Sozialwissenschaften aufgenommen. Mit großen zeitlichen Verzögerungen erreichte letztendlich auch die Psychiatrie dieses neue wissenschaftliche Paradigma. Daß dieser Prozeß erst in Ansätzen realisierbar ist, wird dadurch verständlich. Ziel kann es nur sein, das alte Theoriengebäude zu reparieren, nach dem neuen Verständnis abzuändern, und, wo es nötig ist, Teile ganz zu verwerfen und von Grund auf neu zu konzipieren.

Trotz dieser Betrachtungsweise fand erst in wenigen Gebieten eine Assimilation statt, so daß der Informationszuwachs weit hinter dem aktuellen Stand der Forschung liegt.

Theoretische Grundlagen des systemischen Denkens

In der Mathematik und Physik ist der Ausgang dieses entscheidenden Wandels zu sehen. Die Relativitätstheorie und Quantenphysik lieferten die Hauptbeiträge zu diesem Verständnis. Die Welt wird nicht mehr in einem primitiven Ursache- Wirkungszusammenhang gesehen, sondern als ein organisiertes Ganzes, in dem jeder Teil von allen anderen Teilen bestimmt ist. Es entsteht eine spezifische Struktur durch ihre gegenseitige Beziehung. Mit dieser Veränderung ist die eindimensionale Weltsicht, die Phänomene auf einen Punkt reduziert, endlich überwunden.[20]

Diesen entscheidenden Wandel innerhalb der naturwissenschaftlichen Forschung unternahmen Männer wie Planck, Einstein, Bohr, Schrödinger, Heisenberg etc. Sie haben einen Perspektivenwechsel initiiert, der einerseits unser Weltbild und andererseits unsere gängigen Konzepte zur Erforschung menschlicher Entwicklung auf eine völlig neue Basis gestellt hat. Parallel dazu erfuhren auch die Systemtheorien, der Konstruktivismus und die Chaostheorie eine entscheidende Entwicklungsphase. Diese grundlegenden Veränderungen wissenschaftlicher Forschung zwingen uns, die neue Sichtweise für das humanwissenschaftliche Handeln nutzbar zu machen.

Eine Systemsicht erzwingt es, eine linear- kausale Erklärung sozialen Verhaltens zurückzustellen und das zirkuläre Modell in den Vordergrund zu rücken. Dieses ist der modernen Kybernetik und der daraus folgenden Kommunikationstheorie zuzuordnen. Das Grundmodell dieses interaktiven Systems auf zirkulärer Ebene ist der kybernetische Regelkreis. Nach ihm sind an der Aufrechterhaltung eines Systems alle Systemteile beteiligt, es kann also ein Subsystem die restlichen beteiligten Systeme nicht kontrollieren. Die kybernetische Maschine ist ein input- output Vermittler, der zielorientiert und selbstregulierend wirkt. Diese Maschine besitzt Sensoren, die durch den Output aktiviert werden, um die aktuelle Leistung zu messen. Sie geben den Grad der Abweichung vom Sollwert in Form von Feedback- Schleifen zurück, was eine neue Kontrolle der Leistung gewährt [21]

Ich möchte dieses zirkuläre Modell anhand eines Beispiels aus der modernen Physik darstellen. Die moderne Physik hat uns gezeigt, daß Licht sowohl Welle als auch Teilchen ist. Was wir sehen, hängt davon ab, welche Versuchsanordnung der Beobachter wählt. Sehen wir das eine, so bleibt uns das andere Element verborgen. Dies bedeutet, daß wissenschaftliche Erkenntnis immer an den Standort des Beobachters gekoppelt ist. Daher kann die Betrachtung des Forschers, der immer auch Teil des beobachteten Systems ist, weder falsch noch absolut richtig sein. Der Beobachter kann also niemals Realität bestimmen, denn Realität wird im Sinne eines "Sowohl als auch" betrachtet.

Wichtig wäre es deshalb, diese Sichtweise auch für die Betrachtung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten anzuwenden, da nur zu oft komplexes Problemverhalten von Kindern als die einzige und unabänderliche Realität betrachtet wird, was wiederum zur Folge hat, daß bei Behandlungsmöglichkeiten nur am Kind allein angesetzt wird, anstatt nach der Ursache im gesamten Bezugssystem des Kindes zu suchen.

Die wichtigsten Ergebnisse der Kybernetik sind drei bedeutsame Entwicklungen für die moderne Wissenschaft. Sie brachte eine moderne Technologie, ein neues Interaktionsmodell und letztendlich eine neue Epistemiologie hervor.[22]

Wissenschaftstheoretische Orientierung des systemischen Denkens

Nach einer wissenschaftstheoretischen Betrachtungsweise kommt in Bezug auf systemisches Denken zwei Begriffen große Bedeutung zu. Holismus und Konstruktivismus sind zwei wichtige Kriterien für eine wissenschaftstheoretische Orientierung systemischen Denkens. Holistisches Verständnis kennzeichnet sich dadurch, daß nicht mehr isolierte Elemente analysiert und interpretiert werden, sondern der Vernetzung des Gesamtsystems besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Menschliches Verhalten wird somit kontextbezogen verstanden. Verhalten wird demnach vom gegebenen Kontext bestimmt, und es bestimmt auch wieder in einer Wechselwirkung seinen Kontext. Das Verhalten eines Individuums wird in einer ständigen Wechselwirkung mit seiner Umwelt betrachtet. Individuum und Umwelt sind zirkulär miteinander verbunden. Weder allein das Individuum, noch allein seine Umwelt, sondern deren spezifische Vernetzung können das konkrete Verhalten ausmachen.[23]

Weiters ist die systemische Denkweise an dem Paradigma des Konstruktivismus orientiert. Wirklichkeit ist, nach Watzlawick (1985), nur als konstruierte Realität zu verstehen. Der Mensch kann nur symbolische Darstellungen von Wirklichkeit produzieren, also keine echten Abbilder. Diese Interpretationen von Wirklichkeit entstehen aus den jeweiligen Erfahrungen des Menschen, die er im Laufe seiner Entwicklung sammelt. [24]

Die Wissenschaft betrachtet menschliches Verhalten nicht mehr in einer 1:1- Abbildung von Realität, wie dies der logische Empirismus bezeichnet. Der Konstruktivismus, der symbolische Interaktionismus, sowie die phänomenologisch- existentielle Orientierung verwerfen den Anspruch, eine objektive Wirklichkeit abbilden zu können. Neues Ziel dieser wissenschaftstheoretischen Positionen ist es, die individuellen und kollektiven Bedeutungsstrukturen des Menschen nachzuvollziehen.[25]

Besonders Maturana ist es 1982 mit seinem Modell der "strukturdeterminierten Systeme" gelungen nachzuweisen, daß das Erkennen einer metaphysischen Welt prinzipiell unmöglich ist. Vielmehr bestimmt die Struktur jedes lebenden Systems den Bereich, in dem es existieren kann, und die Bandbreite, die es wahrnehmen kann, selbst. Um dies verständlicher darzustellen, möchte ich eine Definition von Maturana (1982) zitieren.[26]

"Die Struktur eines zusammengesetzten Systems konstituiert dieses als Einheit und determiniert seine Eigenschaften als Einheit, indem es den Bereich angibt, in dem das System als ein unanalysierbares Ganzes interagiert (und als solches behandelt wird). Die Struktur eines zusammengesetzten Systems determiniert den Raum, in dem es existiert bzw. von außen beeinflußt werden kann, nicht jedoch seine Eigenschaften als Einheit." (Maturana 1982)

Die Struktur solcher "lebender Systeme", wie sie Maturana nennt, ist nicht statisch zu verstehen, sondern variabel. Im Laufe der Entwicklung eines Menschen ergeben sich Interaktionen mit der Umwelt, die zu laufenden Veränderungen der Systemstrukturen führen. Das wesentlichste Kriterium dieser Wissenschaftsposition ist daher nicht die Entdeckung einer objektiven Welt, sondern die verantwortungsvolle Mitgestaltung an einer entwicklungsfördernden Welt. Diese läßt sich nur mittels Interdisziplinarität und Methodenpluralität verwirklichen.

Anthropologische Orientierung

Im Zusammenhang mit der wissenschaftstheoretischen Orientierung müssen auch einige wichtige anthropologische Prämissen angeführt werden, die das Menschenbild der systemischen Denkweise darstellen.

Soziale Interdependenz

Die Entwicklung eines Menschen ist dadurch gekennzeichnet, daß er von der Geburt bis zum Tod in Wechselbeziehungen mit der ihn umgebenden Umwelt steht. Jeder Mensch eignet sich auf individuelle Art und Weise die Welt an und wirkt auch auf sie ein. Begriffe wie Individuation und Entwicklung spielen in diesem Prozeß eine wichtige Rolle. Auf die "bezogene Individuation" (Stierlin 1977) komme ich im weiteren noch genauer zu sprechen.

Auch die Geschichtlichkeit ist für die soziale Interdependenz bedeutend. Menschliches Verhalten ist kein isoliertes, sporadisches Geschehen, sondern es ist eingebunden in den jeweiligen Lebenslauf.

Sinn- und Zielorientierung

Im Gegensatz zum kausalen Verständnis von menschlichem Verhalten ist das zentrale Motiv individuellen Handelns die Suche nach ziel- und sinnorientiertem Dasein. Der Mensch hat die Freiheit, in seinem lebensgeschichtlichen Kontext Ziele, die sein Handeln bestimmen, auszuwählen, zu verfolgen und zu verändern. Der Verlust von Sinn- beziehungsweise Zielorientierung bedroht die Identität eines Menschen. [27]

Eine weitere Komponente stellt die Eigenschaft des Menschen zur Selbstverwirklichung dar. Jeder Mensch strebt danach, sich zu entwickeln, zu wachsen und seine Fähigkeiten zu entfalten und sich dadurch von anderen abzugrenzen, zu differenzieren. [28]

Der Mensch als integrierte Einheit

Das Ganzheitskonzept des Menschen bedeutet, daß eine isolierte Betrachtungsweise von Teilbereichen unangemessen ist. Erst durch das Verständnis der interdisziplinären Einheit des Menschen, von Körper, Psyche, Geist und Umwelt, sind verantwortungsvolle Beobachtungen menschlichen Verhaltens möglich. Erst wenn der Mensch als "bio- psycho- soziale" Einheit verstanden wird, ist er in seiner Komplexität als Ganzheit "Mensch" erfaßt worden.

In einer allgemeinen Diskussion wurden die beiden wesentlichen Paradigmen und sowohl die wissenschaftstheoretische als auch anthroplogische Orientierung, die in der Psychotherapie und Psychiatrie vorherrschen, besprochen. Nun möchte ich einen direkten Bezug dieser beiden Theorien auf kindliches Aggressionsverhalten herstellen.

Das auffällige Kind im Kontext der linearen oder topologischen Perspektive

Kindliche auffällige Verhaltensweisen werden anhand von zwei verschiedenen Theorieansätzen bestimmt. Das klinisch organische Paradigma behauptet eine hirnorganische Dysfunktion und sucht damit die Ursache der Störung im Kind. Das zweite Modell geht davon aus, daß über einen normativen Etikettierungsprozeß die Auffälligkeit wiederum einseitig durch den Etikettierenden erst geschaffen wird. Diese beiden Extrempositionen bestimmen eine Kontroverse, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Sozialwissenschaften beschäftigt.[29]

Immer mehr Eltern, Erzieher und Pädagogen bestätigen, daß kindliche Verhaltensweisen als störend empfunden werden, und sind ratlos im Umgang mit diesen Auffälligkeiten. Aus ihrer Hilflosigkeit heraus werden solche kindlichen Probleme meist in Zusammenarbeit mit Ärzten, Psychologen oder Psychotherapeuten medizinisch diagnostiziert und behandelt. Es ist daher unumstritten, daß es sich bei dieser Auffälligkeitsproblematik um ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem handelt.

Lineare Erklärungsmuster

Betrachtet man Verhaltensauffälligkeiten nach dem linearen Verständnis, werden sie eindimensional betrachtet und auf einen Faktor verkürzt dargestellt. Lineare Perspektiven setzten nur am Kind als Störfaktor an und versuchen es zu behandeln. Deshalb ist nur das Kind der Ansatzpunkt für Veränderung, es wird zum Problemkind determiniert. Es werden psychiatrische, psychosomatische, soziologische und psychologische Ansätze diskutiert, die sich an der Struktur des jeweiligen Problems orientieren. Man beschäftigt sich hauptsächlich mit Symptomen , trifft pauschale Schuldzuweisungen und läßt dabei die Ganzheitlichkeit des kindlichen Verhaltens völlig außer Betracht.[30]

Die Konsequenzen, die daraus resultieren, sind die vielen Hilferufe der Erzieher, da die üblichen therapeutischen Maßnahmen sich als wirkungslos erweisen und die Pädagogen im Umgang mit den kleinen "Störenfrieden" immer ratloser werden.

Diese immer stärker zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten der Kinder müssen demnach anders zu erklären sein. Betrachtet man unsere Welt, die sich durch immer stärkere Konsumorientiertheit und eine immense Medienkälte auszeichnet, oder bedenkt man das Konkurenzdenken unserer Gesellschaft, so kann man sich besser in die Hilflosigkeit eines kleinen, verängstigten und verunsicherten Kindes hineinversetzten. Seine Aggressionen können daher als Signalruf betrachtet werden. Kinder signalisieren über auffälliges Verhalten eine Störung in ihrer Lebenswelt.

Das Problem ist nur, daß es kein allgemeines Rezept für den Umgang mit kindlichen Aggressionen gibt, sondern nur ein neues Verständnis kindlichen Verhaltens, welches erst allmählich auch in den Sozialwissenschaften Einzug hält. Durch diese verzögerte Entwicklung ist allerdings noch kein allgemein akzeptierter, widerspruchsfreier Rahmen zur Erklärung der kindlichen Verhaltensauffälligkeit vorhanden, was in der fehlenden theoretischen Fundierung begründet liegt.[31]

Topologische Erklärungsmuster

Der sinnvollste Weg einer Behandlung kindlicher Aggressionen ist der Versuch einer ganzheitlichen theoretischen Erfassung kindlicher Auffälligkeit. Dabei muß das gesamte Umfeld des Kindes mit seinen ökologischen Bedingungen in Betracht gezogen werden. Diese topologische Perspektive interessiert sich für das gesamte System, in dem ein bestimmtes Kind lebt, und beschäftigt sich mit den Verbindungsstellen zwischen Psyche, Sozialem und Materiellem.

Es wird immer von der Ganzheit des menschlichen Seins ausgegangen, dessen sozio- affekt- logische Einheit in jeder Rolle innere und äußere, intra- und interpsychische, bewußte und unbewußte Anteile besitzt, die zusammenspielen und eine Einheit bilden. Das Verhalten eines Kindes wird nur dann verständlich, wenn diese einzelnen Rollen in einem komplexen Zusammenspiel betrachtet werden. Erst die Kumulation negativer Einflüsse führt zu einer Entgleisung des Sozialisationsprozesses. Nur durch eine solche topologische Perspektive können alle problemrelevanten Ebenen und Relationen erfaßt werden.[32]

Durch diese topologische Perspektive entwickelt sich ein theoretisches Modell, welches interdisziplinär die individuelle Entwicklung im vorgegebenen Kontext beschreibt. Im Bezug auf die verschiedenen Ebenen des menschlichen Lebens können Störungen in allen möglichen Bereichen entstehen. Die Art und Ausprägung einer kindlichen Störung hängt daher von verschiedenen Faktoren im Laufe der gesamten Entwicklung ab. Nicht nur der Zeitpunkt der psychischen Störung ist entscheidend, auch die Intensität, Dauer und insbesondere die Möglichkeit des Kindes zur Selbstregulation. Einfluß darauf haben auch positive Kräfte in der Umwelt.[33]

Abbildung 2: "Der Mensch als sozio-affekt-logische Einheit"

Abbildung 3: Traditionelle lineare Perspektiven (oben) und topologische Perspektive (unten)

Nach systemischer Auffassung ist Auffälligkeit nur dann möglich, wenn von einer externalen Position aus, sowohl die lebensweltlichen ( gesellschaftliche, soziale, institutionelle und organisatorische) und die äußeren (alters-, geschlechts- und rollenspezifische) als auch innere (unbewußte psycho- und rollendynamische) Aspekte der vernetzten Einheit gesichert werden. Auch lebensgeschichtliche und zukunftsorientierte Aspekte der aktuellen Situation müssen in diesem Zusammenhang erörtert werden. Ein systemisches, mehrdimensionales Verständnis menschlichen Verhaltens erfordert daher die Erfassung der wechselseitigen Verknüpfung aller menschlichen (sozio- affekt- logische Einheit) und sozialen (Familie, Schule, Kindergarten, Gemeinde, Gesellschaft) Ebenen.

Probleme, die auf jeder einzelnen dieser Ebenen auftreten, oder sogar von einer bestimmten Ebene auf eine weitere übertragen werden können, sind daher immer Störungen des gesamten Systems und verlangen also auch eine ganzheitliche Behandlung. Im Bezug auf kindliche Aggressionen muß daher das gesamte Umfeld des Kindes miteinbezogen werden, da jede Verhaltensform nur in ihrem zwischenmenschlichen Kontext zu verstehen ist. Kindliche Verhaltensstörungen, insbesondere Aggressionen, sind deshalb nur ein Versuch des Kindes, die widersprüchlichen Anforderungen und Probleme verschiedener Systemebenen kompromißhaft zu lösen. Somit kann z.B. aggressives Verhalten durch den Kontakt zwischen Kind und Erzieher ausgelöst werden oder von Kommunikationsstörungen innerhalb der Kindergruppe abhängen oder auch vollkommen losgelöst von der Institution Kindergarten durch bestimmte familiäre Konstellationen entstehen (Ehekrise, Verlusterlebnis, finanzielle Probleme etc.).[34]

Aggressionen im Kindesalter können daher nach zirkulärem Verständnis von Ursache und Wirkung nur im Zusammenhang der vernetzten Systeme und Subsysteme betrachtet werden. Nach diesem Ansatz wird nicht linear am Kind angesetzt, sondern die Aufmerksamkeit auf die systemische Vernetzung des Kindes mit seiner sozialen Umgebung gerichtet. Die Störung selbst wird demnach nicht allein im Kind oder in dessen Verhaltensweisen gesucht, sondern wird als Ergebnis einer Vielzahl von Prozessen innerhalb der systemischen Beziehungen angesehen. Die Probleme des gesamten Systems haben sich als Systemstörung im Kind angesiedelt.

Diese komplexen Zusammenhänge können nur in einer Konferenz aller Betroffenen untersucht und aufgearbeitet werden, an der alle Angehörigen des Bezugssystems eines Kindes teilnehmen. Bisher ist diese Form der Psychotherapie oder Beratung nur in familientherapeutischen oder systemischen Therapierichtungen umgesetzt worden. Ziel wäre es, die restlich vertretenen Psychotherapieformen ebenfalls im Sinne einer topologischen Perspektive (Abbildung 4) zu modifizieren. Es kann allerdings nicht im Sinne des oben erklärten Perspektivenwechsels sein, vorhandene Konzepte und Therapieformen nun um weitere additiv zu ergänzen. Sinnvoll wäre, von der Metaebene aus zu versuchen, die unkoordiniert, oft sogar konkurrierend und nebeneinander existierenden Konzepte als eine mehrdimensionale Ganzheit sich gegenseitig ergänzender Elemente zu betrachten. Daher wäre es wichtig, die vielfältigen bereits praktizierten Ansätze zusammenzuführen und ihre unterschiedlichen Standpunkte zum dynamischen Element einer Therapie oder Begleitung zu machen.[35]

In einer solchen Auseinandersetzung mit Verhaltensauffälligkeiten geben die Helfer kein Ziel an, sondern sie begleiten, bieten einen Kontext für Erfahrungen an, um damit die eigenen Lebenserfahrungen zu erörtern. Zuhören und Beobachten werden in diesem Zusammenhang wichtiger als "Machen" und Behandeln. Durch eine solche Sichtweise würde der Perspektivenwechsel vom linearen zum zirkulären Modell in seiner Weiterentwicklung sehr gefördert werden.[36]



[20] J. Duss von Werdt, R. Welter-Enderlin; Der Familienmensch; 1980; S. 84

[21] J. Duss von Werdt, R. Welter-Enderlin; Der Familienmensch; 1980; S.86

[22] J. Duss von Werdt, R. Welter-Enderlin; Der Familienmensch; 1980; S.86

[23] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.72

[24] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.72

[25] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.7

[26] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.8

[27] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.6

[28] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.7

[29] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.38/39

[30] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.28

[31] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.28/29

[32] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.31

[33] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.34

[34] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.35/36

[35] H. von Lüpke, R. Voß; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.5

[36] H. von Lüpke; R. Voß; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.5/6

Medizinisches versus systemisches Modell - Auswirkungen auf kindliche Verhaltensstörungen

Die jeweils spezifischen Modelle mit ihren kontroversen Sichtweisen von menschlichem Verhalten wirken sich unterschiedlich auf die Betrachtung und den Umgang mit kindlichen Aggressionen aus. Allein die Zuordnung einer kindlichen Auffälligkeit zu einer bestimmten Kategorie reicht nicht aus, um Ursachen aufzuweisen oder Ansätze für pädagogisches und therapeutisches Handeln zu finden. Die jeweils unterschiedlichen Sichtweisen müssen zu entsprechenden Konsequenzen pädagogischer, therapeutischer und auch organisatorischer Art führen.

Medizinisches Modell

In der Medizin, insbesondere der Psychiatrie, wird das Problem des auffälligen Kindes auf einer klinisch- organischen Grundlage betrachtet. Es wird versucht das Problem des Kindes eindimensional zu lösen, die Ursachen werden meistens auf einen möglichen Faktor beschränkt gesehen. Verhaltensstörungen werden oft in Analogie zu organmedizinischen Pathologievorstellungen betrachtet und erklärt. Das gesamte Psychopathologie- Gerüst wird an das der allgemeinen Pathologie angelehnt, was für das Verständnis kindlicher Verhaltensstörungen negative Auswirkungen hat.[37]

Psychiatrische Erkrankungen wie z.B. Schizophrenie, MDK (manisch- depressives- Kranksein), Psychosen aller Art können in ein allgemeines Klassifikationssystem wie beispielsweise das ICD- 10 oder das DSM- 3R eingeordnet werden, da sie klassische psychiatrische Krankheiten mit ähnlichen Verläufen darstellen. Bei psychosomatischen Erkrankungen oder kindlichen Verhaltensstörungen, insbesondere der kindlichen Aggression, muß von einem mehrdimensionalen Modell aus an das Problem herangegangen werden. Das medizinische Modell führt demnach einen folgenschweren Analogieschluß durch, der Umwelteinflüsse zu Krankheitserregern werden läßt und körperliche Symptome bzw. Organkrankheit auf auffällige Verhaltensweisen überträgt. Viel zu leichtsinnig wird mit Diagnosen, wie z.B. dem Hyperkinetischen Syndrom (HKS) oder der Minimalen Cerebralen Dysfunktion (MCD) umgegangen, welche auf hirnorganischen Störungen beruhen. Somit hat ein Kindergartenkind beim Schuleintritt von vornherein eine schlechte Ausgangsbasis, wenn es die Bezeichnung einer sogenannten Lernbehinderung trägt. Bevor man Kindern ein solches Krankheitsbild nachweist, sollten Ärzte, Therapeuten, Erzieher und Eltern von diesem eindimensionalen Muster absehen und für das Problem im gesamten System des Kindes nach Antworten und Ursachen suchen. Meistens sind erzieherische Probleme oder Probleme des Sozialverhaltens des Kindes Auslöser für Verhaltensauffälligkeiten, die sich in Aggressionen, aber auch Schulschwierigkeiten, Konzentrationsschwächen, Lernstörungen, motorischer Unruhe oder anderen unerwünschten kindlichen Verhaltensweisen niederschlagen.[38]

Dazu möchte ich ein kurzes Fallbeispiel nennen, das sehr gut verdeutlicht, wie ein gesundes, intelligentes Kind mit so einer Fehldiagnose behaftet werden kann. Es handelt sich um einen kleinen Jungen aus meiner Nachbarschaft, den seine Mutter ganz offensichtlich ablehnt. Die Ursache dafür sind Beziehungskrisen mit dem Vater des Kindes, von dem sie seit der Geburt des Kindes getrennt lebt. Durch all diese psychischen Probleme, welche durch die Ablehnung des Buben entstanden sind, entwickelte er sehr auffälliges, auch aggressives Verhalten. Diese Mutter fragte Arzt um Arzt nach Ratschlägen und besucht diesen und jenen Psychologen. Keine dieser Anlaufstellen versuchte die Störung dieses armen, ausgestoßenen Kindes in der gestörten Mutter- Sohn- Beziehung zu suchen, alle wandten sich ausschließlich dem kleinen "Störenfried" zu. Aber alle Ratschläge und Tips scheiterten. Der kleine ungeliebte Junge wurde zum Schulversager, ihm droht nun, die zweite Volksschulstufe im Alter von acht Jahren wiederholen zu müssen. Kein Mensch wird jedoch hellhörig und versucht das gesamte System des Jungen zu erörtern. Daß dieses Kind eine Mutter hat, die es nicht liebt, einen abwesenden Vater, der seinen Jungen nur selten besucht, und einen Adoptivstiefvater, der zweite Mann seiner Mutter, der nach kurzer Zeit verstarb, und daß kurze Zeit später schon wieder ein neuer Ersatzvater in sein Leben trat, interessierte die intervenierenden Psychiater und Therapeuten nicht. Schlußendlich wurden noch Intelligenztests durchgeführt mit dem Ergebnis, daß der Junge nicht nur durchschnittlich, sondern sogar überdurchschnittlich intelligent ist. Zuerst diagnostizierten Ärzte allerdings Lernschwächen, Konzentrationsstörungen und standen demnach kurz vor der Diagnosestellung einer MCD.

Dieses Beispiel verdeutlicht ausgezeichnet die Auswirkungen einer Behandlung kindlicher Verhaltensstörungen nach dem medizinischen Modell. Es ist gut zu erkennen, daß institutionelle Bedingungen, interaktionelle und gesellschaftliche Problemlagen außer acht gelassen werden und daß zurückliegenden Lernerfahrungen sowie aktuellen Lebens- und Verhaltensbedingungen keinerlei Bedeutung beigemessen wurde. Weiters kann man hier deutlich erkennen, wie eine Verhaltensauffälligkeit durch normative Etikettierungsversuche erst produziert wurde. Dieser Prozeß der Stigmatisierung kindlichen Problemverhaltens wurde insbesondere durch die hilflose Mutter, ratlose Ärzte, Therapeuten und Psychologen initiiert, wodurch einem kleinen wehrlosen Jungen ein Leben lang die Rolle eines Schulversagers und "Verhaltensgestörten" zugeschrieben wurde. Anstatt daß der Versuch unternommen wurde, wichtige Sinnzusammenhänge der einzelnen Subsysteme dieses gestörten Systems zu analysieren, übernimmt die medizinische Institution die gesamte Verantwortung für die gegebenen Problemlagen. Diese Dominanz des medizinischen Modells muß gebrochen werden, um weitere traurige Kinderschicksale zu verhindern.

Von der individualisierenden zur verstehenden Perspektive

Bisher wurde die Diskussion über kindliche Verhaltensauffälligkeiten von zwei gegensätzlichen Modellvorstellungen geprägt. Die individualisierende, die die Auffälligkeit des Kindes in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, wird im oben erklärten medizinischen Modell vertreten. Der individualisierenden Sichtweise wird die zuschreibende Perspektive gegenübergestellt, welche die Auffälligkeit als soziales Produkt von Zuschreibungsprozessen betrachtet. Das Umfeld des Kindes wird hier zum Gegenstand der Analyse gemacht. Im folgenden möchte ich auf die beiden Perspektiven genauer eingehen und anschließend die verstehende Sichtweise beschreiben, die nicht die kausale Trennung von Person und Umwelt erfordert, sondern Beziehungsprozesse in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.[39]

Individualisierende Sichtweise

Nach einer individualisierenden Sichtweise wird auffälliges Verhalten als Symptom, also pathologische Struktur interpretiert. Dieses im Bereich der Organmedizin konzipierte Modell (medizinisches Modell) richtet seinen Fokus auf das Kind mit seinen Verhaltensproblemen. Erkennbare Störungen werden auf individuelle Defekte, die entweder erblich bedingt sein können oder auch während der Entwicklung, in der prä-, peri- oder postnatalen Phase erworben worden sind, zurückgeführt werden. Immer noch wird mit großer Anstrengung versucht, organische Ursachen für kindliche Verhaltensauffälligkeiten zu suchen. Beispielhaften Charakter hat hier das sogenannte "Hyperkinetische Syndrom", das durch eine "Minimale cerebrale Dysfunktion" zu erklären versucht wird, was aber trotz noch so großer Anstrengung nicht gelungen ist. Darauf gehe ich im späteren noch genauer ein, weil es sich hierbei um ein prägnantes Beispiel handelt, wie Verhaltensstörungen durch den Beobachter produziert werden können. [40]

Aus dieser individualisierenden Perspektive kindlicher Verhaltensauffälligkeiten lassen sich natürlich spezifische Umgangsformen ableiten. Das Kind, das zum Störfaktor determiniert wird, bekommt die Zuschreibung "krank" und muß demnach behandelt werden. Dadurch entsteht eine zunehmende Häufigkeit von etikettierten Kindern und Jugendlichen, die vorschnell mit Diagnosen wie MCD, HKS, Intelligenzretardierung etc. behaftet werden.

Zuschreibende Sichtweise

Im Gegensatz zur individualisierenden Perspektive werden in dieser sozialen Perspektive zwei Prozesse sozial auffälligen Verhaltens dargestellt. Kinder reagieren erstens auf vorgegebene Strukturen ihres Umfeldes mit bestimmten Handlungen, in diesem Falle auffällig. Der zweite Prozeß bedeutet, daß die Systemmitglieder auf jene Verhaltensweisen reagieren. Bei diesem Modell, auch "Labeling Approach" genannt, richtet sich der Fokus nicht mehr auf das Kind mit seiner angeblichen Störung, sondern auf die sozialen Reaktionen seiner Umwelt. Die Aufmerksamkeit, die vorhin dem "gestörten" Kind galt, wird nun auf das betreffende System des Kindes (meistens die Eltern) projiziert.

In einem spezifischen System gelten bestimmte Normen. Weicht ein Kind davon ab, wird es als "gestört" oder "krank" bezeichnet. Nicht das Verhalten an sich, sondern die normative Bewertung desselben durch das soziale Umfeld, wird als wesentlicher Bedingungsfaktor betrachtet. Die Gefahr dieses Ansatzes besteht darin, daß die wichtigsten Interaktionspartner des Kindes, meist die Familie, die Schuld für das auffällige Verhalten eines Kindes zugeschrieben bekommen. Dieses Modell vernachlässigt auch die Auseinandersetzung mit dem betroffenen Kind.[41]

Verstehende Sichtweise

Beide vorhin erläuterten Sichtweisen haben gemeinsam, daß sie das auffällige Kind zum Opfer erklären. Nach der individuellen Perspektive ist das Kind Opfer einer Störung oder Krankheit, nach der zuschreibenden Perspektive ist es Opfer von Zuschreibungsprozessen. Die aktive Handlungsfähigkeit des Kindes in seiner vernetzten Einheit, seinem Bezugssystem, wird in beiden Ansätzen verleugnet.

Das Verstehen, im Sinne einer Bemühung, die subjektive Bedeutung des individuellen und kollektiven Verhaltens nachvollziehen zu können, stellt den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit kindlichem Problemverhalten dar. Ziel einer verstehenden Perspektive ist es, sich an der Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt, also am inneren Bezugsrahmen des Kindes zu orientieren. Nach dieser Betrachtungsweise wird kindliches Fehlverhalten als sinnvolles Signalverhalten, als Problemlösestrategie, als Konzept der Selbsthilfe oder auch einfach als Notruf betrachtet.[42]

Auffälliges Verhalten ist erstmals nicht mehr etwas Negatives, eine Minusvariante von Verhalten, sondern ein zu respektierender Versuch eines Kindes, bedrohliche Lebenssituationen zu meistern. Die Auffälligkeit selbst stellt ein Zeichen dar, auf welche Art und Weise ein Kind seine Konflikte mit der Umwelt ausdrückt.

"Das Signalverhalten ist in der Regel immer not- wen- dig und zeigt an, daß im sozial- emotionalen Interaktionsfeld eine Unverträglichkeit aufgetreten ist." (Wolff 1978)[43]

Nach der verstehenden oder systemischen Perspektive ist das Kind mit seiner Verhaltensauffälligkeit nicht gestört, sondern es liegen Störungen in der Wechselbeziehung des Kindes mit seiner Umwelt vor. Diese Sichtweise erweitert den Fokus auf das Kind mit seinen Problemlagen im jeweiligen Lebenskontext.[44]

Dieser Ansatz hat natürlich auch Auswirkungen auf die Fördermöglichkeiten des auffälligen Kindes .Das Kind darf nicht mehr mittels reaktiver und präventiver Maßnahmen zum Objekt der Behandlung gemacht werden, sondern es werden Dimensionen der Selbsthilfe und Problemlösung erkannt. Ziel ist es dabei, gemeinsam mit dem Kind und seinem Bezugssystem Wege und Möglichkeiten zu suchen, die die Wechselbeziehung mit der Umwelt verbessern und Veränderungen in einem zu starr gewordenem System zulassen.

Systemisches Modell

Neben den beiden Modellvorstellungen, die einerseits das Kind zum Störfaktor deklarieren, und sein Verhalten auf einen einzigen Faktor verkürzt betrachten, und andererseits die Verhaltensprobleme eines Kindes als Zuschreibungsprozesse verstehen, entwickelt sich als dritte Variante eine systemische Perspektive kindlicher Verhaltensstörungen, die ich im vorigen Kapitel schon als die "verstehende Sichtweise" angeführt habe.

Wer sich mit Kindern beschäftigt, die Verhaltensauffälligkeiten aufzeigen, wird sehr bald zum Schluß kommen, daß die betroffenen Familien Hilfe benötigen, da sie mit ihrer erschwerten Situation völlig überfordert sind.

Nach den herkömmlichen Modellvorstellungen wird entweder dem Kind oder den Eltern, in einer isolierten Form, die Verantwortung für diese "abweichende" Verhalten zugeschrieben. Es handelt sich daher um einfache linear- kausale Schuldzuweisungen, in denen bei genauer Betrachtung gewisse erkenntnistheoretische Vorannahmen impliziert sind. Im ersten Fall ist die Problemdefinition eindeutig. Das Kind zeigt eine Verhaltensauffälligkeit, und die Folge davon sind Schwierigkeiten im Umgang mit der Familie. Im zweiten Fall besteht ein familiäres Problem, welches sich in der kindlichen Verhaltensauffälligkeit niederschlägt. Im ersten Fall wird das Kind als "gestört" betrachtet, im zweiten Fall die Familie.

Die pragmatischen Konsequenzen einer solchen eindimensionalen Betrachtungsweise sind folgende: Das Kind wird aus dem familiären Kontext gelöst und, isoliert von seinem Bezugsfeld, individuell behandelt. Meistens geschieht dies nach Mustern des medizinischen Modells, das sich an Pathologievorstellungen orientiert. Bei der zweiten Problemkonstellation, die einer zuschreibenden Sichtweise folgt, müssen Problemlösestrategien für das Bezugssystem Familie gesucht werden.[45]

Probleme, die im zwischenmenschlichen Bereich liegen, aber auf einer individualisierenden Ebene betrachtet werden, lassen sich so nicht adäquat lösen, sondern führen eher zu ihrer Chronifizierung. Bei der Beschäftigung mit so komplexen Verhaltensweisen, wie auffälliges Verhalten von Kindern ist dieses geradlinige Ursache- Wirkungs- Schema eindeutig unzulänglich und führt zu Fehlschlüssen. Diese eindimensionale Suche nach der einen und absoluten Ursache hat auch Rückwirkungen auf die Realität des betreffenden Systems. Entweder dem Kind oder den Eltern werden kausal Schuld und Verantwortung zugeschrieben. Wo nur diese Alternative gesehen wird, beginnt in den meisten Fällen ein Wettlauf um den Freispruch von der zugewiesenen Schuld, der meistens zugunsten der Eltern ausgeht, da der nächste Weg zum Arzt führt, der beim Kind eine Störung diagnostiziert, die meistens den Stempel eines Organschadens trägt.

Ausgangspunkt einer systemischen, verstehenden Perspektive ist hingegen die Überzeugung, daß menschliches Verhalten und Handeln nicht isoliert, sondern vielmehr aus den interaktionistischen und kommunikativen Beziehungsstrukturen des Individuums mit seinem sozialen System zu verstehen ist. Als System wird eine übergreifende Ganzheit verstanden, die sich aus miteinander verknüpften Elementen zusammensetzt. Die neuere Systemtheorie erweitert den Fokus auf die Umwelt. Das System wird nicht mehr allein als Ganzheit von untereinander agierenden Subsystemen betrachtet, sondern seiner Interaktion mit der Umwelt kommt eine große Bedeutung zu, was durch folgendes Zitat verdeutlicht werden soll.[46]

"Dies bedeutet zunächst, daß der Systembegriff der neueren Systemtheorie nicht mehr nur ein Netz von Beziehungen bezeichnet, welches Teile zu einem Ganzen zusammenordnet; vielmehr wird unter System ein Netz zusammengehöriger Interaktionen verstanden, die sich von nicht-dazugehörigen Interaktionen abgrenzen lassen." (Willke 1982)

Bei der systemischen Perspektive wird also ein System nur in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt faßbar. Dafür werden unterschiedliche Beschreibungskriterien verwendet, mit deren Hilfe versucht wird, Struktur und Prozesse innerhalb von Systemen zu erfassen. Diese Kriterien kommen aus verschiedenen Systemarten. Es kann nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht von einer allgemein akzeptierten Systemtheorie gesprochen werden. Vielmehr existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, deren verschiedene Konzepte noch nicht zu einem schlüssigen Gesamtkonzept verbunden worden sind. Dennoch haben folgende Begriffe große Bedeutung innerhalb der systemischen Perspektive.[47]

  1. Holismus oder auch Totalität sind Begriffe, die beschreiben, daß soziale Systeme mehr sind, als die Summe ihrer Teile. Deshalb können soziale Interaktionsprozesse nicht lediglich aus den Verhaltensweisen der einzelnen Personen des Systems erklärt werden. Viel mehr Bedeutung für das Verstehen von Verhaltensweisen kommt daher der wechselseitigen Vernetzung der einzelnen Subsysteme zu.

  2. Homöostase bezeichnet die Fähigkeit eines Systems relativ sichere Stabilität nach innen und nach außen aufrecht zu erhalten. Oft sind solche Systeme recht starr geworden, sie benötigen Anregungen für Veränderungen innerhalb ihres Systems, um neue Interaktionsmuster zulassen zu können.

  3. Unter Morphogenese und Morphostase werden Interaktionsprozesse zwischen sozialen Systemen und ihrer Umwelt verstanden. Morphostase bezeichnet den Vorgang eines Systems, Umweltstörungen zu kompensieren, ohne die eigene Struktur verändern zu müssen. Sie stellt eine Möglichkeit des Systemerhalts in einer sich ändernden Umwelt dar. Beim Prozeß der Morphogenese werden neue Systemstrukturen entwickelt, um Umweltveränderungen auszugleichen. Für eine optimale Entwicklung sollte ein Ausgleich zwischen morphogenetischen und morphostatischen Beziehungsstrukturen vorherrschen.

  4. Zirkularität beschreibt die Rückläufigkeit von Ursache und Wirkung zu ihrem Ausgangspunkt. Dies bedeutet, daß alle Subsysteme miteinander verbunden sind und aufeinander wirken beziehungsweise zurückwirken. Es kann daher kein einzelnes Subsystem das restliche System kontrollieren, sondern nur die wechselseitige Vernetzung kann ein bestimmtes System erhalten.

  5. Regulierungen (Familienregeln) beschreiben vorherrschende Verhaltensregeln innerhalb eines bestimmten Systems. Die Beschäftigung mit diesen Regeln, bietet die Möglichkeit, zugrundeliegende Muster bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen, um so den familiären Kontext besser verstehen zu können.

  6. Selbstorganisation ist eine immer bedeutender werdende Fähigkeit von Systemen, Umweltveränderungen dadurch auszugleichen, daß sich die gegebene Systemstruktur auf einer höheren Ebene neu organisiert. Dieser Prozeß geht davon aus, daß die Stabilität eines Systems nur durch Veränderung erreicht werden kann. Selbstorganisation steht daher im Kontrast zum Prozeß der Homöostase.

"Bei Lebensprozessen handelt es sich nicht um geschlossene, sondern um offene Systeme. Ihre Umwelt ist niemals konstant, sie verändert sich ständig. In dem Maße, wie die Veränderung der Umwelt die Lebensbedingungen eines solchen Systems, zum Beispiel eines Organismus oder einer Familie, beeinflussen, ändert sich auch seine ursprüngliche Struktur. Das System muß jetzt fähig sein zu lernen und Strukturen zu entwickeln, die ihm in einer sich ständig ändernden, fließenden Umwelt eine gewisse Kontinuität und Selbstaufrechterhaltung sichern." (Stierlin/ Simon 1987)[48]

All diese Begriffe und Prozesse sind für das Verständnis kindlicher Verhaltensauffälligkeiten von großer Bedeutung. Nur durch eine solche systemische Betrachtungsweise kann ein zu starr gewordenes System, das einem Kind ganz offensichtlich Probleme zu machen scheint, so modifiziert werden, daß sich das Kind in einer wieder Schutz und Geborgenheit bietenden Lebenswelt problemlos entwickeln kann.

Auf der Suche nach dem kindlichen Eigensinn

Denn wir können die Kinder

nach unserem Sinne nicht formen

so wie Gott sie uns gab,

so muß man sie haben und lieben,

sie erziehen aufs Beste,

und jeglichen lassen gewähren.

Denn der eine hat die,

die anderen andere Gaben.

Jeder braucht sie,

und jeder ist doch nur auf eigene Weise

gut und glücklich.

(J.W.von Goethe)

Der kindliche Eigensinn

Die systemische Perspektive ist eine Vorgehensweise, die die Normalität einer Familie betont und sie von ständigen Schuldzuweisungen entlastet. Ziel ist es, in erster Linie Problemlösungsressourcen zu erkennen und zu aktivieren. Für eine solche Sichtweise ist es eine notwendige Voraussetzung, das Kind in seiner Eigenart und mit seinem "Eigen- Sinn" zu verstehen und respektieren.

Alle diejenigen Personengruppen, die mit Kindern häufig in Kontakt treten, kennen diese störenden, unerwünschten oder eigensinnigen Verhaltensweisen der Kinder, die die Beschäftigung mit ihnen und ihre Erziehung erheblich erschweren. Es gibt eine große Palette von Möglichkeiten, wie Erwachsene auf diese Eigenschaften der Kinder reagieren können. Diese reichen von der "schwarzen Pädagogik" bis hin zur "weißen Pädagogik", der sanften Gewalt. Letztere ist in unserer heutigen Zeit weit verbreitet. Eigensinnige, als störrisch bezeichnete Kinder werden zur Strafe für ihr unerwünschtes Benehmen ignoriert und mit Liebesentzug bestraft. Solche Formen von psychischer Strafe ersetzen frühere Methoden wie Schlagen oder Einsperren der Kinder. Beide Formen, die schwarze wie auch die weiße Pädagogik haben nur eines im Sinne: den Eigensinn und Eigenwillen der Kinder zu brechen. Ihre Methoden sind auf Disziplinierung, Anpassung und Zurichtung ausgerichtet.

Bis weit ins 18. Jahrhundert hatte der Begriff Eigensinn eine vollkommen andere Bedeutung. Man sprach von einem "eigenen Sinn" und von "stolzem Mut" und verstand darunter ausschließlich eine sehr positive Eigenschaft des selbständig denkenden Menschen. Erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte dieser Begriff einen großen Wandel in seiner Bedeutung. Eigensinn wurde zu derjenigen Triebkraft im Kinde, die es mit allen Mitteln zu brechen gilt. So wurde dieses Störverhalten des Kindes entsprechend sanktioniert, um ein angepaßtes, braves Kind zu machen. Waren frühere Formen kindlicher Bestrafung hauptsächlich auf physische Gewalt ausgerichtet, so erkennt man heute einen deutlichen Wandel zu Formen der psychischen Gewalt.[49]

Zudem charakterisiert sich unsere heutige Zeit dadurch, daß Verhaltensstörungen zunehmend medizinisiert werden, das heißt, daß Kinder, die auffällige Verhaltensweisen zeigen, mit Medikamenten lahmgelegt und dadurch ruhiggestellt werden. Darauf gehe ich im weiteren noch genauer ein.

Sinnvoll wäre es, die herkömmliche Bedeutung des Eigensinnes wieder neu zu beleben, was eine fundamentale Umorientierung nach dem Schema der systemischen, ganzheitlichen Sichtweise kindlichen Verhaltens erfordern würde. Durch die Erkenntnis der vielseitigen Vernetzung von Mensch und Welt, wird allerdings auch ein Wandel erwartet, der dieser Erkenntnis entspricht. Gemeint ist damit eine Erziehung, die ein Kind so wie es ist, mit seinen Schwächen und Stärken annimmt und ihm auch Grenzen für eine Orientierung setzt. Ein Kind braucht Grenzen, die es abzutasten lernt und die ihm helfen, sich individuell zu entwickeln. Mit einer solchen erzieherischen Grundbasis der Liebe und des Verständnisses für ein Kind, erfährt es von Geburt an seinen Eigen- Sinn. Denn die Erfahrung von Eigensinn und Eigenverantwortlichkeit beginnt nicht erst in der Schule, das Recht des Kindes auf Eigensinn sollte bereits in der Schwangerschaft gelten und erst mit dem Tod eines Menschen beendet sein.[50]

Durch den erkennbaren Paradigmenwechsel innerhalb der Humanwissenschaften wird eine neue Konstruktion von Wirklichkeit propagiert. Auch die Auseinandersetzung mit dem störenden Kind hat eine besondere Beachtung erhalten. Die Erkenntnis, daß der Gesunde auch krank, der Gestörte normal ist und Hilfe immer auch Bevormundung bedeuten kann, muß neu überdacht werden, wobei insbesondere auch Situationen und Erfahrungen zugelassen werden müssen, die nicht in solche Entweder- Oder- Kategorien zuzuordnen sind.[51]

Diese Veränderung ist für Menschen, die ein Leben lang nach solchen Denkschemata gelebt und gehandelt haben, eine große Veränderung. Dieser Wandel zu einer offenen, ganzheitlichen Sichtweise kindlichen Verhaltens ist nur langsam realisierbar, da ein monokausales Denkmodell den helfenden Berufen antrainiert wurde. Nur langsam und schrittweise kann von diesem einseitigen Verständnis Abschied genommen werden. Ziel wäre es, kindliche Verhaltensauffälligkeiten als gesellschaftliche Herausforderung anzusehen, durch ein ganzheitliches Verstehen neue Handlungsorientierungen zu entwickeln, die die Vielfalt, die Komplexität und Widersprüchlichkeit kindlichen Verhaltens widerspiegeln.

  • Die kindliche Auffälligkeit darf nicht länger isoliert auf einer körperlichen, seelischen, intellektuellen oder sozialen Ebene diskutiert werden.

  • Die kindliche Auffälligkeit darf nicht länger auf Teilbereiche der Lebenswelt und der Lebensgeschichte reduziert werden (Aufhebung der Einheit von Lebenswelt und Lebensgeschichte).

  • Die kindliche Auffälligkeit darf nicht länger von verschiedensten Institutionen der medizinischen, psychosozialen und pädagogischen Versorgung additiv behandelt werden (Aufhebung ganzheitlicher Hilfsangebote).

  • Die kindliche Verhaltensstörung darf nicht länger Gegenstand verschiedenster, nicht miteinander kooperierender humanwissenschaftlicher Disziplinen sein. (Aufhebung von interdisziplinären Betrachtungsweisen)[52]

Die Entwicklung von Eigensinn und Eigenverantwortlichkeit ist immer nur im Sinne von bezogener Individuation denkbar. Der Begriff Individuation verweist, ähnlich wie am Beginn und Ende jeder systemischen Betrachtung, auf den Begriff Individuum. Ein Individuum stellt den einzelnen Menschen dar, der sich von seiner menschlichen wie nicht- menschlichen Umgebung abgrenzt und für sich denkt, fühlt und handelt und zudem versucht, einen Sinn darin zu sehen, Ziele zu verwirklichen und sich in bestimmten Situationen hilfsbedürftig, aber auch eigenverantwortlich zu erleben.[53]

Seit den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg gewann das systemische Denken im therapeutischen Bereich zunehmend an Bedeutung, gleichzeitig aber verlor das Individuum an Achtung. Systemisches Denken ließ sich von der Kybernetik beeinflussen. Es wurde seitdem auf Ganzheiten und interdependente Wechselwirkungen und Rückkoppelungsprozesse wertgelegt, wodurch das, was gewöhnlich als Individualität verstanden wird, zunehmend seine Funktion verlor. Erst in den letzten 10- 15 Jahren gewann die Individuation wieder an Bedeutung.[54]

Bezogene Individuation

Jeder Mensch strebt nach einem gewissen Grad an Individualität, er will individuelle Eigenschaften entwickeln und psychische Grenzen abstecken. Auf der Suche nach immer höheren Graden der Individuation besteht, laut Helm Stierlin, belegt in seinem Buch "Das erste Familiengespräch" (1977), jedoch die Gefahr einer Über- bzw. Unterindividuation.

Bei der Überindividuation werden die Grenzen zwischen den anderen zu starr gesetzt, und die große Unabhängigkeit drängt den Betroffenen in die Isolation, Getrenntheit und somit in die Einsamkeit. Anders ist es bei der Unterindividuation. Hier werden nur schwache, inkonsequente Grenzen gezogen, die brüchig und durchlässig sind. Dieser Verlust an Individuation führt den Betroffenen in eine große Abhängigkeit, er wird stark gelenkt und manipuliert von anderen Organismen.

Die Individuation als allgemeines Merkmal aller Lebewesen wird wegen ihrer Komplexität beim Menschen etwas weitschichtiger betrachtet. Je größer die Individuation des Menschen ist, desto mehr wird sie auf ein bestimmtes Beziehungssystem gerichtet sein. Man spricht daher von einer "bezogenen Individuation". Die bezogene Individuation ist daher ein Prinzip welches ansagt, daß ein höheres Niveau an Individuation auch ein jeweils höheres Niveau an Bezogenheit verlangt und ermöglicht.[55]

Mit der Fähigkeit der bezogenen Individuation wird es für den Menschen notwendig, sich selbst von anderen abzugrenzen, ihm muß die Selbstdifferenzierung gelingen. Er muß es verstehen, seine innere Welt mit außen ablaufenden Prozessen auseinanderzuhalten und davon zu trennen. Gefühle, Wahrnehmungen, Erwartungen und Ansichten müssen von den Ansprüchen der Außenwelt, wie Ideen, Ansprüche und Bedürfnisse der anderen, getrennt werden können. Als Beispiel einer gestörten bezogenen Individuation können schizophrene Patienten aufgezeigt werden. Ihre Selbstdifferenzierung ist gestört, was an den verschiedenen Formen von Halluzinationen zu sehen ist. Sie nehmen in ihren Sinnestäuschungen Reize, die von innen kommen, als äußere, reale Vorkommnisse wahr.

Auch im Bereich einer "gesunden" Familie kann ein Mangel an bezogener Individuation zu beträchtlichen Problemen führen. Familienmitglieder sind unfähig, Gefühle zu verbalisieren, Bedürfnisse zu äußern, Ideen von denen anderer abzugrenzen, weshalb Schwierigkeiten entstehen, Konflikte normal auszutragen.

Das System Individuum kann immer nur in Abgrenzung von und daher in Beziehung zu seiner Umwelt stehen. Diese Widersprüchlichkeit läßt sich mittels der Bezeichnungen Individuation mit den Eltern oder Individuation von den Eltern verständlich machen. Helm Stierlin versteht unter Individuation mit den Eltern die Versuche des Kindes, sich in Form der Beziehung zu seinen Eltern an sie zu binden, da das Kind von seinen Eltern und deren Liebe abhängig ist. Es bestimmt daher mitunter der Zwang zur Kooperation die Individuation mit den Eltern. Andererseits wird die Beziehung zwischen Eltern und Kind auch durch eine Abgrenzung des Kindes und einen Wunsch nach Selbstbehauptung bestimmt. Hierbei ist die Individuation von den Eltern gemeint. Dem Kind stellt sich nun die schwierige Aufgabe diese widersprüchlichen Tendenzen in Einklang zu bringen, was durch Einstellungen, Erwartungen und Verhaltensweisen der Eltern weitgehend mitbestimmt wird.

Identität als lebenslanger Entwicklungsprozeß

Jedes Verhalten eines Kindes benötigt für eine optimale Entwicklung eine Phase des Erprobens, Spielens und Auskundschaftens von Variationsmöglichkeiten. Das Kind wählt bei diesem Prozeß unbewußt die der eigenen Individualität am besten entsprechende Verhaltensvariable aus, wodurch es ihm gelingt, Identität auszudrücken.

Durch solche Prozesse werden spätere Handlungen beeinflußt, sie sind nichts Beliebiges, allein von der Umwelt Veranlaßtes, sondern sie haben einen bedeutenden Aspekt von Identität. Voraus setzung für eine solche Entwicklung ist Schutz und Geborgenheit im Umfeld, in dem ein Kind heranwächst, aber auch das Gelingen von Prozessen der "bezogenen Individuation". Wie ich im vorigen Kapitel bereits angeführt habe, kommt es hauptsächlich darauf an, daß sich das Kind sowohl mit den Eltern als auch von ihnen individualisieren kann und diese beiden widersprüchlichen Strebungen irgendwie vereint werden können. Mit solchen Entwicklungsvoraussetzungen kann dieser Prozeß des Erprobens von Verhaltensweisen, der in der Pränatalzeit beginnt und während des gesamten Lebens anhält, problemlos ablaufen.[56]

Da Identität als lebenslanger, dynamischer Prozeß verstanden wird, wird die Frage nach einem Konzept, welches diese Entwicklung des Menschen darzustellen vermag. aufgeworfen. Aus dem Kontext einer systemischen Betrachtung wird auch leicht ersichtlich, daß die traditionellen Phasenmodelle der Entwicklung nur einen kleinen Ausschnitt erfassen und für den komplexen Entwicklungsprozeß eines Individuums unzulänglich sind. Der Grund Dafür liegt in ihrer Orientierung an einer geradlinigen Entwicklung, die zu immer mehr Vollkommenheit führt.

Ein sinnvolles Verständnis von Identitätsfindung entwickelte Silbereisen in seinem Konzept einer Psychologie der Lebensspanne. In den Mittelpunkt der Betrachtung wird bei diesem Modell die immer bedeutsamer werdende Wechselbeziehung zwischen Individuum und Umwelt gestellt. Die Entwicklung von Identität in diesem Sinne unterscheidet sich von herkömmlichen Phasenmodellen dadurch, daß diese Geradlinigkeit von Entwicklung gebrochen wird. Es gibt keine Entwicklung von unten nach oben, keine Unvollkommenheit am Anfang mit dem Ergebnis einer Vollkommenheit am Ende. Identität ist von Beginn an möglich, ihre Entwicklung verläuft quer zu den unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Besonders in Betracht gezogen wird die Frage nach dem "wie" anstelle alter Vorstellungen, die sich ständig mit der Frage "ob" sich etwas entwickelt hat, auseinandersetzen.[57]

Welchem Element von Entwicklung kommt aber nun die größte Bedeutung zu? Nicht, wie üblich dem mühsamen und verzichtreichen Lernen, sondern dem Spiel und Auskundschaften kommt einen großen Stellenwert für die Entwicklung eines Kindes und dessen Identitätssuche zu. [58]

Eine zusätzlich sehr wichtige Komponente für die Entwicklung eines Menschen ist die Auseinandersetzung mit dem Umfeld des sich entwickelnden Kindes. In jedem Fall setzt die Entwicklung von Identität Kontakte, Interaktionen, also einen Dialog voraus. Aus dieser Wechselwirkung von Handeln und Reagieren entstehen wesentliche Verhaltens- und Entwicklungsmuster, wie Einheit und Nähe, Trennung und Distanz; Initiative oder Sich Fallenlassen. Dieses dabei gelernte Geschehen- lassen setzt Vertrauen in eine bergende und schützende Umwelt voraus. (Prinzip des Dialogs, Milani Comparetti, 1982) Dies wird besonders eindeutig in folgendem Zitat von Tardos dargestellt.[59]

"Der Säugling benötigt eine Sicherheit bietende Beziehung, die ihm die Empfindung der Geborgenheit und Wärme vermittelt. Nur in dem daraus resultierenden emotionalen Zustand der Sicherheit und des Wohlbehagens hat er Lust und ist er fähig, selbständig zu handeln und zu lernen, d.h. etwas neues auszuprobieren, es zu riskieren. Für die Charakterisierung der Untrennbarkeit der Autonomie des Kindes und der Mutter- Kind- Beziehung ist es jedoch nicht genug zu sagen, daß die Entfaltung der Autonomie eine zusätzliche vorteilhafte Möglichkeit zu lernen für das Kind ist, die aus seiner guten Beziehung zum Erwachsenen entsteht. Wenn der Erwachsene nämlich die Bedeutung der aus eigener Initiative selbständig ausgeführter Tätigkeit erkennt und akzeptiert, beeinflußt das auch tiefgreifend und grundlegend die Beziehung zwischen dem Säugling und seinen Eltern." (Tardos 1990)

Entwicklung vollzieht sich folglich nicht so, daß biologische Faktoren auf der einen und soziale Faktoren auf der anderen Seite jeweils für sich wirken, im Sinne einer statischen Interaktion. Statt dessen liegt eine dynamische Interaktion vor, nach der sich sowohl die biologischen als auch die sozialen Voraussetzungen im Entwicklungsprozeß ändern können. Diese wechselseitige Einflußnahme der Wirkfaktoren beschreibt Milani Comparetti sehr gut in seinem oben angeführten Modell des Dialogs. Er beschreibt Entwicklung als einen Dialog, in dem sich Vorschlag und Gegenvorschlag gegenüber stehen und den Entwicklungsprozeß beeinflussen. Nach diesem Verständnis wird das Kind nicht einfach als Objekt gesehen, auf welches das betreffende Umfeld einseitig einwirkt, sondern es wird von Geburt an als aktiver Partner betrachtet. Dieses Verständnis kann sich, meiner Meinung nach, nur gut auf die Entwicklung eines jungen Menschen auswirken.[60]

Dieses Spiel mit den eigenen Verhaltensmöglichkeiten, dieses Erproben und Auskundschaften der eigenen Ressourcen ist nur in einem sicheren, gefahrlosen Kontext möglich.

Dieses Konzept des Spiels als wichtigen Prozeß zur Identitätsfindung vollzieht sich nicht nur im Säuglingsalter. Besonders im Kleinkindalter, wenn das Kind versucht, seinen Willen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt durchzusetzen, kommt diesem Prozeß eine große Bedeutung zu. Ein weiterer Höhepunkt dieses Spiels des "Auskundschaftens" tritt auch während der Pubertät als eine Art Erproben von Abgrenzung und verstärkte Suche nach Identität, auf. Besonders die Wahl der Kleidung, des Berufes, der Partnerschaft, Einrichtung des eigenen Zimmers oder die Identifikation mit Idolen gehören hier zum Spiel mit der Identität. Auch im Erwachsenenalter wird dieses Auskundschaften der eigenen Schwerpunkte fortgesetzt.

Weiters muß festgehalten werden, daß paradoxerweise Identität nur durch die Auseinandersetzung mit dem Nicht- Identischen wahrnehmbar ist. Wesentlicher Antrieb für eine optimale Entwicklung ist die Spannung und Neugierde, die die Suche nach Neuem, Unbekanntem fortsetzt und lenkt.[61]

Diese Sichtweise würde lebenslange Beweglichkeit zur Folge haben. Eine solche Vorstellung ist aber nicht Realität, da sich Entwicklung immer auch in Abhängigkeit von politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen vollzieht. Dadurch kann diese Beweglichkeit stark eingeschränkt werden. Zudem können auch persönliche Bindungen und Konflikte Ursachen für Blockierungen und Hemmungen der Entwicklung sein.[62]

Dieses, von Milani Comparetti geprägte Entwicklungskonzept hat auch Konsequenzen für die Förderdiagnostik von verhaltensauffälligen Kindern. Läßt man dem Kind die Chance, einen eigenen, aktiven Beitrag zur Förderung seiner Entwicklung zu leisten, so besteht immer die Möglichkeit zu einer dialogischen Entwicklung. Auch in noch so aussichtslosen und schwierigen Fällen von Entwicklungsstörungen vollzieht sich Entwicklung, zwar in Mini- Schritten, was von den Erwachsenen mit viel Geduld toleriert und gefördert werden muß. Denn wo das jeweilige Tempo eines Kindes akzeptiert wird, passiert bei jedem, als noch so problematisch eingestuften Kind irgendeine Form von Entwicklung. Um diese Aussage zu verstärken, möchte ich das sehr eindrucksvolle Beispiel von Monika Aly zitieren.[63]

"Kinder, die eine Verzögerung in ihrer Entwicklung haben, brauchen in erster Linie Zeit und Ruhe, um überhaupt eigene Interessen für die Umwelt zu entwickeln... Der Therapeut macht Vorschläge, das Kind nimmt sie vielleicht an, modifiziert sie und stellt neue Fragen. Dadurch entsteht ein Dialog mit einem offenen Ende, der sich - wie wir von Milani Comparetti wissen - spiralenförmig nach oben entwickelt, mit immer wieder neuen Verbindungen und Übergängen." (Monika Aly 1988)

Es tritt also an die Stelle von bewertenden Tests die dialogische Auseinandersetzung mit dem störenden Kind und seinen Problemen. Deshalb sind Lösungen vorgegebener Tests unzureichend geworden. Dieses bloße Reagieren in einer künstlichen Testsituation kann zur Folge haben, daß ein Kind, angepaßt an die Wünsche seiner Umgebung, nur mehr funktioniert, wodurch sein wahres "Selbst", seine Identität verborgen und ohne Entwicklungschancen bleibt. Für die Beurteilung von kindlicher Entwicklung wird also weniger entscheidend, wie sich das Kind in einer entsprechenden standardisierten Situation verhält, sondern wie es in ganz verschiedenen Situationen seine Verhaltensmöglichkeiten ausprobiert und verändert.[64]

Zusätzlich zu diesem dialogischen Verständnis von Entwicklung muß immer berücksichtigt werden, daß sich ein Kind nur innerhalb eines geschützten Rahmens, in dem es echte Geborgenheit erfährt, entwickeln kann. Als Grundlage für diese wesentliche Entwicklungsbasis wird der Aspekt der Beziehung in den Vordergrund gestellt.

Eine wesentliche Konsequenz für die Förderung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten ist, daß Eltern und auch die verschiedenen helfenden Professionen von ihren unbewußten und auch bewußten Erwartungen an das Kind absehen und endlich das Konzept des "phantasmatischen" Kind aufgeben. Entscheidend dafür ist die Bereitschaft, eigene Bewertungen nur als eine von mehreren Möglichkeiten zu sehen und daneben auch die Varianten des Kindes, der Eltern und anderen evt. Helfern als Entwicklungsvorschläge zu respektieren.



[37] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.38

[38] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.38/39

[39] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.18

[40] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.18/19

[41] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.22

[42] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.25

[43] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.25

[44] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.26

[45] R. Voß; Helfen aber nicht auf Rezept; 1991; S.114

[46] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.63

[47] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.65/66

[48] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.67

[49] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.11/12

[50] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.15

[51] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.17

[52] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.19

[53] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.63

[54] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.63

[55] H. Stierlin, I. Rücker-Emden, N. Wetzel, M. Wirsching; Das erste Familiengespräch; 1977; S.24

[56] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.82

[57] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.85

[58] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.85

[59] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.86

[60] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.135

[61] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.87

[62] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.88

[63] R. Voß; H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.135/ 136

[64] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.90

Kindbeobachtung: Marcus

Um die nun ausführlich dargestellten Möglichkeiten der Entwicklungsförderung besser nachvollziehen zu können, möchte ich einen Praxisbezug durch eine selbst ausgeführte Kindbeobachtung herleiten und anschließend noch auf Systemisches Arbeiten, speziell im Kindergartenbereich genauer eingehen.

Da ich selbst aus dem Berufsfeld Kindergarten komme, möchte ich ausführlich über die Kindbeobachtung eines sogenannten "verhaltensgestörten", sehr aggressiven Kindes berichten, um etwas Praxisnähe einfließen zu lassen.

Ich beobachtete den damals vierjährigen Jungen, ich nenne ihn Marcus, über sein gesamtes erstes Kindergartenjahr und machte dazu Aufzeichnungen. Marcus stammt aus einer gut situierten Familie, ist Einzelkind und kam im Alter von knapp vier Jahren in meine Kindergartengruppe.

Ich möchte diese Kindbeobachtung in drei Bereiche unterteilen. Zuerst werde ich über die familiäre Situation und über sein näheres Umfeld, soweit ich es kennenlernen durfte, berichten. Zweitens möchte ich über die verschiedenen Entwicklungen des Jungen während des gesamten Jahres innerhalb der Kindergruppe erzählen. Während seiner Entwicklung in diesem Jahr stellte ich drei Phasen fest, in denen sich sein Verhalten sehr stark veränderte. Drittens werde ich darüber berichten, inwieweit Kooperation und Zusammenarbeit mit den Eltern des Kindes möglich waren. Abschließend möchte ich auf Möglichkeiten eines systemischen Vorgehens als Hilfestellung für Marcus und seine Eltern zu sprechen kommen und mögliche Anregungen geben.

System und Umfeld des Kindes

Marcus' Familie ist eine typische moderne Kleinfamilie bestehend aus Mutter, Vater und einem Kind. Der Junge hält sich hauptsächlich in diesem kleinen System auf, eine relativ wichtige Rolle in seinem Leben spielt auch seine Großmutter väterlicherseits, eine resolute, moderne, ehrgeizige, aber sehr konservative Dame. Die Atmosphäre, die zwischen den Familienmitgliedern herrscht, würde ich als kühl und gefühllos bezeichnen. Austausch von liebevollen Gesten und Zärtlichkeit oder Raum für Vertrauen sowie Geborgenheit konnte ich nie erkennen. Der Junge lebt in einem System von Erwachsenen für Erwachsene, hat sehr wenig Kontakt zu Gleichaltrigen und wird als kleiner Erwachsener behandelt. Um seine Kindheit wird er bestohlen. Ausgleich dafür schafft die Familie mit vielerlei Beschäftigungen, bei deren Ausübung Marcus am Tisch sitzen muß, um wenig Belastung für seine Eltern darzustellen. Deshalb sind seine besonderen Fähigkeiten Basteln, Schneiden, Zeichnen etc.

Im Laufe des Kindergartenjahres konnte ich immer mehr Einblick in die Familie von Marcus gewinnen, und ich erstellte mir ein Bild über sein System und seine Subsysteme. Marcus' Mutter lernte ich als schüchterne, verunsicherte, eher unauffällige Frau kennen, die sehr interessiert ist am Vorgehen im Kindergarten und an der Entwicklung ihres Sohnes. Sie ist die einzige represente Kontaktstelle zu Marcus' Familiensystem, während der Vater nur sehr selten im Kindergartenbereich gesehen werden konnte. Er ist sehr reserviert, unnahbar und still, spricht nur die notwendigsten Worte und hat überhaupt keinen liebevollen Kontakt zu seinem Sohn.

Die Großmutter ist sehr resolut, befehlerisch im Umgang mit Marcus und ist immer äußerst bedacht auf ihr gutes Image. Sie zeigte keinerlei Geduld für den kleinen Jungen und machte den Eindruck einer überehrgeizigen, sehr autoritären Bezugsperson.

Es erscheint mir sehr wichtig zu betonen, daß dies meine Erfahrungen mit dieser Familie sind, und keine leichtfertig aufgestellten Vermutungen. Mir gelang es während dieses Kindergartenjahres, ein sehr aktives und positives Verhältnis mit Marcus und seinem Umfeld herzustellen, weshalb ich die Gelegenheit hatte, einen größeren Einblick als gewöhnlich in die Familiensituation eines der mir anvertrauten Kinder zu gewinnen. So besuchte ich Marcus sogar einmal zu Hause und unternahm gelegentlich auch Freizeitbeschäftigungen mit Marcus und seiner Mutter. Daher getraue ich mich, ein so bestimmtes Bild seiner Familie aufzustellen. Für die systemische Betrachtung der kindlichen Verhaltensauffälligkeit erscheint es mir wichtig, diese Komponente in den Vordergrund zu rücken und nicht nur den kleinen "Störenfried" und seine Probleme zu diskutieren.

Die Entwicklung des Kindes in der Kindergruppe

Kindergarteneintritt (Gewöhnungsphase)

Am ersten Kindergartentag betrat Marcus etwas zurückhaltend, aber interessiert seine neue Umgebung, den Gruppenraum des Kindergartens. Die Trennung von seiner Mutter fiel ihm gar nicht schwer, allerdings distanzierte er sich von den anderen Kindern und beschäftigte sich allein damit, seine neue Umgebung auszukundschaften. Sehr bald zeigte sich, daß der Junge völlig auf Erwachsene fixiert ist, da er nur auf uns Kindergärtnerinnen zuging.

In der ersten Woche wurde ich immer mehr zu seiner wichtigsten Bezugsperson innerhalb der Institution Kindergarten. Es ergab sich die Routine, daß Marcus den Gruppenraum betrat, sich flüchtig umsah, bis er mich entdeckte, und dann auf schnellstem Weg zu mir lief, um sich auf meinen Schoß zu kauern. In dieser Position fühlte er sich wohl und war zufrieden. Da ich aber für ca. 28 Kinder verantwortlich war, ist diese Art der Betreuung von Marcus unmöglich. Dieses Verhalten eröffnete mir, daß der Junge mit der großen Kindergruppe völlig überfordert war.

Innerhalb der ersten Wochen und Monate stellte sich dann heraus, daß ich mit meiner Vermutung recht hatte. Marcus konnte sich nicht mit Gleichaltrigen beschäftigen, ihm wurde beigebracht, sich nur mit Erwachsenen oder sich selbst auseinanderzusetzen. Somit war er am liebsten um mich herum, und hatte ich keine Zeit für ihn, war er enttäuscht und verärgert. Marcus' Sozialverhalten entsprach nicht dem der anderen Kindergartenkinder. Er konnte sich besser als alle anderen stundenlang mit höchster Konzentration allein mit einer Aufgabe beschäftigen, was mich äußerst faszinierte. Im Umgang mit Erwachsenen benahm er sich distanzlos und wollte bestimmte Personen völlig für sich vereinnahmen. Der Junge konnte sich mitten in der Stadt an den Arm einer ihm wildfremden Person hängen, diese plötzlich hemmungslos zwicken oder schlagen und dann wieder loslassen. Für die Mutter des Jungen, die mir davon berichtete, eine äußerst belastende Situation, mit der sie nicht umzugehen wußte.

Diese Distanzlosigkeit Marcus' bezeichne ich als seine verzweifelte Suche nach Geborgenheit und Zärtlichkeit, die ihm scheinbar so fehlte, daß er in seiner stummen Verzweiflung in solcher Hemmungslosigkeit fremde Menschen belästigte. Aus demselben Grund wollte er auch mich für sich alleine haben und war stets von neuem enttäuscht, wenn ich mich von ihm abwendete, um mich anderen Kindern zuzuwenden.

Ein weiteres außergewöhnliches Verhalten bemerkte ich während dieser Phase des Jungen. Gegen Ende der Freispielzeit (ca. von 8.00.- 9.30.) begann der Junge aus irgendeiner Verzweiflung heraus zu weinen. Es gelang weder mir noch den anderen Kindergärtnerinnen, ihn zu besänftigen und beruhigen. Erst nach ein paar Minuten lauten Schluchzens, welches ohne erkennbaren Grund begonnen hatte, schlief er übergangslos und völlig erschöpft auf meinem Arm ein. Ich legte ihn dann im Puppenbereich auf das Bett und ließ ihn dort ausruhen. Dieses Verhalten zeigte sich zu Beginn des Kindergartenjahres fast jeden Tag, und es ist ein erneuter Beweis dafür, daß Marcus in seiner sozialen Kompetenz von der großen Kindergruppe völlig überfordert war.

Anfang Januar bis Ende April

Nach den zweiwöchigen Weihnachtsferien erlebte ich einen völligen Wandel des Jungen, von dessen Ursache ich vorerst nichts ahnen konnte. Nach weiteren Enttäuschungen, daß ich nicht nur für Marcus da sein konnte, begann er meine Aufmerksamkeit durch negatives Auffallen zu erzwingen. Er belästigte und ärgerte andere Kinder, zerstörte deren Spiel, indem er sie auslachte, ihnen die Spiele wegnahm oder vom Tisch warf. Durch die Tränen, die er dadurch bei anderen Kindern auslöste, war ich gezwungen, auf ihn zu reagieren. Wurde er von mir ermahnt, bekam er Wutausbrüche oder lief über die Tische, um sich von dieser Höhe übermütig an meinen Hals zu hängen. Marcus war vollkommen verändert. Er entwickelte sich vom unauffälligen, ängstlichen und sehr anhänglichen Kind zum aggressiven, völlig überdrehten "Störenfried", den die anderen Kinder fürchteten.

Dieser Wandel verunsicherte mich, doch ich wollte nicht gleich irgendwelche voreiligen Interventionen ergreifen. Daher wartete ich dieses Geschehen erst einmal ein paar Tage ab und begegnete ihm statt dessen einfühlsam und verständnisvoll. Marcus beruhigte sich allerdings auch nach zwei Wochen nicht, sein Verhalten wurde noch auffälliger. Ich mußte nun, schon allein wegen dem Wohl der anderen Kinder, die so in ihrem Spiel gestört wurden, reagieren. Marcus' verbale Aggressionen verwandelten sich nun zunehmend auch in körperliche Aggression, besonders mir, aber auch den anderen Kindern gegenüber. Besonders in Gruppenbeschäftigungen während der Konzentrationsphase begann er durch alle möglichen Verhaltensweisen aufzufallen, indem er beispielsweise aufsprang, um die gemeinsam erstellten Werke der Kinder zu zertrampeln oder Kinder zu zwicken, schlagen, beißen oder an den Haaren zu ziehen. Es verschlimmerte sich soweit, daß Marcus zeitweise aus der Gruppe genommen werden mußte und eine Erzieherin sich ihm allein, in Form einer Einzelbeschäftigung, zuwenden mußte. In solchen Situationen beruhigte er sich dann sofort wieder und war das zufriedenste und umgänglichste Kind. Er wollte also sichtlich mit "aller Gewalt" erreichen, daß eine Person für ihn allein Zeit hat, um damit der großen Gruppe, die ihn scheinbar so aus der Bahn wirft, zu entfliehen. Zudem mußten irgendwelche Probleme , von denen ich bislang keine Ahnung hatte, den Kleinen quälen.

Durch diese schwerwiegenden Veränderungen in Marcus' Verhalten war ich dazu gezwungen, einen Termin mit den Eltern des Jungen zu vereinbaren, um herauszufinden, welche Bedingungen in Marcus' Familiensystem diesen Wandel mitbeeinflußt haben könnten.

Es kamen natürlich nicht Marcus' Eltern, sondern nur seine Mutter. Ich berichtete von Marcus' Entwicklungen und wollte mich bei ihr umhören, wie es ihr derzeit mit ihrem Sohn erging und ob es irgendwelche Veränderungen in Marcus' Leben gäbe, die seine Sorgen eventuell erzeugt haben könnten.

Nach einer Weile brach die Mutter mit einer sehr seltsamen Begebenheit heraus, die sich an Weihnachten zwischen ihrem Mann und Marcus abgespielt hatte. Die Familie lebt in einer kleinen Wohnung. Das Wohnzimmer stellt zugleich Marcus' Spielzimmer dar, wo er sich tagsüber gewöhnlich aufhält. Der Vater, ein vielbeschäftigter Mediziner, der, bedingt durch seinen Beruf, nur sehr wenig Zeit mit seinem Sohn verbringen kann, sperrte sich von seinem Jungen weg in dessen Spielzimmer ein, um dort ungestört fernsehen und Zeitung lesen zu können. Somit war Marcus nicht nur gezwungenermaßen von seinem Vater getrennt, sondern zudem von seinem gewohnten Spiel- und Beschäftigungsbereich. Möglicherweise hatte diese Begebenheit Einfluß auf Marcus' plötzlichen Wandel. Vielleicht wollte er mit diesem Hilfeschrei signalisieren, daß er sich mehr Zuwendung von seiner Familie erhoffte. Meiner Meinung nach kompensierte der Junge das Defizit an Zuwendung und Achtung von seinem Vater mit dem Versuch, in der Kindergruppe auf negative Weise aufzufallen. Was mir während des gesamten Jahres immer erneut auffiel, war Marcus' sehnlichster Wunsch, in irgendeiner Weise aufzufallen, um besonders wahrgenommen zu werden. In seiner Unsicherheit wählte er dann den einfachen Weg, sich aggressiv gegen andere zu verhalten. Die meiste Aggression bekam ich ab, was mich erneut hellhörig machte. Erstens bin ich im Kindergarten seine wichtigste Bezugsperson, von der er nun ähnlich wie von seinem Vater verlassen werden könnte. Zudem bin ich erwachsen, und seine Ängste und Probleme entstanden im Zusammenleben mit seinem System, das aus Erwachsenen besteht.

Ganz besonders war sein Verhalten, wenn ich ihn bestrafen mußte. Es kann nicht ignoriert werden, wenn ein Kind ein anderes so lange würgt, bis dieses nur noch röchelt und beinahe blau anläuft. Zum Schutz der anderen Kinder mußte ich intervenieren und den Jungen zuerst aus der betreffenden Situation herausholen und zurechtweisen. Sobald mein Ton ein strenger, strafender wurde, verwandelte sich Marcus, eben noch ein tobendes und umsichschlagendes Kind, in einen ängstlich und traurig wirkenden, zahmen Jungen, der in große Panik geraten war aus Angst, meine Zuneigung zu verlieren. Aus seinen weinerlichen Aussprüchen, wie z.B: "Tante, du hast mich jetzt schon noch lieb, gell?" oder "Tante, bitte halt mich ganz fest und hab mich wieder ganz lieb!" erkannte ich schnell seine Befürchtungen. Wenn ich autoritär eingreifen mußte, befürchtete er, daß er nun zum zweiten Mal von einer ihm wichtig gewordenen erwachsenen Bezugsperson enttäuscht und im Stich gelassen werde, so wie er es an Weihnachten deutlich von seinem Vater erfahren mußte.

Ein weiteres seltsames Verhalten, das Marcus in dieser Zeit entwickelte, ergab sich eines Tages während dem Übergang, als ich die Kinder einzeln vom Gruppenraum in die Garderobe schickte, um ihre Hände zu waschen und die Jause hereinzuholen. Die Kinder durften als kleine Stilleübung am Boden liegen, bis eines sie durch eine leichte Berührung "aufweckte" und somit hinausschickte. Als Marcus durch eines der Kinder berührt wurde, blieb er regungslos am Boden liegen mit fest geschlossenen Augen. Er stellte sich schlafend, ich vermute, er wollte uns sogar erschrecken und sich tot stellen, wodurch er die volle Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe erreichte. Diese starke, nach innen gerichtete Aggression, die meiner Meinung nach dieses Sich tot Stellen des Kindes ausdrückt, zeigte sich auch in allen seinen Kinderzeichnungen, die für mich äußerst aggressive Akzente aufwiesen. Darauf komme ich später aber noch genauer zu sprechen. Nachdem alle Versuche scheiterten, ihn aufzuwecken, begann ich mit der Gruppe zu jausnen und führte den üblichen Tagesablauf weiter. Marcus wurde von den Kindern liebevoll zugedeckt und auf seinem Platz in Ruhe gelassen. Als sich die Aufregung der Gruppe über Marcus seltsames Verhalten legte, wurde der Junge wieder lebendig, sprang hellwach und frech lachend auf, holte seine Jause und begann zu essen. Auf meine Fragen reagierte er nur schmunzelnd und wich ihnen geschickt aus.

Auch dieses Verhalten wiederholte sich gelegentlich und seine aggressiven Übergriffe wurden immer heftiger. In dieser sehr anstrengenden Phase des Jungen mußte stets eine Erzieherin den Jungen im Auge behalten, um rechtzeitig zum Schutz der anderen Kinder eingreifen zu können.

Mai bis Ende Juni

Da ich sehr guten Kontakt mit Marcus' Mutter pflegte, sie stets aufmunterte, und ihr mehr über Marcus Fähigkeiten, positive Entwicklungen und seine liebenswerte Art berichtete, anstatt nur seine Fehler zu beteuern, nahmen seine großen Probleme im Umgang mit der Kindergruppe wieder etwas ab, seine aggressiven Handlungen kamen etwas weniger als bisher vor.

Durch die gute Elternarbeit, in der ich nie die Eltern zum Sündenbock deklarierte, sondern ihnen stets Hoffnung zusprach und sie vorwiegend über erfreuliche Ereignisse informierte, konnte sich die so verunsicherte, total überforderte Mutter etwas entspannen, was vielleicht zu Hause für den Jungen eine angenehmere Atmosphäre schaffte. Marcus' Mutter pflegte sehr intensiven "Tür- und- Angel" Kontakt mit mir, wodurch sie oftmals Erleichterung in Bezug auf ihren kleinen "Störenfried" erfuhr.

Elternarbeit

Intuitiv ist es mir gelungen, mit Marcus' Problemen angemessen umzugehen und ihn nicht als "Problemkind" oder "Verhaltensgestörten" abzustempeln. Ich behielt während der gesamten Betreuung Achtung und Würde vor Marcus, betrachtete ihn als individuelle und einzigartige Persönlichkeit, als Kind mit sowohl tollen, einzigartigen Fähigkeiten und Werten als auch schwerwiegenden Problemen, mit denen ich ihn nicht im Stich gelassen habe. Sein Vertrauen zu mir und damit in den Kindergarten und vielleicht auch ein wenig in die Erwachsenenwelt nahm stetig zu, und gegen Ende seines ersten Kindergartenjahres mußte er nicht mehr so zwanghaft befürchten, von mir und anderen Erwachsenen verlassen zu werden, denn ich hatte ihm ein Jahr lang das Gegenteil bewiesen.

Zu Marcus' Mutter habe ich guten Zugang gefunden, aufgrund dessen es mir gelang, eine gute Vertrauensbasis aufzubauen, auf welcher nicht Marcus' Schwächen und Störungen, sondern in erster Linie seine Besonderheiten und auch seine Probleme und Sorgen erörtert wurden.

Marcus' Vater blieb leider während des gesamten Jahres im Hintergrund, es gelang mir nicht, zu ihm Zugang zu finden. Der Kontakt blieb unpersönlich und kühl. Äußerst selten kam er in den Kindergarten, um seinen Sohn abzuholen. Dann kam er mit hastigen Schritten, suchte mit einem scheuen Blick seinen Jungen, rief ihn zu sich und verschwand so lautlos, wie er gekommen war. Weder an Festen noch an Elternabenden nahm er teil, im Gegensatz zu Marcus' Mutter, die großes Engagement zeigte.

Anregungen für systemische Betrachtung und Interventionen im Fallbeispiel Marcus

Nach systemischem Verständnis ist es wichtig, nicht das sogenannte "Problemkind" in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken, sondern das gesamte Umfeld auf mögliche Probleme hin zu erforschen, durch die eventuell die Schwierigkeiten des Kindes ausgelöst worden sind. Deshalb habe ich mich intuitiv richtig verhalten, als ich der Mutter von Marcus die Stärken und Besonderheiten ihres Sohnes offerierte und dessen Problem nicht überbewertete. Dadurch gelang es mir, das steife und unbewegliche System etwas aufzulockern, wodurch ich auch das Vertrauen von Marcus' Mutter gewann. Damit war die Basis für offene Gespräche geschaffen, es ist allerdings bei diesem Austausch von Erfahrungen und Eröffnen neuer Möglichkeiten geblieben, da mir zu diesem Zeitpunkt die Information über ein systemisches Verständnis kindlicher Verhaltensauffälligkeit fehlte.

Meine wichtigste Anregung für den Umgang mit Marcus und seinen Problemen ist der Hinweis an sämtliche Erzieher, sich nicht als Experte auszugeben. Es soll darauf verzichtet werden, mit zu vielen "Ratschlägen" um sich zu werfen. Befände ich mich wieder in einer ähnlichen Lage, würde ich statt den vielen Tips zur Behandlung eines "verhaltensgestörten" Kindes nur anhand von intensivem Fragen und Anregen Denkanstöße geben. Dadurch kann es mir vielleicht gelingen, ein sehr eingeengtes und fixiertes System aufzulockern und beweglicher für Veränderungen zu machen. Kommt es schließlich zu Veränderungen im System, hat diese die Familie selbst geschaffen, und nicht irgendein Therapeut, Pädagoge oder Experte.

Ich möchte nun abschließend dazu ein Beispiel aus Marcus' Leben nennen und damit verdeutlichen, wie und welche Anregungen ein System möglicherweise modifizieren können.

Der Abschied zwischen Marcus und mir war immer ein seltsames Ritual, das möglicherweise die Mutter verletzen hätte können. Marcus konnte sich nämlich nur schwer von mir trennen und hielt sich im Garten ständig in meiner Nähe auf. Eigentlich wollte er stets von mir getragen und im Arm gehalten werden, bis seine Mutter ihn abholte. Daher war diese oft mit der Situation konfrontiert, daß ihr Sohn sehr an mir hing, und ihm die Trennung von mir schwer fiel.

Wäre es mir damals gelungen, beiläufig dieses Thema, in dem Moment als es auftrat, anzusprechen, hätte die Mutter die Gelegenheit gehabt, mir ihre Gefühle diesbezüglich anzuvertrauen. Dadurch wäre es mir vielleicht gelungen, sie dazu anzuregen, darüber nachzudenken, wieviel körperlicher Kontakt zwischen ihr und ihrem Sohn oder in ihrem gesamten Familiensystem zugelassen wurde und wie intensiv er stattfand. Vielleicht wäre sie selbst auf die Gedanken gekommen, daß ihr System nicht viel körperliche Wärme zuläßt und dies möglicherweise ein Grund für Marcus' seltsames Verhalten darstellt. Eventuell hätte sie dieses Thema sogar mit ihrem Mann angesprochen, wodurch ihr eingeengtes System hätte verändert werden können.

Während des gesamten Kindergartenjahres fielen mir Marcus' Kinderzeichnungen und insbesondere seine Bastelarbeiten auf. Seine Motive waren stets Teufel, Bestien oder irgendwelche übermächtige, bösartige Monster, welche er vorzüglich in dunklen Farben zeichnete. Die Farbe "schwarz" könnte zu seiner Lieblingsfarbe erklärt werden, denn es entstand kein einziges buntes oder nur annähernd helles Bild. Wenn er mir dann voller Stolz seine Kunstwerke zeigte, funkelten seine Augen stets vor Stolz und Freude. Besonders wenn er mir die Inhalte seiner Bilder erklärte, die immer äußerst aggressiv dargestellt waren, steigerte sich Marcus so in seine Erzählungen hinein, daß es mir so vorkam, als ob er in eine andere, von ihm erfundene Welt flüchtete, in der er das Böse beherrschen könnte.

Ein besonders deutliches Beispiel war seine selbsterfundene geplante und erbaute Foltermaschine, mit der sich folgendes abspielte. Marcus kam, sichtlich stolz und zufrieden auf mich zu und bat mich, meinen Finger in eine Öffnung, des von ihm gebauten Kunstwerkes zu legen. Als ich seine Aufforderung befolgte, ließ er einen Stab aus Karton fest auf meinen Finger herunterfallen, der ihn mir einklemmen sollte. Als ich erschrak, erklärte er mir lachend, dies sei seine Foltermaschine, damit könne er anderen Menschen weh tun. Bei solchen und ähnlichen Vorkommnissen wirkte Marcus immer äußerst zufrieden und fröhlich, als ob er darüber glücklich wäre, andere Menschen verletzen zu können.

Diese Ereignisse ließ ich fälschlicherweise völlig außer Betracht. Wenn ich mit ihm über seine Bilder und Kunstwerke sprach, verdeutlichte ich ihm zwar, daß ich traurig darüber war, wenn er mich ohne Grund verletzte. Ich fragte ihn auch nach einer Begründung für seine negativ dargestellten Figuren und Monster. Bei diesem Gespräch verschloß er sich, ähnlich wie bei dem Ereignis, als er sich im Gruppenraum vor allen Kindern tot stellte, auf seltsame Art. Er lächelte verlegen, zuckte mit den Schultern und versuchte mich von diesem Thema abzulenken. Ich fand also keinerlei Zugang zu diesen seltsamen Gefühlen des Jungen, die er in Form seiner Kinderzeichnungen zum Ausdruck brachte.

Die Möglichkeit über die Eltern Zugang zu Marcus und seinen Problemen zu finden, kam mir nicht in den Sinn, aber gerade dadurch hätte es mir gelingen können, sein System etwas zu öffnen und modifizieren. Es wäre besonders wichtig gewesen, Marcus' Eltern auf bestimmte Kinderzeichnungen ihres Sohnes anzusprechen und ihnen Anregungen zu geben, sich gemeinsam Gedanken darüber zu machen. Vielleicht wäre es uns zu dritt besser gelungen, Einsicht in Marcus' eigenes, kleines System zu gewinnen, was ihm vielleicht mehr Vertrauen in die Erwachsenenwelt gewinnen lassen hätte.

Vielleicht wäre die gesamte Entwicklung von Marcus in diesem Kindergartenjahr völlig anders verlaufen, wenn ich solche und andere Anregungen in die Gespräche zwischen Marcus' Mutter und mir einfließen hätte lassen.

Durch diese Kindbeobachtung unter dem Aspekt einer systemischen Betrachtung von kindlichen "Verhaltensauffälligkeiten" wurde mein Blickwinkel, der durch meine Ausbildung für Kindergartenpädagogik sehr eingeengt war, sehr erweitert. Ich betrachte nun die Probleme eines Kindes nicht mehr nur aus der Warte des Kindes selbst, sondern in Einbezug seines gesamten Systems. Somit ist der Umgang mit einem Kind, welches Probleme und Schwierigkeiten in seinem Verhalten aufzeigt, kein eindimensionaler, sondern ein sehr vielschichtiger, holistischer Prozeß.

Systemisches Arbeiten im Berufsfeld Kindergarten

Um nun einen direkten Praxisbezug herzuleiten, möchte ich Möglichkeiten anführen, wie der Umgang mit der kindlichen Verhaltensauffälligkeit nach dem systemischen Ansatz im Kindergarten erfolgen kann. Die meisten Theorien auffälligen kindlichen Verhaltens legen ihr Hauptaugenmerk auf das Individuum, in unserem Falle auf den "Störenfried" im Kindergarten. Es werden die Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes auf biologische, entwicklungsgeschichtliche oder erlernte Mechanismen zurückgeführt, die durch bestimmte Verhaltensänderungen neue Verhaltensmuster auslösen können.

Auch bei den sehr bekannten Theorierichtungen der Tiefenpsychologie, Humanistischen Theorie oder der Verhaltenstheorie wird die Einzelperson mit ihrer Störung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gestellt. Den Interaktionen, Kommunikationsstrategien und anderen wichtigen Prozessen des Kindes innerhalb seines Gesamtsystems wird keinerlei Beachtung geschenkt. Diese Sichtweise von kindlicher Verhaltensauffälligkeit benötigt ein Umdenken, welches vielseitige neue Methoden und vor allem ein neues Verständnis kindlichen Verhaltens eröffnet.

Im folgenden Kapitel beziehe ich mich auf den Artikel "Rat- und andere Schläge", veröffentlicht von Hans Scheidinger, in der Fachzeitschrift für Kindergartenpädagogik "Unsere Kinder", Ausgabe 5-1996.

Die Konstruktion von Störungen durch den Beobachter

Menschen sind es gewöhnt, daß sie in ihrem alltäglichen Leben, insbesondere in ihren Beziehungen mit der sie umgebenden Welt, tagtäglich mit Problemen konfrontiert werden, sei es nun das Zuspätkommen zur Arbeitsstelle oder das Kind, das einen Film ansehen möchte, den ein Elternteil für nicht altersgemäß erachtet etc. Wenn man nun genauer hinblickt, kann man eine Struktur erkennen, wie gewöhnlich Probleme erzeugt werden.

Ebene der Beschreibung: Es wird vom Beobachter eine Unterscheidung zur üblichen Situation getroffen. Eine Mutter erkennt zum Beispiel, daß ihr vierjähriger Sohn, der seit einer Woche den Kindergarten besucht, die letzte Nacht eingenässt hat, was zuvor nicht vorkam. Kommt sie zu der Ansicht, dieses Verhalten sei für ein Kind dieser Entwicklungsstufe nicht auffällig, wird sie nicht weiter beunruhigt sein und zur Bewertung "normal" gelangen.

Ebene der Bewertung: Gerät sie aber auf Grund ihrer Lebenserfahrungen, Einstellungen, Kenntnisse und Überzeugungen zur Auffassung, es handle sich um ein auffälliges Verhalten, kommt sie zur Bewertung "problematisch" und begibt sich auf die Suche nach erklärbaren Ursachen und Gründen. Findet sie verstehbare Erklärungen, z.B. daß der Junge am Abend zuvor viel getrunken hat, so wird sie nicht weiter darüber beunruhigt sein. Ist das Verhalten des Kindes für sie nicht erklärbar, sucht sie nach weiteren Gründen.

Ebene der Erklärung: Bei der Suche nach Erklärungen eines bestimmten Problems, kommt nun die Unterscheidung "physisch" oder "psychisch" in Betracht.

Ebene der Konsequenzen: Findet die Mutter bei ihrem Sprößling physische Ursachen, wie z.B. Schmerzen beim Harnlassen oder ähnliches, wird sie medizinische Konsequenzen in Erwägung ziehen. Ihr weiterer Weg führt zu einem Arzt, der medizinische Maßnahmen ergreifen wird. Sind allerdings psychische Ursachen vorfindlich, so gibt es wiederum zwei Möglichkeiten. Die Mutter muß nun entscheiden, ob die Handlung des Kindes als Ausdruck einer Absicht oder einer unbekannten psychischen Störung anzusehen ist. Im ersten Fall wird sie pädagogische, also erzieherische Konsequenzen treffen, erweist sich das Verhalten des Kindes als psychisches Problem, wird sie letztendlich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

Abbildung 4: Konstruktion einer Störung an Hand des Bettnässers

Es ist also eine Tatsache, daß eine Situation erst zum Problem wird, wenn ein Beobachter es in Sprache konstruiert. Das vorher genannte Problem könnte demnach von der Mutter unterschiedlich konstruiert werden, was von ihren Einstellungen, Erfahrungen, Erwartungen und Kenntnissen abhängig ist. Das Problem könnte allerdings auch von weiteren Personen dieses Systems unterschiedlich betrachtet werden, wie beispielsweise vom Jungen selbst. Er würde wahrscheinlich auf seinem Niveau auch zu der Ebene der Bewertung kommen und sein Verhalten deswegen als problematisch bezeichnen, weil es für ihn äußerst unangenehm ist, mit einem nassen Pyjama aufzuwachen. Höchstwahrscheinlich gelänge es einem Vierjährigen jedoch nicht, Erklärungsmodelle für sein Verhalten anzubieten.

Was ich bis jetzt verdeutlichen konnte, ist die Erkenntnis, daß verschiedene Personen eines Gesamtsystems zu differierenden Wirklichkeitskonstruktionen gelangen können, beeinflußt durch ihre verschiedenen Erfahrungen und Voraussetzungen. Der Vater unseres kleinen Bettnässers, der eine eigene Bettnässerzeit, die im elften Lebensjahr ein plötzliches Ende fand, in Erinnerung hat, könnte vielleicht viel schneller zur Bewertung "normal" gelangen als die Mutter, deren Sauberkeitsentwicklung schon sehr frühzeitig abgeschlossen war. Die daraus resultierenden innerfamiliären Interaktionsmuster, die im weiteren als Problemsystem oder problemdeterminiertes System bezeichnet werden, beschreibe ich im folgenden genauer.

Problemdeterminierte Systeme statt Pathologie als Wirklichkeit

Wie aus den vorigen Kapiteln schon hervorgeht, wurden die ganzheitlichen Sichtweisen seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den verschiedenen Wissenschaften wieder aufgenommen, welche dann von wichtigen Vertretern wie Ludwig von Burtalanffy, Victor von Weizsäcker, Kurt Lewin und Jean Piaget als wesentliche Bausteine in der familientherapeutischen Therapierichtung Verwendung fanden. Daraus entstanden drei Hauptströmungen der Familientherapie: Das familienhistorische Modell, das Strukturprozeß- Modell und das Begegnungsmodell. In diesen Therapieansätzen entfernt man sich vom "problematischen Kind" und wendet sich der Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Verstehen sozialer Systeme zu.

Wenden wir uns nun wieder dem Beispiel mit dem einnässenden Jungen zu. Verschiedene Personen seiner Umgebung gelangen zu einer unterschiedlichen Bewertung des Problems, wodurch nun erneut ein Problem zwischen diesen Personen entsteht. Vater und Mutter haben demnach ein Problem miteinander. Es muß an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß hier nicht das Einnässen des Kindes das Problem ist, sondern dessen uneinige Eltern ein Problem haben. Es handelt sich daher auch nicht um ein Einnässerproblem, sondern um ein Elternproblem.

Diese bilden nun nach den Regeln ihrer Partnerbeziehung ein bestimmtes Kommunikationssystem, das durch wechselseitigen Austausch von Bewertungen und Begründungen des Kindesverhaltens gekennzeichnet ist. In dieser Phase werden oft Ratschläge von Bekannten, Erziehern etc. eingeholt, daher wird unter anderem auch die Kindergärtnerin in dieses Kommunikationssystem miteinbezogen, da sie die Rolle einer wichtigen Bezugsperson im Gesamtsystem des Kindes einnimmt.

Die Gefahr, die in diesem Eltern- Erzieherkontakt liegt, ist die Möglichkeit, das Elternproblem zu stabilisieren. Sobald die Kindergärtnerin nun zu diesen Thema Stellung bezieht, wird sie zur Mitspielerin in diesem Problem. Sie ist nun miteinbezogen in das Kommunikationssystem der Eltern, die unterschiedliche Bewertungen des Problems ihres Sohnes aufweisen, und dadurch miteinander einen Konflikt haben. Die Kindergärtnerin könnte nun, da sie durch ihre Ausbildung und Praxis viele Kenntnisse und Erfahrungen mitbringt, den Eltern Ratschläge erteilen. Dadurch könnte sie allerdings einen folgenschweren Schritt machen, denn ein Tip der Expertin lenkt das Problem der beiden Elternteile in eine bestimmte Richtung. Möglicherweise kann sie damit einen Elternteil und dessen Meinung stärken. Da die Erzieherin als fachlich qualifizierte Person betrachtet wird, wird ihre Aussage besonders hoch geschätzt, wodurch ein Elternteil die besseren Karten besitzt, um einen Bewertungsvorschlag durchzusetzen.

Damit haben sich die Eltern aber nur ein Stück Hilflosigkeit erworben. Deshalb sollte die Kindergärtnerin wohlgemeinte Ratschläge vermeiden, denn diese Tips können nicht nur helfen, ein Problem aus dem Weg zu schaffen, sondern können es auch stabilisieren. Viel sinnvoller wäre eine vorsichtige Erkundung der Problemkonstellation. Dann können auch Anregungen gegeben werden, neue Strategien zur Lösung des Problems auszuprobieren. Die Kindergärtnerin soll sich keinesfalls zurückziehen, sondern durch Fragen neue Perspektiven für die Gesprächspartner anregen. Dadurch können starre Kommunikationsmuster möglicherweise verändert werden, was den beiden Gesprächspartnern ermöglicht, ihr Problem aus völlig neuen Sichtweisen zu betrachten.

Kommunikationssystem Kindergarten

Wie ich vorher ausführlich demonstriert habe, führen Beschreibungen, Bewertungen und Erklärungen einer Situation zu bestimmten Handlungen. Diese Handlungen können in einem bestimmten Spielraum ausgeführt werden. Dieser Rahmen wird durch bestimmte Regeln eingeengt. Sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Familie oder eben im Kindergarten stecken diese Verhaltensregeln den gewährten Handlungsspielraum ab. Im Kindergarten müssen sich Kinder, Eltern, Erzieher, Helfer und Leiter nach diesen Regeln des Zusammenlebens richten. Sie legen den Rahmen ihrer möglichen Handlungen fest.

Solche Regelungen können im Laufe eines Kindergartenjahres immer wieder Veränderungen zulassen. Aufgaben die zu Beginn des Jahres wegen Unselbständigkeit der Kinder, von der Kindergärtnerin ausgeführt werden, übernehmen die Kinder mit der Zeit selbst. Von außen können solche Veränderungen als Regelveränderungen betrachtet werden.

In manchen Fällen, z.B. bei dem vorher genannten Einnässerkind, wird Unterstützung von den Eltern für gemeinsame Strategien gefordert. Kinder mit aggressiven Verhaltensweisen brauchen andere Grenzen und Handlungsspielräume als die anderen Kinder. Ziel wäre es, daß Kindergärtnerinnen gemeinsam mit den Eltern eines Problemkindes Lösungsvorschläge suchen. Die Kindergärtnerin sollte nicht als Expertin dieses Problem allein in die Hand nehmen, sondern auch auf die Kompetenz der Eltern vertrauen, auch wenn diese noch so perfekt Hilflosigkeit signalisieren.

Je geringer die Bevormundung dieser Gesprächspartner ist und je offener Fragen in den Raum gestellt werden, um so eher können Polarisierungen und Konfrontationen umgangen werden. Dieser Umgang mit Problemen und Verhaltensstörungen bei Kindergartenkindern läßt der individuellen Entwicklung genügend Platz. Durch diese Anregungen der Kindergärtnerin in Frageform können neue Ideen bei den Kommunikationspartnern auftauchen, die ihnen neue Lösungsmöglichkeiten anbieten. Auf diese Weise unterstützt die Kindergärtnerin, daß Kommunikationspartner eigenständig Lösungen für ihr Problem mit ihrem Kind entwickeln.

Daß sich diese systemische Auseinandersetzung mit dem verhaltensauffälligen Kind im Bereich der helfenden Professionen noch nicht so durchgesetzt hat, wird in folgendem Kapitel genauer dargestellt. Immer noch steht die Betrachtung und Behandlung des "verhaltensgestörten" Kindes anhand des medizinischen Modells im Vordergrund. Kinder, die in ihrer Lebenswelt nicht mehr allein zurechtkommen und dies in Form von Verhaltensproblemen darstellen, werden in diesem Zeitalter der "Psychemie" zunehmend medizinisch etikettiert und mit Psychopharmaka behandelt. Diese Entwicklung führt mit Sicherheit nicht dazu, dem Kind in solchen mißlichen Lebenslagen hilfreich zur Seite zu stehen.

Tabletten für den Störenfried - Kritische Auseinandersetzung mit der Medizinisierung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten

Das Problem der Medizinisierung kindlicher Verhaltensweisen

Wie ich schon erwähnt habe, ist ein klarer Wandel von der physischen zu psychischen Gewalt an Kindern zu erkennen. Aber nicht nur diese Verlagerung von Problemen kennzeichnet den Umgang mit den Verhaltensauffälligkeiten unserer Kinder, sondern es ist ein weiterer Wandel zu erkennen, nämlich die pharmakologische Disziplinierung von Kindern in Form von Drogen und anderen Medikamenten (Gruppe der Psychopharmaka). Unsere Zeit charakterisiert diesen Wandel von der mechanischen zur chemischen Behandlung des kindlichen Eigensinns. Die Erziehungswissenschaft kann vor diesen Entwicklungen nicht länger die Augen verschlossen halten, denn die Kinder sind dadurch von einem wachsenden Medikamentenmißbrauch betroffen.

Diese Entwicklung der Medizinisierung kindlichen Störverhaltens geht dahin, daß immer mehr aggressive, unruhige, konzentrationsgeschwächte und selbstbewußte Kinder als verhaltensgestörte Patienten medizinisch etikettiert werden, und der Versuch unternommen wird, sie mit Medikamenten zu disziplinieren. Klagen Eltern oder Lehrer über Aufsässigkeit, Aggressionen oder Hyperaktivität der Kinder, werden von Ärzten Medikamente verordnet, die den Kindern von ihren Eltern verabreicht werden. Es werden hauptsächlich Psychopharmaka oder vitaminhaltige Substanzen verschrieben. Den Eltern wird damit eine schnell wirkende Dauerlösung vorgegaukelt, anstatt sie darauf aufmerksam zu machen, daß nach den Ursachen der Verhaltensstörung in den Umfeldbedingungen des Kindes (vorwiegend Familie, Kindergarten, Schule, peer- groups) gesucht werden soll. Sogar Problemen wie kindliche Angstzustände, Schlafstörungen und Bettnässen wird immer öfter mit Psychopharmaka entgegengewirkt.[65]

Kinder signalisieren mit ihrer Auffälligkeit, sei es nun Aggression, motorische Unruhe, Bettnässen, Eßstörungen oder Lernstörungen eine gestörte Familien- oder Kindergarten/ Schulstruktur, die darauf hinweisen soll, daß daran etwas geändert werden soll. Statt dessen werden sie mit einer großen Palette von Psychopharmaka an die ihnen verordnete Norm angepaßt.

Daraus ergibt sich der Sachverhalt, daß kindliche Verhaltensstörungen, denen bisher mit pädagogischen Mitteln begegnet worden ist, mit Medikamenten, insbesondere Psychopharmaka behandelt werden. Dafür ist wiederum das medizinische Paradigma verantwortlich, da es das Kind als Opfer beschreibt, dessen Opferrolle behoben werden muß. Es wird daher nur am Kind angesetzt, anstatt an seinem Umfeld. Damit das Kind so schnell wie möglich von seinen Symptomen befreit wird, verschreibt man ihm ein Medikament, das erzieherische Probleme lösen soll.[66]

Die durch Medikamente lahmgelegten Kinder sollen als schickes Aushängeschild der Familie gelten. Erst dann, wenn ihr Selbstbewußtsein und ihr Eigensinn gebrochen ist, erhalten sie, worauf sie existentiell angewiesen sind: Liebe, Anerkennung, Schutz und Geborgenheit. Um dies zu erreichen, werden Kinder auch weiterhin angepaßt funktionieren und die für ihre Entwicklung so wichtigen narzißtischen Bedürfnisse verleugnen. Denn sie wollen ja nur, daß wir sie lieben. Wirkliche Hilfe ist daher nur von denen zu erwarten, die sich in einer Gesellschaft, in der das Kind immer noch als letztes und ungeliebtestes Mitglied gilt, auf ihre Seite stellen und mit ihnen solidarisieren.

Dieses gesellschaftliche Problem zeichnet sich dadurch aus, daß die Widersprüchlichkeit in Familie, Schule und Gemeinde im Kind individualisiert wird. Dabei wird die Aufmerksamkeit auf das Kind gelenkt. Aber nicht die Gesellschaft hat Probleme mit auffälligen Kindern, sondern Kinder zeigen mit ihren Störungen auf, daß sie mit den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht allein zurechtkommen und sich Unterstützung der Erwachsenen erhoffen.[67]

Um kindliche Verhaltensstörungen verstehen zu können, bedarf es einer großen Sensibilität im Umgang mit dem auffälligen Kind. Eine genaue Analyse des gesamten Umfelds wird benötigt, um die Lebensgeschichte eines Kindes genau erfassen zu können. Losgelöst von linearen Erklärungsmustern, muß nach der Ursache eines bestimmten kindlichen Verhaltens in seiner gestörten Lebenswelt gesucht werden.

Statt diesem langwierigen Prozeß der Behandlung kindlicher Verhaltensstörungen schlägt die Medizin einen Weg ein, der es ermöglichen soll, Probleme von Kindern schnell und unkompliziert zu lösen. Es wird den besorgten Eltern ermöglicht, die Verantwortung für die Probleme ihrer Kinder aus der Hand zu geben. Besorgten und hilflosen Eltern, die allzu oft mit ihren Sorgen alleingelassen worden sind, wird vorgemacht, daß Medikamente mit psychoaktiven Substanzen Verhaltensstörungen bei Kindern beheben.[68]

Der Rückgriff auf die angenommene endogen bedingte Störung des Kindes schützt die frustrierten und besorgten Eltern vor jenen Schuldzuweisungen, mit denen sie innerhalb unserer Gesellschaft oft als "Versagereltern" deklariert werden. Anstatt echte Hilfe zu bekommen, auch wenn diese oft mit einem großen Zeitaufwand und schmerzlichen Erfahrungen verbunden ist, wird ihnen ein Surrogat, in Form von Tabletten angeboten. Das Kind mit seinem Störverhalten wird individualisiert, wodurch eine Klärung der Situation unmöglich und die Chance vertan wird, mehr Verständnis und echte Zuneigung dem Kind entgegenzubringen.

Niemand informiert die Eltern über die Gefährlichkeit dieser Präparate und ihrer Nebenwirkungen. Denn neben ihrer raschen Wirkung haben sie auch negative Konsequenzen, wie die Gefahr einer Abhängigkeit, eine Vielzahl an unangenehmen Nebenwirkungen oder den Medikamentenmißbrauch. Über den Einsatz von Psychopharmaka bei der Indikation Verhaltensauffälligkeit wird äußerst verharmlosend gesprochen.

Befürworter der Pharmakotherapie an Kindern argumentieren in der Diskussion der medikamentalen Behandlung von kindlichem Störverhalten mit dem Anpassungscharakter. Das Ziel dieser Behandlung ist, jedes kindliche Verhalten zur Anpassung zu bringen. Dieser Anpassungscharakter geht letztlich so weit, daß dem Kind seine Individualität genommen wird. Das brave, angepaßte, apathische Kind, ist über die Medikation von psychoaktiven Medikamenten viel einfacher und schneller zu erreichen. Dies wird an folgendem Beispiel eines Merkblattes zur Behandlung von kindlicher Hyperaktivität mit Psychoanaleptika verdeutlicht.

Das Kind wird ausgeglichener, umgänglicher, hilfsbereiter, weniger mürrisch. Es packt freiwillig Dinge an, die getan werden müssen, seien es Hausaufgaben, seien es außerschulische Tätigkeiten. Es räumt plötzlich ohne Verlangen sein Zimmer auf... Kurz: Das Medikament ermöglicht es dem Kind, seine Impulse besser zu steuern, es kann besser und länger aufpassen, es verhält sich im sozialen Bereich angemessener, und auch die Hyperaktivität wird etwas reduziert.[69]

Es wird durch Psychopharmaka das angepaßte Kind propagiert, das apathisch, brav und angepaßt ist, dem die letzte Kraft geraubt wird, sich gegen die ständigen Schuldzuweisungen der Erwachsenen zu wehren. Das kann nicht das Ziel unserer Gesellschaft sein.

Den Erwachsenen wird der Umgang mit den Problemen ihrer Kinder viel zu leicht gemacht, wie man in den vielen verharmlosenden Werbungen für die medikamentöse Behandlung des kindlichen Eigensinns sehen kann.

"Encephabol- Saft behebt die Schulkrise. Encephabol- Saft baut bei Schulkindern die Hauptsymptome ab, speziell Konzentrationsschwäche, Lernstörungen, rasche Ermüdbarkeit und Kontaktschwierigkeiten." [70]

"Ihr Kind ist kein Computer. Multi- Sansovit gegen Schulstreß." [71]

"Dogmatil- Saft-das sanfte Psychopharmakon. Dogmatil fördert die Einsicht und öffnet die Psyche für neue, verbesserte Kontakte. Dogmatil- Saft fördert die Selbsteinschätzung, läßt dem Kind die natürliche Hemmung und baut überschießende Gehemmtheit ab." [72]

"Neuracen beim hyperkinetischen Syndrom. Anwendungsgebiete: Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit Hirnschäden, mit Unruhe, Reizbarkeit. Aggressivität und Kontaktschwäche." [73]

Um eine Lebensgeschichte eines Kindes zu erfassen, benötigt es eine genaue Analyse des kindlichen Umfeldes, was menschliche und professionelle Kompetenzen erfordert. In unserer heutigen Gesellschaft tendiert man allerdings dazu, seelische Konflikte von Kindern weitgehend medikamentös zu lösen. Was damit erreicht wird, sind angepaßte, brave und apathische Kinder, denen die letzte Kraft geraubt wurde, sich gegen die Schuldzuweisungen der Erwachsenen zur Wehr zu setzten.

Um Kindern in einer derartigen Lebenskrise echte Hilfe zu erteilen, sollten kindliche Verhaltensstörungen als gesunder Abwehrmechanismus betrachtet werden. Daß Kinder, bei deren Erziehung kaum Rücksicht auf ihre grundlegenden seelischen Bedürfnisse genommen wird, auf ihr familiäres System mit dissozialen, aggressiven Verhaltensweisen reagieren, ist für ihr Überleben in besonderem Maße notwendig. Anstatt nun diesen Notsignalen nachzugehen und in der Umwelt des Kindes nach möglichen Ursachen zu suchen, beschäftigen sich sowohl Eltern als auch die helfenden Berufe in der Regel mit dem Symptom des als "gestört" etikettierten Kindes.

Sinnvoll wäre es statt dessen, einer mehrdimensionalen Sichtweise zu folgen, die dem komplexen Bedingungsgefüge eines kindlichen Verhaltens am ehesten gerecht werden kann. Versteht man die kindliche Verhaltensauffälligkeit als sinnvolles, funktionales und situativ angemessenes Signalverhalten eines verstörten Kindes, so müßte eindeutig auf die Anwendung des stigmatisierenden Begriffs der Verhaltensstörung verzichtet und die Probleme des Kindes als Folge einer Störung des gesamten Systems, in dem das Kind lebt, betrachtet werden.

Nebenwirkungen und Risiken der Pharmakotherapie bei Kindern

Seelische Konflikte werden in unserer Gesellschaft demnach weitgehend mit Psychopharmaka behandelt. Eine breite Palette von Psychopharmaka wird für die Behandlung von kindlichen Verhaltensstörungen angepriesen. Die Medikation auffälliger Verhaltensweisen von Kindern mit psychoaktiven Drogen reicht von den Psychostimulanzien (Ritalin) über Vitaminpräparate, bis hin zur Gruppe der Neuroleptika (Atosil, Truxal und Melleril). Verschrieben werden auch Antidepressiva und Tranquilizer wie Tofranil und Librium.[74]

Während die Wirkungen von Psychopharmaka in der Werbung weitgehend verbreitet werden, wird über negative Konsequenzen, wie z.B. Nebenwirkungen, Suchtgefährdung etc., wenn überhaupt, nur verharmlosend diskutiert. Der Einsatz von psychotropen Substanzen zur Behandlung von kindlichen Verhaltensstörungen steckt voller offener Fragen und lückenhafter Kenntnisse. Obwohl inzwischen Langzeituntersuchungen vorliegen, fehlen eindeutige Beweise für die Wirksamkeit dieser therapeutischen Methode.[75]

Da sich kaum ein Zusammenhang zwischen den Symptomen und der Entscheidung für ein bestimmtes Präparat herstellen läßt, ist der Einsatz von Psychopharmaka bei Kindern sehr umstritten. Eine psychotrope Substanz läßt sich lediglich anhand ihrer Wirkungen auf bestimmte Zielsymptome charakterisieren. Kindliche Verhaltensstörungen lassen sich aber nicht in allgemein vorgegebene Klassifikationsschemata einzuordnen, da die Ausprägungen der Entwicklung der Kinder entsprechend individuell sind.

Zusätzlich herrschen noch lückenhafte Erkenntnisse zur Anwendung von Psychopharmaka im Kindesalter vor. Außerdem ist das Indikationsgebiet von Psychopharmaka bei Kindern sehr schmal. Indikationsgebiete, Wirkungsbereiche, Nebenwirkungen, paradoxe Wirkungen und Interaktionen unterscheiden sich vielfältig von denen Erwachsener.

"Es existieren erhebliche Unterschiede bezüglich der Stoffwechsellage und der physiologischen Abläufe auf verschiedenen Altersstufen. (...) Es wird deutlich, daß zwischen Frühgeborenen, Reifgeborenen, Säuglingen, Kindern und Erwachsenen erhebliche Unterschiede existieren. (...) Im Gegensatz zu Erwachsenen spielt der Entwicklungsfaktor (physisch und psychisch) eine außerordentlich große Rolle. Wenn man z.B. ein sechsjähriges Mädchen ein ganzes Jahr lang mit einem differenzierten Psychopharmakon behandelt, so hat sich dieses Kind (natürlich auch ohne Medikation) im Verlaufe dieses Jahres in seiner kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung tiefgreifend verändert. Bei einer derartig langen Behandlungsdauer (selbstverständlich muß die Wirkung schon nach Wochen feststellbar sein) wird man schwer entscheiden können, welcher Anteil auf die Entwicklung und welcher auf das Psychopharmakon bzw. auf eine Wechselwirkung zwischen beiden zurückzuführen ist". (Voß 1987) [76]

Daß besondere Vorsicht beim Einsatz von Psychopharmaka geboten ist, hängt unter anderem auch mit der Fülle von Nebenwirkungen zusammen, die nachgewiesen werden konnten. Durch psychotrope Substanzen können Schlafstörungen, Ruhelosigkeit, Wachstumsstörungen, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schwindelgefühle, Aggressivität oder Hypermotorik und paradoxe Wirkungen mitausgelöst werden. Paradoxerweise sind viele der genannten unerwünschten Begleiterscheinungen nicht von den eigentlichen Symptomen zu unterscheiden.[77]

Auch auf die bestehende Suchtgefährdung der Kinder und Jugendlichen wird nur unzureichend hingewiesen. Es besteht die Gefahr einer psychischen wie physischen Abhängigkeit von einem bestimmten Präparat. Beispielsweise die Medikamentengruppe der Amphetamine (Ritalin) verweist auf ein ausgesprochen hohes und gefährliches Suchtpotential.

Ich möchte abschließend betonen, daß ich in keiner Weise die Indikation der Pharmakotherapie in Frage stellen will. Es gibt eine breite Palette psychiatrischer Erkrankungen, für deren Behandlung diese Therapie unerläßlich ist. Bei der Behandlung von manischen Patienten ist es z.B. völlig unmöglich, nur psychotherapeutisch einzugreifen, bevor der Patient nicht mittels Medikation sediert wird. Es kommt auch vor, daß es organisch- oder situationsbedingt Fälle gibt, die die Indikation einer Pharmakotherapie auch bei Kindern zulassen. Daher ist diese Behandlungsmethode unumstritten. In besonderen Fällen kann als letzter Ausweg sogar eine kurzweilige Behandlung mit Psychopharmaka durchgeführt werden. Denn nicht die Medikation an sich, sondern der Mißbrauch stellt die Herausforderung dar.[78]

Interessensvertreter der medikamentösen Behandlung

Daß die medikamentöse Behandlung von kindlichem Eigensinn einen derartigen Aufschwung erlebt, muß wohl noch andere Ursachen haben, als die weite Verbreitung des medizinischen Behandlungsmodells. Daher werden im weiteren die wesentlichen Interessensvertreter und ihre Ambitionen diskutiert werden.

Der bedeutendste aller Interessensvertreter ist mit Abstand die Pharmaindustrie. Seit den30- er Jahren gelang es der Pharmaindustrie eine Vielzahl an psychoaktiven Stoffen zu synthetisieren und herzustellen. Diese sind Stoffe, die auf das Zentrale Nervensystem einwirken, und es beeinflussen. Erst seit dem Beginn der 60- er Jahre wurden mittels Werbung, Psychopharmaka, wie Benzedrine, Ritalin oder Dexedrine für die Behandlung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten in medizinischen Fachzeitschriften propagiert. Schon bald setzte eine verstärkte Verschreibung psychoaktiver Drogen an Kinder und Jugendliche ein. Diese Entwicklung führte zur Erschließung eines neuen, großen Marktes. Beispielsweise erwirtschaftete Ciba allein mit "Ritalin" einen Gewinn von 13 Mio. Dollar, das sind 15 % des Gesamtgewinns dieses Konzerns in einem Jahr.[79]

Die selbe Situation wird auch von den europäischen Pharmakonzernen erwartet. Somit hat die Pharmaindustrie nun neben den "Alten", Frauen und Berufstätigen auch das Kind entdeckt. Entsprechend wird sich auch diese Marktlücke konsequent füllen.

Seitdem der Begriff der "Minimalen Cerebralen Dysfunktion" in die Öffentlichkeit getreten ist, gab es mehrere Regierungsberichte in den Vereinigten Staaten über die Behandlung von "lerngestörten" Schulkindern mit stimulierenden Medikamenten. Nach diesen Berichten wurden Kinder deutlich vermehrt mit Psychostimulanzien behandelt. Durch die vorerst entstandene Unsicherheit darüber, mit welcher Leichtfertigkeit Psychopharmaka an Kinder verabreicht werden, fand eine Konferenz zu diesem Thema statt. Der Ausschuß, der zu großer Mehrheit aus dem medizinischem Expertenkreis stammte, kam nach "reiflichen Überlegungen" zum Ergebnis, daß es nur den Ärzten zustehen dürfe, diese Medikamente zu verschreiben. Dem Pharmakonzern steht hingegen "nur" zu, innerhalb des medizinischen Sektors zu werben. Somit gilt die Behandlung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten durch Psychostimulanzien seitdem als offizielle Legitimation.[80]

Eine weitere wesentliche Interessensgruppe bilden die besorgten Eltern. Sie definieren in ihrer Verzweiflung ihre Kinder oft selbst als "gestört" oder "krank" und wenden sich mit ihren Problemen an einen Arzt. Sie sehen eine medikamentöse Behandlung oft als einzigen Ausweg, mit ihrem "Störenfried" zurechtzukommen. Dadurch müssen sie sich auch nicht länger mit dem Problem auseinandersetzen, sondern können die Verantwortung für mögliche Problemlagen unbesorgt abgeben, und damit ihr schlechtes Gewissen entlasten.[81]

Die nächste Interessensgruppe bilden einseitig ausgebildete, organmedizinisch orientierte Ärzte. Sie erfahren einerseits eine enorme Zeitersparnis, da die Verschreibung einer Tablette, zum "Wegschlucken" der Probleme viel einfacher ist als die genaue Analyse der gegebenen Problemkonstellationen. Andererseits erlangen Ärzte durch die Verabreichung von Medikamenten auch finanzielle Vorteile.[82]

Als letztes muß auch die Gruppe der Erzieher, wie Lehrer oder Kindergärtnerinnen, genannt werden. Sie werden großteils in ihrer Ausbildung nicht genügend vorbereitet, wie sie mit Kindern die Verhaltensprobleme zeigen, umgehen sollen. Überfordert durch das ständige Störverhalten in der Kindergruppe oder Klasse auf der einen und durch den Druck der Eltern auf der anderen Seite, ist auch für sie der oft letzte Ausweg das Anfordern des Schulpsychologen oder der Ratschlag einer Überweisung zum Arzt.

Und für alle genannten Interessensvertreter trägt die Medikation von Psychopharmaka an verhaltensauffällige Kinder zu einer raschen und möglichst problemlosen Lösung der vorhandenen Konflikte bei.

Produzieren einer Störung durch normative Etikettierungsversuche

Warum wird problematisches Verhalten von Kindern, das es zu jeder Zeit gab, heute immer öfter medizinisch etikettiert? Wo Kinder früher mit dem altbekannten Rohrstock sanktioniert wurden, gibt es heute neben der sanften Pädagogik immer öfter eine medizinische Stigmatisierung kindlicher Verhaltensweisen mit Hilfe von Begriffen und Syndromen wie beispielsweise dem "Hyperkinetischen Syndrom" oder der "Minimalen Cerebralen Dysfunktion" (Abbildung 6).

Abbildung 6: Hydraulisches Dampfkesselprinzip, Modell nach Arnold (1976) über die Beziehung zwischen MCD-Symptomen und Diagnose

Unter Medizinisierung versteht man, daß kindliches Verhalten als medizinisches Problem oder als Krankheit definiert und den Ärzten die Erlaubnis erteilt wird, eine medikamentöse Behandlungsmethode dafür anzubieten.

Im folgenden Gedicht soll dargestellt werden, wie bestimmte Formen kindlichen Verhaltens als medizinisches Problem deklariert worden sind und wie die Medizin zu einem Hauptagenten sozialer Kontrolle geworden ist.[83]

Wie das Kind sein soll!

Die Kinder in der Schule klein,

die sollen wie die Blume sein,

wie Blumen gut, wie Blumen zart,

von sittiger und stiller Art.

Wie Du nicht sein sollst:

Wie die Kätzchen so tückisch,

voll Trug und voll Schein,

wie das Kätzchen so hintertückisch,

sollst Du nicht sein.

Wie Du sein sollst:

Wie das Täubchen so zierlich,

verträglich und fein,

liebevoll und manierlich,

so sollst Du sein.

Wie Du nicht sein sollst:

Wie das Wölflein gefräßig,

dem Schwächern zur Pein,

wie das Wölflein unmäßig,

sollst Du nicht sein.

Wie Du sein sollst:

Wie das Lämmlein geduldig,

genügsam und rein,

wie das Lämmlein unschuldig,

so sollst du sein.

(Zitiert nach Hans von Lüpke, in Voß Reinhard: "Pillen für den Störenfried", 1990, S. 50)

Entdeckung der Hyperkinese

Für diesen Schritt war somit eine entsprechende Entwicklung innerhalb der medizinischen Forschung notwendig. Gemeint ist die Entdeckung der Hyperkinese. Die Entdeckung dieser kindlichen Verhaltensauffälligkeit ist gekennzeichnet durch einen eklatanten Begriffswandel, bei dem ein zuerst begrenztes Verhaltensbild immer weiter ausgedehnt wird, sodaß durch diese neue, klinische Kategorie immer mehr kindliche Verhaltensweisen als Störung erfaßt werden.[84]

Seit den 20- er Jahren ist bekannt, daß kindliche Bewegungsunruhe in Folge einer Hirnschädigung, etwa einer Encephalitis oder Hirnverletzung, auftreten kann. Zusätzlich beobachtete Bradley (1937), daß Amphetamine einen aufsehenerregenden Effekt bei der Behandlung von kindlichen Verhaltensstörungen aufzeigen. 15 der 30 "Versuchskinder" zeigten paradoxerweise ein gedämpftes Verhalten auf Psychostimulanzien. Paradox deshalb, da erwartet wurde, daß Amphetamine Kinder ebenso wie Erwachsene stimulieren. Jedoch kehrten die Verhaltensweisen der Kinder nach Abbruch des Versuchs wieder auf ihr Ausgangsniveau zurück.[85]

In den 40- er Jahren wurde nun ein folgenschwerer Analogieschluß vollzogen. Der Zusammenhang zwischen Hirnschädigung und Verhaltensauffälligkeit wurde umgedreht. Es wurde nicht mehr angenommen, daß eine Verhaltensauffälligkeit als mögliche Folge einer vorhandenen Hirnschädigung auftreten kann, sondern man ging davon aus, daß eine Hirnschädigung die Ursache jeder kindlichen Bewegungsunruhe sei, auch wenn dies nicht eindeutig aus den Untersuchungsunterlagen des Kindes hervorging. Durch diese Entwicklung werden zum ersten Mal Verhaltensweisen einem neu etikettierten Organschaden zugeschrieben.[86]

Darüber hinaus wurde zugleich das Spektrum kindlicher Verhaltensstörungen erweitert. Konzentrationsstörungen, Lern- und Leistungsstörungen, Aggressionen, Ungeschicklichkeit und andere kindliche Verhaltensweisen ergänzen nun den Katalog der "Verhaltensstörungen". All diese Bezeichnungen wurden vorerst keiner diagnostischen Kategorie zugeordnet, bis sie Laufe (1957) als "Hyperkinetische Impulsauffälligkeit" benannte. Ein eindeutiger Organschaden als Ursache für diese komplexen Verhaltensauffälligkeiten wurde seither angenommen. Daher prägten Strauss und Werner (1941) den Begriff "Minimal brain damage". Dieser minimale Hirnschaden wurde zur Ursache für kindliche Verhaltensweisen, wie übermäßige motorische Unruhe, deklariert.[87]

Da es in den folgenden Jahrzehnten jedoch nicht möglich war, ein eindeutiges hirnorganisches Korrelat für kindliche Verhaltensauffälligkeiten nachzuweisen, und zudem eine große Verwirrung in Terminologie und Symptomatologie bestand, wurde der Begriff des "Minimal brain damage" durch die Bezeichnung "Minimal brain damage Syndrom" ersetzt. Wegen der Verwirrung der Symptome, wurde nun einfach ein Syndrom daraus gemacht. Somit war die Diagnose auch schon erschaffen.

Die Erschaffung einer Diagnose für Verhaltensauffälligkeiten führte zu einer enormen Ausweitung des Katalogs für "Verhaltensstörungen", die wiederum zu einer vermehrten Behandlung mit psychoaktiven Stimulanzien führte. Auch verweist der Begriff "Hyperkinetisches Syndrom" durch den medizinischen Terminus auf das Organische. Der Zustand einer Verhaltensproblematik wird also durch die Entdeckung der Hyperkinese zur Krankheit definiert. Mittlerweile ist das "HKS" die häufigste "Verhaltensstörung" innerhalb der Kinderpsychiatrie geworden.[88]

Adolf, der Renner

Wenn der Adolf auf der Straße war,

dann lief er pfeilschnell immerdar.

Er lief so schnell als wie der Wind,

das unbesonnen wilde Kind.

Der Mutter Fleh'n, des Vaters Faust,

sie halfen nichts der Adolf saust.

Doch einmal trieb er's gar zu toll,

daß man es kaum noch glauben soll.

Der Vater ruft, die Mutter schreit,

der Adolf ist schon meilenweit.

Er rennt und - hast Du nicht gesehen!

Da ist das Unglück schon geschehen:

Grad an dem Gürtel reißt er ab,

und ist nur noch ein halber Knab.

Die beiden Beine hält nichts mehr,

und Kopf und Brust schrei'n hinterher.

(Zitiert nach Hans von Lüpke, in Voß Reinhard: Pillen für den Störenfried, 1990,S.64)

Diagnosestellung

Um eine Diagnose erstellen zu können, werden beobachtete Verhaltensweisen (Symptome) beschrieben und in ein vorgegebenes Klassifikationsschema eingegliedert. Daher werden für den diagnostischen Prozeß mehr oder weniger klar definierte Symptome erfordert. Das vordergründige Ziel einer Diagnostik ist, die Ursache einer Krankheit zu erkennen, um eine kausale Therapie davon ableiten zu können.

Als Diagnose sind so komplexe Verhaltensauffälligkeiten wie die "MCD" aber sehr problematisch. Ihre Symptome sind sehr vielfältige, komplexe und mehrdeutige Verhaltensweisen, die eine Einordnung in ein Klassifikationssystem unmöglich machen. Deshalb ist wegen der komplexen Wechselwirkung von Anlage, Umweltbedingungen und der vielseitigen exogenen Einflüsse eine mehrdimensionale Betrachtungsweise notwendig.

Die Diagnose gründet sich auf Anamnese, Verhaltensbeobachtung, neuropädiatrischem Befund und psychologischen Tests, zusätzlich auch auf Kenntnis psychodynamischer und psychosozialer Faktoren. Die Gefahr bei einer Diagnose, die sich auf mehrere Befunde stützt, ist das Problem der Wertung und Gewichtung. Um diese unterschiedlichen Ergebnisse der verschiedenen Fachleute sinnvoll und in einer interdisziplinären Vorgangsweise nutzen zu können, ist es günstiger, die Diagnose als eine Art Bestandsaufnahme zu betrachten und sie so zu einer vielseitigen Förderdiagnose umzuinterpretieren.[89]

Um eine medizinische Diagnose zu erstellen, wird zuerst eine Anamnese des Kindes erforderlich. Informationen der Vorgeschichte, meistens allerdings nur in Bezug auf organmedizinische Geschehnisse, werden eingeholt. Findet man dadurch Ereignisse, die möglicherweise zu Komplikationen führen können, so werden die betroffenen Kinder als "Risikokinder" eingestuft. Eine solche, meistens auf rein organischem Hintergrund durchgeführte Anamnese, setzt den typischen Prozeß der Individualisierung des Kindes in Gang. Einmal mehr wird das Verhalten des Kindes auf einen Fokus verkürzt, wodurch es mit seinen Problemen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird. Problemkonstellationen innerhalb seines Systems werden bei der Anamnese nicht beachtet. Das Kind wird auf seine organische Situation reduziert, nach dem Prinzip des medizinischen Modells. Besondere Aufmerksamkeit wird evt. Komplikationen wie Läsionen, Verletzungen und Entzündungen geschenkt. Psychosoziale Faktoren werden außer acht gelassen, was natürlich eine enorme Zeitersparnis für die Diagnosestellung bedeutet.[90]

Tabelle 1: Verhaltenssyndrom bei minimaler Cerebraler Dysfunktion (nach Corboz, 1977), Voß, "Pillen für den Störenfried", 1990

Störung biologischer Funktionen

Bewegungsverhalten (minimale Cerebralparese; Dyskoordination)

Vegetativum (Labilität verschiedener Funktionen; Dysregulation)

Störung von Intelligenzfunktionen

Aufmerksamkeit, Konzentrationsvermögen, Merkfähigkeit

Zentrale Wahrnehmung und Verarbeitung (Teilleistungsstörungen)

Neigung zur Perseveration und Stereotypie

Ablenkbarkeit, Sprunghaftigkeit

Sprachentwicklungsverzögerung, Wortfindungsstörungen

Störung von emotional- affektiven Reaktionen

Reizempfindlichkeit, Reizbarkeit, Stimmungslabilität

Affektinkontinenz, Impulsivität, Kurzschlußhandlungen

Dranghaftes Beharren, Verhaltensschablonen

Steuerungsschwäche, Aggressivität

Störung von Antriebsfunktionen

Motorische Unruhe, Hyperaktivität

Antriebsminderung, erschwerte Umstellungsfähigkeit

Reaktive Störungen- Folge der cerebralen Dysfunktion

Angst, Entmutigung, depressive Reaktionen

Beziehungsstörung, Gefahr der Isolation

Verwöhnung oder Verwahrlosung

Neurotische und psychosomatische Symptome

Gesamtbild des Verhaltenssyndroms

Plurifaktoriell bedingte Entwicklungsstörung mit Beeinträchtigung

- des allgemeinen Gesundheitszustandes und der Befindlichkeit

- des Bewegungsverhaltens

- der schulischen Leistungsfähigkeit (Teilleistungsstörungen)

- der Anpassung in einer Gruppe (Sozialverhalten)

- des affektiven Gleichgewichts und der Persönlichkeit

Im weiteren wird nun von medizinischen Experten sowohl ein kinderpsychiatrisches als auch ein neurologisches Gutachten eingeholt. Hierfür wird eine genaue Kindbeobachtung durchgeführt, die allerdings nicht in einer natürlichen Situation des Kindes stattfindet. Somit ist es problematisch, allein aufgrund des beobachteten Verhaltens ein Hinweis auf eine "MCD" zu stellen.[91]

Bitte beurteilen Sie das Kind ____________________________________________________

hinsichtlich der aufgeführten Verhaltensweisen!

Datum: ______________________

Tabelle 2: Beurteilung hyperkinetischen Verhaltens bei Kindern (nach Conners, 1980), Voß, "Pillen für den Störenfried", 1990

 

überhaupt nicht 0

ein wenig 1

ziemlich 2

sehr stark 3

1. Unruhig oder übermäßig aktiv

2. Erregbar, impulsiv

3. Stört andere Kinder

4. Bringt angefangene Dinge nicht zu einem Ende (kurze Aufmerksamkeitsspanne)

5. Ständig zappelig

6. Unaufmerksam, leicht abgelenkt

7. Erwartungen müssen umgehend erfüllt werden

8. Weint leicht und häufig

9. Schneller und ausgeprägter Stimmungswechsel

10. Wutausbrüche, explosives und unvorhersagbares Verhalten

Bei einer neuropädiatrischen Untersuchung soll nun endgültig eine Funktionsstörung des Gehirns nachgewiesen werden. Für einen Befund werden spezielle Untersuchungsmethoden angewandt, wie beispielsweise das "neurological score", mit dessen Hilfe eine Bewertung nach dem Optimalitätsprinzip durchgeführt werden kann. Besondere Bedeutung kommt den verschiedenen technischen Untersuchungsmethoden zu, zum Beispiel der Motodiagnostik, dem EEG (Elektroencephalographie), der cranialen Computertomographie (CT) und der Magnetresonanztomographie zu. Die Bedeutung dieser Methoden wird dabei meist überschätzt, da apparative Verfahren eine sehr begrenzte Aussagekraft besitzen. Kinder werden nur unnötigen Strapazen und Stressoren ausgesetzt, ihrer individuellen Entwicklung innerhalb des spezifischen Systems wird keinerlei Beachtung geschenkt.[92]

Anstatt nun endlich dem spezifischen System des Kindes die nötige Beachtung zu schenken, werden nun zuletzt bei einer neuropsychologischen Untersuchung spezifische Hirnleistungen, die mit den üblichen apparativen Untersuchungsmethoden nicht zu erfassen sind, durch psychologische Testverfahren zu erfassen versucht. Dafür werden bekannte Testbatterien für Kinder, wie zum Beispiel der HAWIK (Hamburger Wechsler Intelligenztest für Kinder) oder der FROSTIG (Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung) angewandt. Daß viele dieser "Hirnschadentests" hinsichtlich Validität und Reliabilität und der Konstruktion völlig unzulänglich sind, ist eindeutig erwiesen, da komplexes Verhalten und komplexe Wahrnehmungen von Kindern niemals in einer solchen künstlichen und vielleicht angsterregenden Testsituation erfaßt werden können.[93]

Ich glaube, es ist aus dieser ausführlich dargestellten Diagnosestellung einer kindlichen "Verhaltensstörung" eindeutig hervorgegangen, daß es sich hierbei um ein äußerst gefährliches und stigmatisierendes Unterfangen handelt. Daß es sich deshalb um eine Gratwanderung handelt, wird dadurch erkenntlich, daß Teile der oben dargestellten Untersuchungsmethoden nicht ganz verworfen werden dürfen. Bei manchen Kindern, die wirklich irgendeine Form einer hirnorganischen Störung aufweisen, zum Beispiel durch Komplikationen bei der Geburt, können solche Untersuchungen Aufschluß über Ursachen kindlicher Entwicklungsprobleme gewähren. Allerdings erkläre ich dies nur dann für gerechtfertigt, wenn das hirnorganische Korrelat wirklich eindeutig vorhanden ist und nicht erst mit etlichen Untersuchungsmethoden gesucht und damit von den Ärzten produziert wird.

Die beste Lösung dieser schwierigen Frage besteht meiner Meinung nach darin, daß sowohl medizinische Institutionen als auch die restlichen helfenden Berufe und engagierte Laienhelfer in einer interdisziplinären Vorgangsweise miteinander kooperieren und jede Profession ihr Wissen zur gemeinsamen Lösung der kindlichen Problemlagen beiträgt. Nur unter solchen Voraussetzungen kann sich eine mehrdimensionale Entwicklungsförderung auch langsam durchsetzen.

Auswirkungen der Medizinisierung kindlicher Verhaltensweisen

Medizinisierung abweichender Verhaltensweisen von Kindern ist, wie ich schon öfters betont habe, eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten sozialer Kontrolle. In den letzten Jahren wurden Süchte, Gewalttätigkeit und nun auch Verhaltensauffälligkeiten von Kindern als medizinisches Problem definiert. Alkoholismus ist daher nicht länger eine Sünde oder unmoralisches Verhalten, sondern eine Krankheit. Drogensüchtige erfahren jetzt Hilfe durch Therapie statt Strafe. Die selbe Entwicklung läßt sich auch bei verhaltensauffälligen Kindern beobachten. Sie werden als "gestört" oder "krank" angesehen, anstatt als impulsive, ungehorsame Problemkinder zu gelten. Einige Vorteile durch diese Entwicklung sind erkennbar. Ist das auffällige Kind heutzutage nicht mehr das "schwarze Schaf" der Klasse, sondern einfach ein Kind mit einer medizinischen Störung. Somit werden soziale Stigmatisierungen verhindert, aber auch neue Etikette für Kinder erschaffen. Aber besonders mit diesen müssen sich Kinder oft ein Leben lang abmühen.[94]

Drei negative Konsequenzen der Medizinisierung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten treiben diese Entwicklung eindeutig voran.

Durch die Medizinisierung kindlicher Verhaltensprobleme entsteht das Problem der Expertenkontrolle. Eine Verhaltensauffälligkeit wird medizinisch deklariert, was zur Folge hat, daß ausschließlich Ärzte diagnostizieren und daher behandeln dürfen. Somit wird die gesamte Diskussion kindlicher Verhaltensauffälligkeiten der Öffentlichkeit entzogen und ausschließlich dem Medizinerstand überlassen.[95]

Wird nun diese einseitige Behandlung zugelassen, läßt man auch bestimmte Dinge zu, die sonst nicht üblich sind, zum Beispiel das Einnehmen von Psychopharmaka für ein Erziehungsproblem. Die Behandlung ist somit ein Stück sozialer Kontrolle geworden.

Wesentlich ist auch, daß die Medizinisierung kindlicher Probleme, wie ich bereits detailliert dargestellt habe, eine Individualisierung von sozialen Problemen vorantreibt. Ursachen und Lösungen komplexer sozialer Probleme, werden ausschließlich im Kind lokalisiert, anstatt das gesamte System genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Versuch wird unternommen, den "Störfaktor" Kind zu verändern, zu behandeln. Somit führt die medizinische Diagnose zur Verschreibung von Psychostimulanzien, die das Verhalten des Kindes akzeptabler machen sollen. Dadurch wird jedoch ignoriert, daß das Verhalten eines Kindes keine Krankheit, sondern eine Anpassung an ein bestimmtes soziales Umfeld darstellt. Durch die Definition "Hyperkinese" wird die Aufmerksamkeit zunehmend vom zugehörigen System abgelenkt und allein auf das Kind projiziert. Dadurch wird jedoch übersehen, daß das Problem in der Struktur unseres Sozialsystems und nicht im Kind verankert ist.[96]

Wenn die Bewegungsunruhe des hyperaktiven Kindes als Signal für vielfältige Störungen im Zusammenspiel zwischen Kind und Umwelt betrachtet wird, kann dann überhaupt Beruhigung und Sedierung das primäre Ziel einer Intervention sein?

Die Gefährlichkeit der Anwendung von Psychopharmaka im Kindesalter ist schon ausführlich diskutiert worden, die paradoxe Wirkung von Stimulanzien, die sonst aufputschend wirken, das Kind aber auf mysteriöse Weise sedieren, verdeutlicht das Risiko der Anwendung. Zudem konnte weder eine längerfristig positive Wirkung auf die Lernleistung, also den Schulerfolg, nachgewiesen werden, noch unterstützen psychoaktive Drogen den Reifungsprozeß. Folglich wurden auch Placebo- Untersuchungen durchgeführt, mit dem Ergebnis, daß 18 % der hyperaktiven Kinder auf ein Placebo genauso gut reagieren wie auf "Ritalin". Das ist wohl auf die vermehrte Zuwendung der Eltern durch die Gabe der Medikamente zurückzuführen. Die Suggestionswirkung einer Placebo- Einnahme hat für verhaltensauffällige Kinder demnach eine wesentliche Bedeutung.[97]

In Betracht auf die Nebenwirkungen und die große Suchtgefährdung dieser Stoffe ist es wohl besser, auf ihre Anwendung zu verzichten und der Familiendynamik wieder mehr Beachtung zu schenken.

Um dem komplexen Verhalten eines Menschen überhaupt gerecht zu werden, wird eine genaue Analyse der Familiendynamik erforderlich. Die Rollen der einzelnen Subsysteme müssen betrachtet werden, da es auch möglich ist, daß das kindliche Störverhalten nicht nur eine Funktion für sich selbst hat, sondern beispielsweise einen Ehekonflikt verborgen hält. Durch die intensive Beschäftigung mit dem "gestörten" Kind ist die Familie davor geschützt, daß andere, eigene Probleme in den Vordergrund treten.

Ist die Familiendynamik geklärt, ist es eigentlich nebensächlich, welche Hilfe das betreffende Familiensystem in Anspruch nimmt. Nicht nur die verschiedenen Therapierichtungen können helfen, ein Problem sinnvoll zu lösen, sondern ein breites Spektrum an Möglichkeiten, die nicht ausdrücklich deklarierte, professionelle Experten sein müssen, können sehr hilfreich sein. Oft kann ein gemeinsames sich Ausreden, Zuhören oder Beraten ausreichen, um mit den Problemen mittels eigener Ressourcen wieder zurechtzukommen und wesentliche Veränderungen am System durchzuführen.

Die Realisierung dieses Schrittes, daß nicht nur Experten mit ihrem einseitigen Fachwissen Familien mit verhaltensauffälligen Kindern helfen können, vollzieht sich nur sehr zögernd. Dies läßt sich gut durch die immer größer werdende Krise innerhalb der helfenden Professionen verdeutlichen.



[65] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.17

[66] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.12

[67] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.15

[68] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.24/25

[69] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.24

[70] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.23

[71] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.23

[72] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.23

[73] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.23

[74] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.27

[75] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.27

[76] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.28

[77] W. Fleischhacker; Skriptum zur Vorlesung: Psychopharmakologie, Kap. Psychopharmaka bei Kindern

[78] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.29

[79] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.100

[80] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.100

[81] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.28

[82] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.29

[83] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.97

[84] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.41

[85] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.99

[86] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.58

[87] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.99

[88] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.99/ 100

[89] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.81

[90] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.81

[91] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.83/ 84

[92] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.84

[93] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.88

[94] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.105

[95] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.106

[96] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.107

[97] R. Voß; Pillen für den Störenfried; 1990; S.71

Helfende Berufe in der Krise

Krisenhafte Prozesse innerhalb der Helfenden Berufe

Helfende Berufe sind nun schon des öfteren ins Gerede gekommen. Dieser Sammelbegriff umfaßt all jene Berufsgruppen, deren Aufgabe es ist, zur Förderung beziehungsweise Wiederherstellung optimaler Entwicklungsbedingungen eines Individuums, auf somatischer, psychischer oder sozialer Ebene beizutragen. Dieses breite Spektrum an Berufsgruppen, wie Mediziner, Psychologen, Sonderpädagogen, Erzieher oder Psychotherapeuten, bemüht sich also um eine optimale Entwicklung der ihnen anvertrauten Klienten. Meistens sind jedoch Berufe gemeint, deren Funktion nach dem herkömmlichen linearen Verständnis auf einen bestimmten Arbeitsbereich fixiert wird. Diese segmentierende und falsche Konstruktion der Wirklichkeit, in der der Arzt für den Körper, der Psychologe für die Seele, der Lehrer für den kognitiven Lernprozeß und der Sozialarbeiter für soziale Reparaturen zuständig gemacht wird, muß endlich gebrochen werden.[98]

Angesichts dessen müßte das naturwissenschaftlich ausgerichtete, kausalitätsorientierte und individualisierende medizinische Modell in Frage gestellt werden.

Statt dessen müßte die Funktion des Helfens und Unterstützens in den Mittelpunkt der Handlung gestellt, und die lern- und entwicklungsfördernde Funktion des Helfens und Förderns in einem praxis- und gesellschaftsbezogenem Zusammenhang gesehen werden. Nach dieser Betrachtungsweise lassen sich all diese Berufsgruppen, die sich um das Wohl des Menschen kümmern, als helfende Berufe zusammenfassen.

Diese Trennung der einzelnen Berufsgruppen nach unterschiedlichen Aufgaben wird in der Praxis der helfenden Berufe immer stärker erfolgen. In diesem Zusammenhang können auch die einseitigen Ausbildungsstrukturen kritisiert werden. Nach dieser Sichtweise entstanden beispielsweise alle verschiedenen Psychotherapierichtungen, und ohne Umdenkprozeß läßt sich niemals eine schulenübergreifende Psychotherapie realisieren. Auch das hohe Maß an Praxis- Problemferne bietet keine Möglichkeit, Lebenszusammenhänge zu erkennen.

Eine weitere Kritik an den helfenden Berufen bezieht sich auf die Grundzüge unseres Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens. Ratsuchende Eltern stehen vor einem Labyrinth von Anlaufstellen, die sie bei psychosozialen Problemen aufsuchen können. Es wird dabei übersehen, wie hilflos Eltern diesem Überangebot gegenüberstehen. In diesem Irrgarten der psychosozialen Versorgung, der psychologischen Beratungsstellen und weiteren Hilfsangeboten, wird es ihnen erschwert, eine gezielte Maßnahme für ihr Problem zu finden. Deshalb trägt diese verwirrende Unüberschaubarkeit des psychosozialen Bereichs sehr zu dessen Ineffizienz bei.[99]

Daher sind sich viele Berufspraktiker darüber einig, daß im psychosozialen Bereich viele Veränderungen verwirklicht werden müssen. Zu kritisieren ist unter anderem, daß zu viel diagnostiziert wird, und zu häufig zu viele Instanzen an einem Fall beteiligt sind. Es findet auch häufig eine einseitige Art der Behandlung statt, was zur Folge hat, daß der Bereich der eigenen Kompetenz schnell überschritten ist und Fälle daher an die nächste Instanz weitervermittelt werden müssen. Aufgrund gegebener Arbeitsbedingungen können auch viele Probleme gar nicht behandelt und gelöst werden.[100]

Ein sehr eklatantes Problem, das sich zur Krise der helfenden Berufe zuspitzen kann, ist durch die vielen gegenseitigen Schuldzuweisungen gegeben. Eltern verschieben beispielsweise ihr Erzieherproblem auf den Kindergarten oder die Schule, mit der Einstellung, daß diese ohnehin die Aufgabe hätten, Kinder zu erziehen. Für plötzliche Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder machen sie daher die Lehrer verantwortlich. Diese wiederum suchen die Ursachen und Gründe in den Verhaltensweisen der Eltern. Es wird mit vorschnellen Schuldzuweisungen an andere eine vorhandene Problemsituation aus dem eigenen Verantwortungsbereich genommen.

In der offenen politischen Diskussion zu diesem Thema werden die Mütter am stärksten für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich gemacht. Demnach sind sie es, denen indirekt die meisten Schuldzuweisungen entgegengebracht werden, was oft zur Folge hat, daß sie sich als Versagermütter fühlen und sich für die Verhaltensstörungen ihrer Kinder allein verantwortlich machen. Um dieser Hilflosigkeit entfliehen zu können, führt der Weg sehr bald zum Arzt. Wenn dieser eine Diagnose stellen kann, erleben die Eltern des Kindes eine Erleichterung, denn die Schuld wird ihnen dadurch abgenommen. Zudem wird ihnen ein schneller Weg zur Besserung des Problems ihres Kindes mitgegeben, in Form eines Rezeptes, das die auffälligen Verhaltensweisen des Kindes behandeln soll.[101]

Letztendlich wird damit aber keine adäquate Lösung von erzieherischen Problemen, wie dem der Aggression, der Hyperaktivität, der Konzentrations- und Lernschwierigkeiten angeboten, sondern die immer weiter zunehmende Verabreichung von Medikamenten, insbesondere Psychopharmaka, an Kinder und Jugendliche gefördert.

Aspekte der Krise

Diese Krise des psychosozialen Arbeitsfeldes bezeichnet die psychosoziale Versorgung für Kinder und Jugendliche als sowohl quantitativ als auch qualitativ völlig unzureichend.

Insbesondere besteht innerhalb der psychosozialen Berufsfelder eine schichtabhängige Konstruktion. Angehörige unterer sozialer Schichten werden vermehrt sanktionierenden und kontrollierenden Maßnahmen ausgesetzt. Durch eine solche schichtspezifische psychosoziale Versorgung entsteht jedoch die Gefahr der sozialen Kontrolldimension.[102]

Weitere Defizite und Mängel der helfenden Berufe bestehen darin, daß eine deutliche Einzelfall- beziehungsweise Familienorientierung vordergründig sind. Gesellschaftlichen Bedingungen und lebensweltlichen Kontexten wird kaum Beachtung geschenkt.

"Offene Erziehungshilfe, das ist im Bewußtsein der Jugendhilfeträger bisher offenbar noch ausschließlich die traditionelle, reaktive und symptombezogene Einzelfallbetreuung, die Kinder und Jugendliche in ihrem Objektstatus beläßt." (Gutenberger, Sprau- Kuhle 1980)[103]

Zudem ist auch die Beziehung der verschiedenen psychosozialen Dienste zueinander gestört. Die Arbeit mittels Fachwissen läßt manche helfenden Berufe einen privilegierten Sonderstatus erhalten. Diese unproduktive Beziehung läßt sich auch in der Trennung der Klientel gut erkennen. Die Erziehungsberatung hat es hauptsächlich mit der Mittelschicht, der soziale Dienst vorrangig mit der Unterschicht und mit Randgruppen zu tun. Wenn diese Konkurrenz weiterhin besteht, sind die Voraussetzungen für eine sinnvolle psychosoziale Versorgung äußerst schlecht.

Merkmale der Krise

Wesentliche Merkmale der Krise innerhalb der helfenden Berufe, sind in der Entkontextualisierung der kindlichen Auffälligkeit zu suchen. Die Entkontextualisierung von Auffälligkeit ist eine Auswirkung des medizinischen Modells. Die Probleme eines Kindes werden als Störung betrachtet und isoliert vom Gesunden behandelt. Dies erweckt die Vorstellung, daß auffälliges Verhalten nichts mit dem Normalen, Funktionierenden zu tun hat.[104]

Diese Entkontextualisierung wird durch Phänomene wie die Entgesellschaftung sozialer Probleme und Individualisierungsprozesse weitgehend verstärkt.

Entgesellschaftung und Individualisierung

Störungen, Verhaltensauffälligkeiten und Krankheiten beeinträchtigen das reibungslose Funktionieren sozialer Systeme, von der Familie bis zur Gesellschaft. Die Absonderung und Isolierung von Andersartigem und die damit verbundene Individualisierung ist daher eine gesellschaftliche Verarbeitungsform mit langer Tradition. Bevor sich das medizinische Modell etablierte, betrachtete man Auffälligkeit als Besessenheit oder Unsittlichkeit, die Strafe oder soziale Stigmatisierung forderte. Seit der Dominanz des medizinischen Modells entwickelte sich eine deutliche Akzentverschiebung zu neuen Formen der Stigmatisierung. Auch hier wird wieder das Kind allein für seine Auffälligkeiten verantwortlich gemacht. Diese Form der Individualisierung schützt daher das System davor sich als mitbeteiligt und mitverantwortlich zu sehen und sich selbst zu hinterfragen. Daher werden gruppenspezifische und soziale Handlungsweisen als Gegenstand der Behandlung vernachlässigt, was eine defekt- beziehungsweise defizitorientierte Sichtweise fördert.[105]

Durch die Individualisierung der Auffälligkeit wird der Prozeß der Entgesellschaftung oder Entpolitisierung gefördert. Dadurch wird die gesamte Aufmerksamkeit auf das Kind mit seinen "Abweichungen" und "Defiziten" gelenkt, wodurch die konkreten Lebensbedingungen in den Hintergrund rücken. Die Probleme des Kindes werden nicht mit seiner gesellschaftlichen Situation in Verbindung gebracht. Anstatt auch gesellschaftliche Veränderungen, wie Umweltverschmutzung, zunehmende strukturelle Gewalt, kinderfeindliche Stadtplanungen, bei denen den Kindern die letzten Plätze zum Spielen genommen werden, etc. zu berücksichtigen, wird der Versuch unternommen, rein organische Ursachen zu finden.[106]

Erst die Abwendung von der Individualisierung ermöglicht einen freien Blick auf die der politisch- gesellschaftliche Dimension kindlicher Verhaltensauffälligkeiten.

Aussonderung

Ein weiters Merkmal der Krise der helfenden Berufe wird in der Aussonderung von verhaltensauffälligen Kindern deutlich. Damit sind all jene Prozesse gemeint, die ein Kind aus seinem bedeutsamen Lebenskontext herausreißt, und es in vielen Fällen stigmatisierenden neuen Kontexten zuordnet. Dazu gehört beispielsweise die Überweisung in eine Schule für

"Lerngestörte", eine Sonderschule, die Einweisung in ein Heim oder die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Für eine solche Aussonderung hat sich ein geballter Komplex von Institutionen und Interventionsmethoden auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Diese Institutionalisierung läßt sich daher als "metapsychiatrische Wucherung" oder "therapeutische Mystifizierung" beschreiben. Das Kind wird sowohl räumlich als auch begrifflich isoliert und behandelt. Wie verzahnt und engmaschig ein solches Versorgungsnetz aussehen kann, möchte ich in folgenden Plänen der Psychiatrie- Enquete (1975) belegen (Abbildung 7).[107]

Abbildung 7: Regionales Verbundsystem der Psychosozialen Versorgung (Psychiatrie Enquette 1975)

Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche, Eltern und Familien sollen bei diesem Modell auf der Basis einer Konzentration von Spezialisten aus dem Bereich der Psychologie, Psychotherapie, Medizin und Heilpädagogik das Gerüst der ambulanten Versorgung in der zweiten Linie ausmachen. Die erste Linie oder das Vorfeld bilden herkömmliche medizinische und psychotherapeutische Berufe, gemeinsam mit unmittelbar im Wohnbereich von sozialen Randgruppen angesiedelten Kontaktstellen, Gruppen von Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und dem "schulpsychologischen Dienst". Mittels Dauerbeobachtung werden nun auffällige Kinder als Risikokinder definiert und in geeigneten Institutionen der dritten Linie untergebracht. Sondereinrichtungen wie Tages- und Nachtkliniken, Heime, Tagesheime und andere teilstationäre Einrichtungen stehen dafür zur Verfügung. Zuletzt steht in vierter Linie das Kinder- und Jugendpsychiatrische Zentrum, als Kerninstanz des Verbundes.[108]

Daß es sich bei einer solchen netzartigen Intervention um keine interdisziplinäre psychosoziale Arbeit handelt, ist leicht erkenntlich. Es finden keine gemeinsamen professionsübergreifenden Interventionen statt, sondern jede genannte Ebene geht auf die Suche nach "Risikokindern", die dann den anderen Feldern weitervermittelt werden. In diesem Irrgarten der psychosozialen Versorgung können Kinder und deren Familien keine gerechte Hilfe für ihre Probleme finden, ihre Probleme werden eher vertieft und medizinisiert. Die Kinder werden von Institution zu Institution hin- und hergestoßen, bis sie letztendlich, fertig mit ihren Nerven, in die psychiatrische Klinik für Kinder eingewiesen werden. Mit dieser Suche nach einer kindlichen Risikopopulation, die bereits bei der "early- intervention" oder gar vorgeburtlichen Fahndung nach etwaigen Behinderungen beginnt, kann psychosoziale Arbeit ihren Forderungen nicht gerecht werden. So lange eine Gesellschaft die Andersartigkeit eines Menschen schon als Risiko betrachtet, das mit allen Mittel zu korrigieren versucht wird, steckt der Bereich der helfenden Berufe wirklich in einer schweren Krise. [109]

Verhaltensauffällige oder dazu erklärte, kranke oder gekränkte Kinder sind ein gesellschaftliches Problem. Daher dürfen sie nicht länger individualisiert und ausgesondert werden. Um Kindern wirklich sinnvolle Hilfe zuteil werden lassen, muß der Horizont des Einzelfalles verlassen werden. Unsere Gesellschaft ist in einem solchen Maße miteinander vernetzt, daß Probleme von Kindern nicht mehr getrennt von ihren Lebenswelten analysiert und betrachtet werden dürfen. Daher ist eine gesellschaftliche Bewegung notwendig. Es werden Helfer gebraucht, die gelernt haben, sich auch als Betroffene zu sehen, und denen es daher gelingt, ihre Rolle als Professionelle zu überschreiten und mit anderen helfenden Berufen zusammenzuarbeiten, um gemeinsam für das Wohl eines gekränkten Kindes zu kämpfen.



[98] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.75

[99] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.76

[100] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.76

[101] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.31

[102] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.33

[103] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.34

[104] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.38

[105] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.38

[106] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.39

[107] G. Hörmann /W. Körner; Klinische Psychologie; 1991; S.268

[108] G. Hörmann /W. Körner; Klinische Psychologie; 1991; S.269

[109] G. Hörmann /W. Körner; Klinische Psychologie; 1991; S.269-271

Verhaltensstörung als Signal einer Störung innerhalb der Lebenswelt des Kindes

Die schwierigste Anforderung an unsere Gesellschaft ist die, auffälliges Verhalten aus der Perspektive des Kindes zu betrachten. Wie schwierig dies ist, wird schon allein durch die Tatsache verdeutlicht, daß die Welt mit ihren gesellschaftlichen Bedingungen nicht auf Kinder eingestellt ist, sondern dem Erwachsenen entspricht. Ein Kind erreicht im Fahrstuhl keinen Schalter, es kommt nicht an die Türglocke heran, die meisten Gegenstände entsprechen nicht seiner Größe. Es besteht eine räumliche Distanz zwischen Kind und Erwachsenem, die sich auch in alltäglichen Situationen des Zusammenlebens von Kindern und Eltern widerspiegelt. Ebenso geht nach diesem Verständnis kindlichen Verhaltens deutlich hervor, daß viele Schuldzuweisungen, die in sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entstehen, auf Kinder übertragen werden.

Betrachtet man kindliches Verhalten aus einer Perspektive, der es gelingt, das Kind aus dem Zentrum des öffentlichen Interesses zu lösen, entsteht eine völlig kontroverse Auffassung von kindlichem Verhalten. Es muß erkannt werden, daß nicht die Gesellschaft ein Problem mit auffälligen Kindern hat, sondern die Kinder mit ihrer Auffälligkeit ein Signal setzen, daß die sie umgebende Lebenswelt ein nicht zu lösendes Problem für sie darstellt. Unsere gesellschaftliche Situation schafft Probleme, die Verhaltensstörungen beim Kind hervorrufen. Das Kind setzt gesunde Reaktionen in einer pathologischen Lebenswelt. Seine Verhaltensweisen sind als Hilferuf zu verstehen. Sie treten daher im Lern-, Entwicklungs- oder Verhaltensbereich, in organischen, psychischen oder psychosomatischen Erscheinungsformen auf.[110]

Der entscheidende Unterschied im Umgang mit der kindlichen Verhaltensstörung besteht nicht zwischen Kinderpsychiater bzw. Pädiater (Kinderarzt) auf der einen und Psychologen bzw. Pädagogen auf der anderen Seite. Eher liegt er darin, ob Kinder von Diagnostikern behandelt werden, welche sich primär an Außenphänomenen wie Verhalten und Symptomen orientieren, oder andererseits von solchen, die auffälliges Verhalten und Symptome aus den Zusammenhängen heraus betrachten, die für das zu behandelnde Kind relevant sind. Letztere werden ihre Aufmerksamkeit auf Signale der Kinder richten, die auf eine intrapsychische, familiäre, schulische oder gesellschaftliche Problematik hinweisen. Erstere versuchen hingegen, das Verhalten und die Symptome der Kinder durch psychologische oder pharmakologische Methoden zu modifizieren, ohne die tieferliegenden Konflikte und Erlebnisse der Kinder wahrzunehmen und in die Behandlung miteinzubeziehen.

Ein entscheidendes Kriterium, das den Perspektivenwechsel beeinflussen würde, ist die philosophische Orientierung. Sie bestimmt vorrangig erzieherisches und didaktisches Handeln. Durch die philosophische Einstellung des Menschen werden seine Haltungen, seine Werte, sein Menschenbild, sowie seine normativen, politischen und pädagogischen Ziele geprägt. Diese Einstellungen und Haltungen bestimmen unbewußt das Handeln eines jeden Menschen.[111]

Um dies etwas deutlicher darzustellen, möchte ich einen Ausschnitt aus dem Buch "Windows to our children" von Oaklander anführen.

"Jeder, der mit Kindern arbeitet, sollte ganz bestimmte, grundlegende Voraussetzungen erfüllen: Er sollte Kinder gern haben, eine akzeptierende, vertrauensvolle Beziehung zu ihnen herstellen können, wissen wie Kinder sich entwickeln, wie sie wachsen und lernen, und die wichtigsten, mit bestimmten Altersstufen verbundenen Probleme kennen (...). Ich meine auch, daß man die Fähigkeit haben sollte, direkt zu sein, ohne aufdringlich zu werden, empfindsam und sanft zu sein, ohne zu nachgiebig und passiv zu sein(...)."[112]

"Auch meine ich, daß jeder, der mit Kindern arbeitet, unbedingt wissen sollte, wie familiäre Systeme funktionieren und welchen Umwelteinflüssen ein Kind ausgesetzt ist zu Hause, in der Schule oder in anderen Institutionen, in denen das Kind lebt. Man sollte die an das Kind herangetragenen kulturellen Erwartungen kennen. Man sollte fest davon überzeugt sein, daß jedes Kind ein einzigartiger, wertvoller, mit gewissen Rechten ausgestatteter Mensch ist. Man sollte mit bewährten Beratungstechniken vertraut sein, so zum Beispiel mit der Technik des reflektiven Zuhörens und mit Kommunikations- und Problemlösungstechniken. Ich glaube, daß es vor allem darauf ankommt, zu dem Kind offen und aufrichtig zu sein. Und man sollte schließlich den Humor besitzen und zulassen, daß das spielerische und ausdruckswillige Kind, das in uns allen steckt, zum Vorschein kommt."[113]

Durch eine philosophische Orientierung, die den Menschen konkret, einmalig, "ichhaft" und als sozio- affekt- logische Einheit betrachtet, wird dessen Personalität bestimmt. Ziel für die "helfenden Berufe" wäre es, dem auffälligen Kind personal zu begegnen. Ihre Aufgabe ist daher, dem lern-, entwicklungs-, entscheidungs- und selbstbestimmungsfähigen Kind bei seiner Entfaltung und Entwicklung beizustehen, und es, wenn nötig, darin zu unterstützen.

Diese Perspektive resultiert aus einer phänomenologisch- existenzialistischen Grundposition, die von Lewin (1951), Syngg/Combs (1949), Maslow (1973), Rogers (1969) und Bronfenbrenner (1981) vertreten wird. Im Gegensatz zu den in den letzten Jahrzehnten vorrangig behavioristisch orientierten Humanwissenschaften, die ein reaktives, passives Menschenbild konstruierten und menschliches Verhalten generell von einem Standpunkt außerhalb der Person betrachten, tendiert der wissenschaftstheoretische Ansatz der personorientierten Pädagogik zu dem Verständnis eines Menschenbildes, das aktiv, agierend, aus der Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus sich selber schaffend vorgeht. Ziel dieses Ansatzes ist es, aus der Sicht der Person selbst zu verstehen und zu verändern.[114]

Aus dieser Orientierung heraus lassen sich einige wichtige Zielperspektiven für den Umgang der helfenden Berufe ableiten.[115]

  • Die prinzipielle und uneingeschränkte Achtung der Würde und der Rechte des Kindes. Das Respektieren der Andersartigkeit und Eigenständigkeit ist zu sichern.

  • Die spezifischen Bedürfnisse, Einstellungen, Interessen, Ziele und Werte des Kindes, seine konkreten Probleme und Ängste, sein soziales Umfeld mit seinen je typischen Problemen und Gefahren müssen beachtet werden.

  • Die sozio- affekt- logische Einheit des Kindes in seiner Lebenswelt muß berücksichtigt werden.

  • Die Forderung der gesunden, der personadäquaten Entwicklung des Kindes in Richtung auf ein Mehr an Selbstbestimmung wie an humaner und sozialer Kompetenz soll im Vordergrund stehen.

  • Das Wissen um den Signalcharakter auffälliger Lern-, Entwicklungs- und Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen innerhalb des systemischen Bedingungsgefüges "Kind- Familie- Schule- Kindergarten- Gemeinde- Gesellschaft" muß vermittelt werden.

  • Eine Lebenswelt mit einer angstfreien, lernfördernden Atmosphäre ohne Ironie, Erniedrigung muß geschaffen werden, eine Atmosphäre, in der Ermutigung, Angebot, Liebe und Verständnis die wichtigsten Hilfsmittel darstellen, die das Kind zur Entwicklung eines eigenverantwortlichen Umgangs mit sich selbst und seiner Umwelt führen.

  • Förderung und Integration haben immer Vorrang vor Auslese und Aussonderung.

  • Die Erziehung von Kindern soll von entwicklungsfördernden Verhaltensweisen, wie Echtheit, bedingungslosem Akzeptieren, Empathie und Ermutigung bestimmt werden.

  • Die Interessensvertretung des Kindes verlangt eine interdisziplinäre Kooperation der helfenden Berufe.

Bei der ständig vorherrschenden Negativfixierung bei kindlichen Verhaltensauffälligkeiten wird die Fülle an besonderen, positiv auffallenden Eigenarten und Eigenschaften des Kindes völlig außer acht gelassen. Der Begriff "auffälliges Verhalten" sollte daher völlig abgelöst von irgendwelchen Normvorstellungen betrachtet werden. Damit wird die Fixierung und Negativbetrachtung eines Kindes verhindert. Diese Umstände könnten die Krankheitsgeschichte des Kindes weitgehend mildern.[116]

Unsere kurzlebige und konsumorientierte Gesellschaft mit all ihren Anforderungen und dem ständig wachsenden Leistungsdruck stellt für Kinder eine große Herausforderung dar, der nicht alle Kinder gewachsen sind. Um in dieser wachsenden Konsumorientiertheit und immensen Medienkälte existieren zu können, brauchen Kinder den Schutz und die Unterstützung der Erwachsenen, um eine gesunde Entwicklung zu einer eigenständig denkenden Persönlichkeit zu erleben. Zu dem wachsenden Zwang an Leistung und Konsum kommt allerdings noch eine fortschreitende Sprach- und Beziehungslosigkeit, die den Kindern die nötige Unterstützung beim Lösen ihrer Probleme verwehrt. Viele Kinder wachsen in einer Lebenswelt ohne Geborgenheit, Verständnis und Liebe auf und verbringen den Großteil ihrer Zeit vor dem Fernseher oder mit anderen Medien, wie Computerspielen etc. Sie ernähren sich in Fast- food Restaurants und suchen sich Gemeinschaft in Massenveranstaltungen. Die Zahl der alleingelassenen Kinder wird immer größer, was sich dann wiederum in Verhaltensstörungen, schon bei kleinsten Kindern widerspiegelt.[117]

Die große Gewaltbereitschaft vieler Kinder und Jugendlicher ist daher als Folge der immer fortschreitenden Kälte der Medien- und Konsumgesellschaft zu betrachten. Es muß der Erziehungswissenschaft gelingen, ihre Entstehungsbedingungen zu durchschauen, um Änderungen an dieser Situation zu ermöglichen. Um Veränderungen zu entwickeln, müssen sowohl pädagogische Schritte als auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unternommen werden.

Aggressionen von Kindern entstehen primär unter diesen Rahmenbedingungen, die mit dem gesellschaftlichen Umfeld sowie den Macht, Besitz- und Einflußverhältnissen innerhalb der Gesellschaft zusammenhängen. Besonders deutlich zeigen sich diese Reaktionen der Kinder in ihrem engsten Umfeld, der Familie, dem Kindergarten, der Schule und der Freizeit der Kinder.

Es ist deutlich zu erkennen, daß sich die Kinder im Vergleich zu früheren Zeiten grundlegend verändert haben. Dies bestätigen Lehrer und Kindergärtnerinnen immer wieder erneut. Es lassen sich als Erklärung dafür auch viele Momente zusammenfügen. Wodurch die Kindheit heute tiefgehend verändert wird, ist die zunehmende Verdinglichung in unserer Gesellschaft und die fortschreitende strukturelle Gewalt. Aber nicht nur die Kinder haben sich verändert. Auch Lehrer, Kindergärtnerinnen und andere Pädagogen sind orientierungsloser, stärker verunsichert und belastet. Dadurch verbinden sich viele weniger mit den ihnen anvertrauten Kindern.

Vor allem die mangelnde Sensibilität für den Wandel unserer Gesellschaft und den Wandel in uns selbst ist dafür verantwortlich, daß die Probleme der Kinder mit unserer Gesellschaft weitgehend nicht erkannt werden. Doch gerade an diesem Punkt müßte ein Umdenken der Gesellschaft stattfinden.

Wichtig für das Verhindern von kindlicher Aggression ist das Aufstellen von verbindlichen Regeln des gegenseitigen Umgangs. Kinder müssen erleben, wo ihnen Grenzen gesetzt werden. Sie selbst sind damit überfordert, sich Grenzen zu setzen. In jeder, auch der allerkleinsten Gesellschaft gibt es solche Verhaltensregeln, durch die das Zusammenleben bestimmt wird. Auch im Kindergarten oder der Schule herrschen solche Regeln vor. Sie erleichtern unter anderem auch das Lösen von Konflikten. Jeder, der mit Kindern Umgang hat, kennt ihre provozierenden Verhaltensweisen, die sie so weit treiben, bis sie ein deutliches Stopsignal ihrer Bezugspersonen erhalten. Damit testen sie die Toleranzgrenzen der Erwachsenen aus. Wichtig ist vor allem die konsequente Einhaltung solcher Regelungen, damit die Kinder einen Orientierungsrahmen erhalten, innerhalb dessen sie sich frei bewegen und selbständig handeln können. Werden ihnen klare Orientierungen und Grenzsetzungen verweigert, z.B. im Sinne einer antiautoritären Erziehung, wird genau das Gegenteil erreicht, die Kinder verhalten sich zunehmend aggressiv, auffällig und unausgeglichen in der Hoffnung, auf Grenzlinien zu stoßen.[118]

Existieren keine verbindlichen Regeln, keine Absprachen und Gemeinsamkeiten, sondern ereignen sich statt dessen lediglich Mißerfolge, willkürliche Handlungen und Mißhandlungen, können Mangel an Einfühlungsvermögen, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle und Desinteresse entstehen. Erhalten Kinder nur Mißerfolge, wie Gruppenwechsel, Klassenwiederholungen etc. so entwickeln sich sehr schnell Minderwertigkeitsgefühle, welche oft durch aggressives, auffälliges Verhalten überspielt werden. Hat das Kind im Laufe seiner Entwicklung nie die Möglichkeit zur sozialen Integration und zu sozialem Erfolg und Anerkennung zu gelangen, entsteht schnell Aggression und Gewalt.

Wenn es Erwachsenen nicht gelingt, klare, für das Kind verständliche und gerechte Vereinbarungen, die das Zusammenleben regeln, zu finden, ist die Gefahr groß, daß Kinder sich nicht verstanden fühlen und schließlich aus dem Bemühen dazuzugehören, zu demonstrativen Aggressionsformen greifen. Daher ist die kindliche aggressive soziale Exploration sinnvoll, allerdings nur dann, wenn sie auf angemessene Reaktionen der Erwachsenen trifft.

Durch die fortschreitenden gesellschaftlichen Veränderungen werden Kinder immer mehr ihrer Kindheit beraubt. Das "Verschwinden der Kindheit" nimmt stetig zu, indem man den Kindern den Lebens- und Spielraum immer mehr einengt. Wo Kinder früher unbesorgt auf Straßen und Wegen und Wiesen spielen konnten, ist für viele Kinder die einzig gebliebene Möglichkeit ihr Kinderzimmer. Wo haben Kinder heute Möglichkeiten zu Geheimnissen, Freundschafts- und Gruppenerfahrung, Mustern und Vorbildern, Sinn und Unsinn.[119]

Besonders beeinflußt wird die Verinselung der Kinder durch die autonome mediale Versorgung. Ich möchte im folgenden Kennzeichen der Verinselung von Kindern nennen.[120]

  • Wenig Möglichkeiten zur eigenen Könnenserfahrung

  • Abnahme der Verantwortungserfahrung, denn die Welt im Fernsehen ersetzt das eigene Erleben.

  • Kaum argumentativer Widerstand der Eltern, weil alle fernsehen.

  • Schwindende Zuwendung: Eltern trennen sich, oder sie bleiben zusammen, obwohl die inneren Bedingungen für ein eheliches Zusammenleben längst nicht mehr gegeben sind.[121]

Das Neuartige der "modernen Kindheit" besteht in der Polarisation. Die Zeit der Geschlechtsreife tritt verfrüht auf, während die Entwicklung der geistigen, emotionalen, sprachlichen sowie sozialen Reife mit eklatanten Verzögerungen eintritt. Diese Veränderung ist auf die vielseitigen gesellschaftlichen Entwicklungen zurückzuführen, die eine Reizüberflutung bei Kindern auslösen kann, schränkt man die Fülle von Einflüssen und Reizen, denen die Kinder ausgesetzt werden, nicht erheblich ein. Nehmen Eltern und Erzieher diese Aufgabe nicht in die Hand, so verlieren Kinder die Sicherheit des Rückhalts der Familie. Durch den Verlust dieser Hilfe verlieren Kinder die notwendigen Orientierungen und Maßstäbe, um zu einem gesunden Selbstwertgefühl zu gelangen.[122]

Durch die "Verhäuslichung" der Kindheit werden soziale Kontakte weitgehend durch den Fernseher ersetzt. Die Folge dieser beschränkten Bewegungsfreiheit der Kinder zeigt sich in Bewegungsmangel und fehlenden Umwelterfahrungen. Somit wird der Raum für ausgelebte Kindheit immer kleiner.

"Das moderne Kind ist einsam oder fühlt sich benachteiligt. Es ist auf der Suche nach Ersatz für fehlende Mitmenschlichkeit und beschäftigt sich selbst mit Sachen und mit Medien, muß mit sich allein sprechen, kompensiert sein Auf-sich-allein-Geworfen-sein mit psychosomatischen Störungen und kanalisiert seine Zuwendungsbedürfnisse eher in Richtung unerwünschter Freunde, unangepaßtem Verhalten und Sehnsucht nach Geborgenheit, auch in kriminellen Nischen der gleichaltrigen Szene (Jugendbanden, Crash- Kids, Jugendsekten, Drogenmilieu, S- Bahn- Surf und Graffiti- Szene, rechtsradikale Gruppen...)."[123]

Durch die Aggressionen und Verhaltensauffälligkeiten lenken die im Stich gelassenen Kinder die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Vielleicht kann sich das Selbst- und Wertgefühl der Kinder doch noch durch aufmerksame und einfühlsame Erwachsene erwärmen. Damit wäre ein erheblicher Schritt getan, um die Spirale der kindlichen Gewalt zu unterbrechen.



[110] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.135/136

[111] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.121/122

[112] V. Oaklander; Gestalttherapie mit Kindern; 1981; S.84

[113] V. Oaklander; Gestalttherapie mit Kindern; 1981; S.84

[114] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.125

[115] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.124/125

[116] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.136

[117] G. Friderichs, R. Eichholz; Der Schrei nach Wärme; 1995; S.18

[118] J. Bensel; Unsere Kinder (Fachzeitschrift für Kindergartenpäd.); Vom Sinn kindlicher Aggressionen; 1994; S.24

[119] N. Postman; Das Verschwinden der Kindheit; 1993; S.146/147

[120] G. Friderichs, R. Eichholz; Der Schrei nach Wärme; 1995; S.35

[121] G. Friderichs, R. Eichholz; Der Schrei nach Wärme; 1995; S.35

[122] G. Friderichs, R. Eichholz; Der Schrei nach Wärme; 1995; S.35/36

[123] P. Struck; Erziehung gegen Gewalt; 1994; S.11/12

Ansätze zur Friedenserziehung und Aggressionsprävention

Um Kinder in ihrer Entwicklung in ihren gegebenen Lebenswelten begleiten zu können, sind präventive Formen wie die einer Friedenserziehung ebenfalls notwendig. Durch die einfühlsame Auseinandersetzung mit den Kindern und ihren Problemlagen kann es gelingen, ihnen bestimmte Einstellungen und Werte einer friedlichen Grundeinstellung zu vermitteln. Es soll darunter kein Aufzwingen bestimmter Meinungen verstanden werden, sondern ein Dialog zwischen Kind und Erwachsenem, der unterschiedliche Vorstellungen zuläßt, aber das Kind dazu anregt, sich Gedanken über bestimmte Themen zu machen.

Friedenserziehung bei Vorschulkindern

Die Entwicklung einer konkreten Friedenserziehung, die darauf abzielt, Kinder zu friedlichem und gewaltfreiem Verhalten zu erziehen, ist erst im Anfangsstadium. Der Begriff Friedenserziehung entwickelte sich zu Beginn der 70- Jahre aus dem Bemühen um neue Erziehungskonzepte, mit denen es gelingen sollte, Kindern einen dauerhaften Frieden näher zu bringen.

Am Beginn dieser neuen Entwicklung wurde Friedenserziehung als Vermittlung friedenspolitischer Inhalte verstanden und betraf demnach nur Kinder höherer Schulstufen. Es fehlte noch an Überlegungen, wie man bereits Vorschulkindern sinnvoll eine Friedenserziehung vermitteln könnte. Eine Friedenserziehung müßte allerdings viel ganzheitlicher ansetzen und vor allem schon beim Kleinkind eingesetzt werden können. Denn ein Kind ist von Geburt an bestimmten Bedingungen ausgesetzt, die zur Prägung seiner Verhaltensweisen beitragen. Es ist daher unbefriedigend, wenn Kinder erst in höherem Alter mit einer Erziehung zum Frieden konfrontiert werden.[124]

Als Grundlage einer Friedenserziehung muß die Förderung einer Konfliktfähigkeit ohne Anwendung von Gewalt gelten. Warum aber sind Aussagen von Erziehern wie "Schlagt euch nicht!" oder "Vertragt euch doch wieder!" so oft unwirksam? Zwei Gründe, wodurch blinde Aggression bei Kindern ausgelöst werden kann, sind einerseits die Angst, gekränkt, angegriffen oder verletzt zu werden, und andererseits die erlebte Kränkung oder Verletzung und der Angriff selbst. Eine engagierte Friedenserziehung müßte deshalb Überlegungen einstellen, wie man die kindliche Angst und Verletzungsgefahr weitgehend vermindern könnte, sodaß sich alle Fähigkeiten eines Kindes im Zusammenspiel mit Eltern, Erzieher, Gruppe, eben seinem gesamten Umfeld, optimal entwickeln können. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Konflikte kooperativ zu lösen, um Kindern ein angstfreies "Da- Sein" als Basis für eine gesunde und kindgerechte Entwicklung zu ermöglichen.[125]

Daß die Friedenserziehung noch in ihren Kinderschuhen steckt, sieht man besonders daran, daß Kinder zwar wissen, wie man Krieg spielt, jedoch keine Vorstellung davon haben, wie man Frieden spielt.

Die Aspekte einer Friedenserziehung von Heck/Schurig werden in ihrer "Friedenspädagogik" nach drei Kategorien unterteilt.[126]

  1. Die Vermittlung von Überzeugungen und Verhaltensweisen, mit denen wir den "Verführungen" von Gewalt entgegentreten können.

  2. Die Vermittlung von politischen Verfahrensweisen, mit denen wir die Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens durchsetzten können.

  3. Die Vermittlung von Kenntnissen, mit denen wir die Anlässe zu Kriegen beseitigen, bzw. den Mangel an Nahrung oder Arbeit oder die ungerechte Verteilung von Gütern.

In Bezug auf diese drei Kategorien können entscheidende Aspekte für eine Friedenserziehung, die sich auch für die kleinsten Kinder als nützlich erweisen, abgeleitet werden.

Erziehung zum Frieden ist eine Erziehung zur Empfindlichkeit, zum Mitleid, zum Leiden an der Gleichgültigkeit und Ängsten, bevor diese zur Aggression drängen. Erziehung zum Frieden bedeutet, Kindern eine Abneigung gegen die Gewalt einzugeben, vor allem gegen die physische. Erziehung zum Frieden bedeutet auch lernen müssen, ein gewisses Maß an Unrecht auszuhalten. Erziehung zum Frieden bedeutet aber nicht zu lernen, daß man mit Konflikten leben muß, um jeden Streit zu vermeiden. Kinder müssen erkennen worin ein Konflikt besteht, warum er notwendig und nicht so einfach zu lösen ist. Für diesen Prozeß, und auch dafür, um später in der harten und profitgierigen Gesellschaft, in der wir leben, zurechtzukommen, ist es manchmal auch notwendig kleine Streitigkeiten auszutragen. Auch wenn dadurch physische Gewalt notwendig wird. In diesem Sinne zeigt die Friedenserziehung Konflikte auf, um die dahinterstehenden Probleme erklärbar zu machen und um Lösungsprozesse in Gang zu setzen. Konflikte sollen als Chance für mögliche Veränderungen betrachtet werden und daher als Lernmöglichkeit für alle Beteiligten.[127]

Mit Konflikten leben heißt, sich auf den Mechanismus "Probleme verstehen-streiten-den Streit beenden" einzulassen. Diese Technik gilt von der Freundschaft bis hin zur Weltpolitik. Erziehung zum Frieden bedeutet Erziehung zur Politik nach dem Verständnis der Demokratie. Hauptbestandteile einer Friedenserziehung sind die aktive Teilnahme an Entscheidungs- und Mitbestimmungsprozessen. Erziehung zum Frieden bedeutet, Bereitschaft für Veränderungen aufzubauen. Die Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, sich selbst zu verändern und sich als Lernenden zu erachten.[128]

Einer der wesentlichsten Gesichtspunkte einer sinnvollen Erziehung der Kinder zum Frieden ist das Ansetzen dieser Zielperspektiven schon beim kleinsten Kind. Nicht erst in der Schule wird Gewalt und Aggression ein Thema für betroffene Lehrer, Eltern und Schüler. Auch im Kindergarten wäre diese Form der Erziehung sehr wichtig, da Kinder in diesem Alter noch am meisten beeinflußbar und prägbar sind. Es wäre nützlich, ihnen schon in diesem Entwicklungsstadium Werte wie den eines friedlichen Zusammenlebens, zu vermitteln.

Friedenserziehung setzt nicht allein in Alltagssituationen ein, sie vermittelt auch bewußt geplante Erziehungssituationen. Denn gerade die alltäglich geäußerten Interpretationen der Lebenswelt des Kindes beeinflussen stark seine eigenen Überzeugungen und Haltungen. Es muß daher besonders darauf geachtet werden, wie man bei Anwesenheit von Kindern über tägliche Ereignisse, wie zum Bsp. die Nachrichten, spricht. Kinder haben sehr feine Antennen, sie übernehmen ein bestimmtes, in Alltagssituationen vermitteltes Weltbild, das oft Erwachsene bilden, in dem sie es den Kindern vorleben. Mein Tip wäre daher, Kindern beim Verarbeiten dieser Alltagssituationen zu helfen, indem man ihnen z.B. Bilder aus Nachrichten genau erklärt und sie nicht mit unverdaulichen Themen alleine läßt. Denn es ist bewiesen, daß Kinder bereits durch ihre Alltagserziehung eine Sensibilität für Gewalt oder Unrecht initiieren.[129]

Konkrete Methoden der Aggressionsprävention im Umgang mit Vorschulkindern

Der Mensch verfügt über ein beträchtliches Potential an Wut, Ärger und Aggression, welches allzu oft an die Oberfläche rückt. Daß aber auch ein erstaunlich großes Potential an Liebe vorhanden ist, wird meistens unbeachtet gelassen. Diese beiden Potentiale sind aber sehr eng miteinander verbunden. Wie leicht können sich Liebende tief verletzen, oder wie einfach kann man unter der besten Absicht, und unter dem Deckmantel der Liebe enorme Verwüstungen anrichten. Nur was unter dem Namen der Liebe geschieht, ist von der Gesellschaft geschützt und wird nicht zu auffälligem, von der Norm abweichendem Verhalten gezählt.[130]

Unter diesen Umständen wird es immer schwieriger, präventiv der anwachsenden Aggressionsbereitschaft zu begegnen, da die Formen der Gewalt immer undurchschaubarer werden und zu vielfältig sind, als daß es möglich wäre, allgemeingültige Rezepte zu entwickeln. Trotzdem ist es wichtig, Aggression und Gewalt nicht resignierend hinzunehmen, denn es gibt eine Reihe von Möglichkeiten und Ansätzen für eine sinnvolle Begegnung mit dieser kindlichen Auffälligkeit.

Prävention ist keinesfalls eine neue Handlungsform. Viel eher erinnert sie an konventionelle Präventionsformen, wie die General- beziehungsweise Spezialprävention, deren Wirkung durch Strafandrohung erzielt wurde. Dieser herkömmlichen, bewertenden Prävention steht heute aber eine alternativ orientierte gegenüber, der es in erster Linie darum geht, das Leid eines Kindes zu verringern, und neue Formen des Zugehens auf Kinder vermitteln. Bei einer Prävention geht es um die Verbesserung von Lebensbedingungen und nicht um das Ausräumen von Auffälligkeitsauslösern. Besonders wichtig bei diesem Ansatz ist auch die Förderung des Zusammenspiels der helfenden Berufe und dem Schaffen von optimalen Entwicklungsbedingungen, wie zum Beispiel dem Sichern von Lebensräumen und Spielräumen für Kinder.[131]

Aus der Fülle von praktischen Angeboten möchte ich einige wichtige herausgreifen, die von Kindern mit Begeisterung angenommen werden.

Spiele zur Förderung von konfliktfreiem Sozialverhalten

Der Große und der Kleine

Abbildung 8: "Der Große und der Kleine"

Diese Zeichnung bietet vielerlei Beschäftigungsmöglichkeiten an. Das Bild könnte von Kind und Erzieher unter folgenden Aspekten betrachtet werden:

  • Wer könnte deiner Meinung nach der Große sein und wer der Kleine?

  • Wie fühlen sich die beiden?

  • Welche Absicht könnte sowohl der Kleine als auch der Große haben?

  • Was würdest du zu den beiden sagen, wie würdest du eingreifen?

  • Was kannst du tun, um in der Kindergruppe ohne Streit zu leben?

Spiele zur Förderung von Ruhe und Wahrnehmung

  • Der Baum

Du bist ein Baum und fest im Boden verwurzelt. Durch deine Wurzeln bekommst du Kraft und Stärke aus der Erde. Sanft wiegt dich der Wind hin und her, und manchmal kannst du auch einen gewaltigen Sturm aushalten. Du stehst fest verwurzelt in der Erde, nichts kann dich umwerfen. Deine Arme sind Äste, die das Sonnenlicht aufnehmen. Jetzt atmest du tief ein und wieder aus. Du atmest Licht- Energie. Viele kleine Tiere wohnen auf dir und fühlen sich wohl bei dir. Sie sind alle deine Freunde.

  • Der Schmetterling

Stell dir vor, deine Arme wären riesige Flügel. Beim Einatmen hebst du sie seitlich an den Oberschenkeln hoch bis weit nach oben, bis sich die Hände über dem Kopf berühren. Beim Ausatmen senkst du deine Arme wieder zurück in die Ausgangsposition.

  • Der Kreis

Wir stehen im Kreis und halten uns an den Händen. Während wir alle gemeinsam tief Luft holen, schwingen wir die Hände nach oben. Beim Ausatmen lassen wir sie wieder fallen und singen dabei einen vereinbarten Vokal, z.B. ahh, bis die Luft verbraucht ist.

Das Außenseiterspiel

Gruppengröße: Kleingruppe; 6-12 Kinder

Zeit: ca. 20 Minuten

Ziel: Nachvollziehen können, was ein Außenseiter erlebt und wie er sich fühlt.

Besondere Hinweise: In der Kindergruppe sollte große Vertrautheit herrschen.

Spielregeln: Ein Kind der Gruppe, das über ein großes Selbstwertgefühl verfügt, wird als "Außenseiter" gewählt. Während alle Kinder bei laufender Musik im Gruppenraum umhergehen und sich gegenseitig auf verschiedenste Weisen begrüßen, versucht der "Außenseiter" auch eine Hand oder Umarmung zu erhaschen. Gelingt ihm der Versuch, hat er gewonnen. Gelingt es den anderen ihn abzuwehren, so hat die Gruppe gewonnen.

Anregungen für die Verarbeitung: Anschließend sollten sich die Kinder im Stuhlkreis mit den Gefühlen des Außenseiters auseinandersetzten.

  • Wie hat der "Außenseiter" versucht, Kontakt aufzunehmen? Bei wem?

  • Wie haben die angesprochenen Kinder darauf reagiert?

  • Wie hat sich der "Außenseiter" dabei gefühlt?

  • Wie empfanden die restlichen Kinder ihre Kontakte?

  • Habt ihr ähnliche Situationen wie diese schon einmal erlebt?

Spiele haben einen ganz besonders wertvollen Charakter für das Lernen von sozialem Verhalten innerhalb einer Kindergruppe. Kindern wird es dadurch erleichtert, sich an bestimmte Gruppenregeln zu halten, und sie üben spielerisch Situationen einer gewaltfreien Konfliktlösung ein. Da die meisten Kinder an dem Defizit leiden, nicht genügend soziale Erfahrungen machen zu können, können sie in der Kindergruppe dieses Defizit ausgleichen und dabei lernen, sich in eine gesellschaftliche Gruppe einzugliedern.

Wut und Ärger im Bilderbuch

Kindergärtnerinnen und andere Erzieher sind in ihrem täglichen Umgang mit kleinen Kindern daran gewöhnt, daß sie mit vielerlei Aggressionen und anderen Auffälligkeiten ihrer "Sprößlinge" konfrontiert werden. Ich möchte anhand von zwei Bilderbüchern zum Thema Wut und Aggressionen von Kindern einen Weg nennen, wie Erzieher ihren Kindern in untragbar gewordenen Altagssituationen helfend begegnen können. Da Kinder aus Bilderbüchern, die aus ihrer Erlebenswelt gegriffen sind, sehr viel Hilfe erhalten können, dienen diese beiden Bilderbücher einer äußerst wirksamen präventiven Methode für den Umgang mit kindlichen Aggressionen.

Anna und die Wut. (von Christine Nöstlinger)

Die Hauptfigur dieses Bilderbuches stellt ein kleines Mädchen namens Anna dar. Ihr größtes Problem, das sie nicht in den Griff bekommt, ist, daß sie sehr schnell sehr, sehr wütend wird. Alle leiden unter diesem Problem, am allermeisten Anna selbst. Nachdem letztendlich kein Kind mehr mit Anna spielen will, beschließt sie, etwas gegen ihre Wut zu unternehmen. Aber alle ihre Versuche scheitern. Da schenkt ihr der Großvater eine Trommel. Immer wenn Anna wütend wird, will sie nun trommeln. Anfangs fällt ihr das Trommeln noch schwer, aber mit der Zeit findet sie sogar Spaß daran. Je besser sie im Umgang mit ihrer Wut wird, desto schöner wird ihr Trommeln.

Dieses Buch versucht auf eine heitere Art und Weise aufzuzeigen, daß es andere Wege geben muß, mit Aggressionen umzugehen. Durch Gespräche zwischen der Erzieherin und den Kindern der Gruppe im Anschluß an das Lesen des Buches wird die Gelegenheit geboten, gemeinsam Strategien im Umgang mit Aggressionen auszudenken. Ähnliche Bildungsinhalte bietet die Geschichte eines kleinen, aggressiven Jungen, der von zu Hause ausreißt.[132]

Spinki zieht aus. (von William Steig)

Spinki ist sauer auf seine Familie. Niemand nimmt ihn ernst und nimmt Rücksicht auf ihn. Darum zieht er eines Tages in den Garten, in seine Hängematte. Doch nicht einmal da hat er seine Ruhe, denn plötzlich ist er seiner Familie sehr wichtig. Alle wollen ihn mit einer Fülle von Tricks wieder zurückgewinnen. Mit welchem Trick es schlußendlich Spinki selbst gelingt, aus dieser schwierigen Situation herauszufinden, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren, wird nicht verraten.

In diesem Bilderbuch wird sehr schön verdeutlicht, mit welchen Methoden Erwachsene oft versuchen, ihre Kinder zu beeinflussen. Daher sollen sich vor allem die Erwachsenen die Schlußpointe dieses Buches zu Herzen nehmen. Bei den Illustrationen des Bilderbuches wird vollständig auf das Kindchenschema verzichtet, und Spinki zeigt sehr eindrucksvoll in seiner Mimik, was in ihm vor sich geht. Positiv ist vor allem, daß er sein Problem selbst in die Hand nimmt und löst und auf die Ratschläge der Erwachsenen verzichtet. Das Thema des Bilderbuches behandelt ein nicht allzu oft zur Sprache gebrachtes Problem, die Ambivalenz, die Kinder ihren Eltern entgegenbringen. Spinkis eigenständiges Handeln beweist, daß er sich mit seiner gegebenen Situation auseinandersetzt.[133]

Entspannungsübungen im Kindergarten

Daß Entspannungsmethoden, wie autogenes Training etc. im Kindergarten eingesetzt werden können, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Es wird immer davon ausgegangen, daß Kinder im Vorschulalter einen immensen Bewegungsdrang verspüren. Deshalb wird das Hauptaugenmerk der Arbeit im Kindergarten darauf gerichtet, diesen Bewegungsdrang der Kinder zu stillen. Den ebenso notwendigen Ruhebedürfnissen und Entspannungsmöglichkeiten der Kinder wird zu wenig Beachtung geschenkt.

Die Verhaltensstörungen im Kindesalter nehmen bedenklich zu, wobei viele körperliche Symptome wie Bauchschmerzen etc. psychosomatisch zu verstehen sind. Die hektische Umwelt des kleinen Kindes bringt es mit sich, daß die Phantasie und Kreativität der Kinder immer mehr eingeschränkt wird. Diese Situation fordert pädagogische Maßnahmen, die präventiv wirksam sein sollten. Das Kind soll bewußt Gegensätze vermittelt bekommen. Besonders die Phasen des Tagesablaufes sollten solche Gegensätze beinhalten, zum Bsp. Ruhephasen und Bewegungsphasen. Aktivierenden Zeiten sollen daher entspannende folgen, die dem Kind ermöglichen sollen, ein inneres Gleichgewicht zu finden.

Jeder Mensch hat Ressourcen für Entspannungsmöglichkeiten in sich. Den einen entspannt ein heißes Bad, den anderen ein kleiner Spaziergang in der Natur. So können auch bei Kindern solche Ressourcen aktiviert werden.

Anders als bei Erwachsenen hat das autogene Training bei Kindern die ganzheitliche Lernerfahrung zum Ziel. Autogenes Training im Sinne von J.H. Schulz ist bei Kindergartenkindern unmöglich. Die Entspannung bei Kindern muß noch von außen angeleitet werden. Daher ist auch nicht die Rede von autogenem Training sondern von unterschiedlichen Entspannungsmethoden. Da Kinder den Sinn von Entspannungsübungen nicht verstehen, müssen sie spielerisch motiviert werden.[134]

Stilleübungen

Die Kinder sitzen im Stuhlkreis oder liegen am Boden und halten ihre Augen geschlossen. Es wird nichts gesprochen, die Aufmerksamkeit richtet sich auf die spürbare Stille. Es soll darauf geachtet werden, welche Geräusche jetzt noch wahrgenommen werden. Diese bewußt erlebte Stille entspannt die Kinder. Diese Übungen können auch dadurch erweitert werden, daß verschiedene Gegenstände, wie z.B. ein Luftballon oder ein Stein, mit geschlossenen Augen von den Kindern betastet werden.[135]

Körperübungen

Bei diesen Partnerübungen wird die Aufmerksamkeit der Kinder auf den eigenen Körper fokussiert. Zwei Übungen, mit denen ich persönlich gute Erfahrungen gemacht habe, sind folgende:

Ein Kind legt sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken, während das andere Kind ihm mehrere Bierdeckel auf den Bauch legt. Das liegende Kind soll während der Übung sehr ruhig atmen, damit die Deckel nicht herunterfallen.

Bei der anderen Übung können sich die Kinder abwechselnd mit Massagebällen massieren. Dabei wird der gesamte Körper, vom Kopf bis zu den Zehen, vorsichtig mit dem leicht kreisenden Ball berührt.

Um zwischendurch auch dem Bewegungsdrang der Kinder gerecht zu werden, können Bewegungsspiele eingesetzt werden. Als Beispiel möchte ich die Yogaübung "Der Löwe" anführen.

  • "Der Löwe"

Das Kind beugt sich im Fersensitz ausatmend leicht nach vorne, wobei es die Augen und den Mund weit aufreißt und mit wildem Löwengebrüll die Finger zu Krallen spreizt. Damit nimmt es eine Angriffshaltung ein. Brüllend richtet es sich dann auf, legt seine Hände, deren Finger die Barthaare des Löwen darstellen sollen, links und rechts um den Mund. Zuletzt beendet es diese Phase der Anspannung in entspannter, aufrechter Haltung wieder im Fersensitz.[136]

Thematische Übungen (Wärme-, Atem- oder Schwereübung)

Ich möchte diese Formen der Entspannung nicht anführen, da ich der Überzeugung bin, ein Kind des Vorschulalters damit noch zu überfordern. Da es eine solche Vielfalt von Möglichkeiten der Entspannung auch für Kindergartenkinder gibt, verzichte ich auf diese speziellen Formen. Statt dessen möchte ich noch die Phantasiegeschichten als beliebte Entspannungsübung bei Kindern nennen.

Phantasiegeschichten

Ich möchte nun keine speziellen Anregungen für den Inhalt von Phantasiegeschichten angeben, sondern ein paar Tips, worauf bei dieser Form der Entspannung geachtet werden sollte. Wiederum legen sich die Kinder mit geschlossenen Augen auf den Boden. Am besten beginnt man mit einer 1- minütigen Stilleübung, um die Konzentration der Kinder zu gewinnen. Die Formulierung der Geschichte sollte möglichst offen gestaltet sein, damit die Vorstellungskraft der Kinder angeregt werden kann. Der Schluß der Geschichte sollte offen gelassen werden, und den Kindern in der ruhigen Atmosphäre die Möglichkeit geschaffen werden, das aufzuzeichnen, was sie nun gesehen hätten. Wesentlich ist auch, daß sich die Kinder mit dem Helden der Geschichte identifizieren können, um dessen Entspannung nachfühlen zu können.

Wichtig ist, daß nach einer Pause die Entspannung durch bewußtes "Zurücknehmen" beendet wird. Durch ein Recken und Strecken werden die Kinder wieder aktiviert.

Entspannungsübungen dieser Art können, meiner Erfahrung nach, mit der gesamten Kindergruppe durchgeführt werden, da Kinder sehr aufgeschlossen für etwas Neues sind. Besonders positiv wirkten solche Methoden bei auffälligen Kindern meiner Gruppe. Auch sie fanden immer zur Ruhe, und gerade ihnen tat die Entspannung sichtlich gut.

Nachdem ich nun einige praktische, präventive Interventionsmöglichkeiten genannt habe, möchte ich auf die wesentliche Entwicklung einer interdisziplinären, ganzheitlichen Förderdiagnostik in Bezug auf verhaltensauffällige Kinder hinweisen. Für eine solche mehrdimensionale Auseinandersetzung mit Verhaltensauffälligkeiten, muß die Person in ihrer Gesamtheit und mit ihren persönlichen sozialen Bezügen betrachtet werden. Um dies in die Realität umzusetzen, werden Formen der multiprofessionellen Zusammenarbeit notwendig. Es wird wohl noch lange dauern, bis sich dieser Prozeß im psychosozialen Bereich durchsetzt und die daraus resultierenden Chancen für das Kind genützt werden.



[124] C. Büttner; Mit aggressiven Kindern leben; 1993; S.80

[125] C. Büttner; Mit aggressiven Kindern leben; 1993; S.84

[126] G. Heck, M. Schurig; Friedenspädagogik; 1991; S.107-125

[127] G. Friderichs, R. Eichholz; Der Schrei nach Wärme; 1995; S.72/73

[128] G. Heck, M. Schurig; Friedenspädagogik; 1991; S.107-125

[129] G. Friderichs, R. Eichholz; Der Schrei nach Wärme; 1995; S.74

[130] G. Friderichs, R. Eichholz; Der Schrei nach Wärme; 1995; S.87

[131] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.134

[132] H. Pföstl; Unsere Kinder (Fachzeitschrift für Kindergartenpäd.); 2-1994; Wut und Ärger im Bilderbuch; S.41

[133] S. Schiefermayr; Unsere Kinder (Fachzeitschrift für Kindergartenpäd.); 2-1994; Wut und Ärger im Bilderbuch; S.41

[134] M. Moratelli; Unsere Kinder (Fachzeitschrift für Kindergartenpäd.); 1-1996; S.10

[135] M. Moratelli; Unsere Kinder (Fachzeitschrift für Kindergartenpäd.); 1-1996; S.10

[136] M. Moratelli; Unsere Kinder (Fachzeitschrift für Kindergartenpäd.); 1-1996; S11/12

Therapie versus Begleitung - Möglichkeiten einer interdisziplinären Vorgangsweise

Netzartige Interventionsformen - Möglichkeiten einer professionsübergreifenden Zusammenarbeit

Eine wesentliche Erkenntnis zur Betrachtung kindlicher Verhaltensstörungen wäre eine Erweiterung des Blickfeldes vom Kind auf seine sozialen und gesellschaftlichen

Abbildung 9: Das sozio-ökologische Feld des Kindes (Familie, Peergroup, Schule, Gemeinde, Gesellschaft)

Lebenszusammenhänge. Diese Änderungen müßten sich in den Kompetenzen der helfenden Berufe und deren praktizierten Interventionsformen niederschlagen (siehe Krise der helfenden Berufe). Um dies zu verwirklichen, wird das Verständnis, daß kindliches Verhalten nur aus seinem sozialen Umfeld, also der Familie im sozialen Netzwerk, zu erfassen und zu verstehen ist, notwendig. Ein solches Verständnis, das Individuum, Familie, Schule, Kindergarten, Gemeinde, etc. als sogenanntes "social network" versteht (Abbildung 9), verändert grundlegend die Kompetenzerwartungen an die helfenden Berufe. Interventionsformen sollen nicht mehr am Individuum, dem verhaltensauffälligen Kind, isoliert ansetzen, sondern sie erfordern Techniken, die darauf abzielen, das gesamte System zu verändern.

Diese Perspektive, die sich am "ganzen" Menschen orientiert, braucht daher "Helfer", die den Fokus ihrer Betrachtung nicht mehr auf Teilaspekte eines Systems stellen, sondern die Bedeutung der lebensweltlichen Kontexte des Kindes in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen. Dies erfordert eine Auflösung der starren Grenzen der verschiedenen Professionen.

Trotz dieser vielfältigen Modelle existiert bis heute noch kein fundierter Ansatz einer disziplinenüberschreitenden Förderdiagnostik. Dies liegt mitunter an der diffusen Terminologie, die für dieses Entwicklungskonzept verwendet wird. Begriffe wie Multi-, Inter-, Trans- und Polydisziplinarität bezeichnen die unterschiedlichen Formen.[137]

Eine wesentliche Unterscheidung dieser Begriffe ist aber notwendig. Melvin (1980) ist es gelungen, den bedeutenden Unterschied zwischen multidisziplinären und interdisziplinären Vorgangsweisen zu verdeutlichen. Der Terminus Multidisziplinarität charakterisiert das Nebeneinander- Arbeiten verschiedener Berufsgruppen des psychosozialen Dienstes in einer gemeinsamen Institution. Jeder Experte wird dabei aber nur in seinem speziellen Fachgebiet tätig. Interdisziplinäres Arbeiten hingegen beschreibt eine Integration der Arbeit der unterschiedlichsten Professionen in einem Teamansatz, wobei die Disziplinengrenzen aufgehoben werden. Es genügt daher nicht, daß die verschiedenen Fachleute einem gemeinsamen Arbeitskontext ausgesetzt sind, sondern erst ein integrativer Gruppenprozeß wird der Forderung nach Interdisziplinarität gerecht.[138]

Besonders im Hinblick auf die kindliche Entwicklung, deren Schritte sich so individuell vollziehen, wird dieses interdisziplinäre Handeln notwendig. Im Kontext einer ganzheitlichen und kontextorientierten Entwicklungsförderung sollte daher interdisziplinäre Kooperation und interdisziplinäre Koordination stattfinden.

Professionsübergreifende Kooperation

Der Begriff Kooperation bezeichnet äußerst komplexe Interaktionen von Personen, Gruppen oder Institutionen. Mit ihrer Hilfe können bestimmte Ziele adäquater erreicht werden, als es mittels einzelner Personen oder Institutionen möglich wäre. Eine solche disziplinenübergreifende kooperative Entwicklungsförderung ist aber nur möglich, wenn die "Helfer" die Bedeutsamkeit der notwendigen Vernetztheit der unterschiedlichsten Lebensbereiche kennen. Komplexe Verhaltensweisen von Kindern sind daher niemals mit Hilfe der Einzeldisziplin erklärbar. Auf diesem Wege werden die professionsspezifischen Grenzen mehr und mehr aufgehoben. Diese Methode erfordert integrative Fertigkeiten und die Erkenntnis, wie man ein Ergebnis aus den verschiedenen Gruppenaktivitäten gewinnt, das größer ist als die Summe der einzelnen Aktivitäten.[139]

Interprofessionelle Kooperation ist auf zwei unterschiedlichen Ebenen realisierbar.[140]

  • Interdisziplinäre Kooperation in Form eines institutsgebundenen Teams, das sich aus verschiedenen Berufsgruppen zusammensetzt.

  • Interdisziplinäre Kooperation von Experten unterschiedlicher Institutionen, die sich jeweils wegen bestimmter Fragestellungen treffen und gemeinsam intervenieren.

Beide professionsübergreifenden Formen der Entwicklungsförderung haben zum Ziel, die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten, die sich aus ihren unterschiedlichen Ausbildungen ergeben, zu nutzen. Eine solche komplizierte Verknüpfung verschiedener Berufe und ihrer Vorgangsweisen setzt eine Vielzahl an Basiskompetenzen, besonderen Kenntnissen und Fertigkeiten personaler und berufsspezifischer Art voraus. Schon in Ausbildungsstätten müßte berücksichtigt werden, daß für eine Interdisziplinarität offenere und berufsübergreifende Ausbildungen eingeführt werden. Dafür sollte eine weitgehende inhaltliche Annäherung und eine sinnvolle Verknüpfung von fachspezifischen und fachübergreifenden Seminaren stattfinden.[141]

Professionsübergreifende Koordination

Neben der oben dargestellten interdisziplinären Kooperation kommt auch der interdisziplinären Koordination, im Rahmen der Entwicklungsförderung, ein wesentlicher Stellenwert zu.

Jeder Mensch steht nicht nur für sich allein, sondern er ist eingegliedert in ein bestimmtes System, ein sogenanntes soziales Netzwerk. Gerade Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten befinden sich in einem System, dessen Mitglieder nicht stumm sein Verhalten hinnehmen, sondern in irgend einer Weise darauf reagieren und es dadurch beeinflussen.

Die herkömmliche Auseinandersetzung mit solchen kindlichen Verhaltensauffälligkeiten stützt sich auf ein breites Interventionsangebot der helfenden Berufe, dessen verschiedene Methoden und Behandlungsmöglichkeiten meistens additiv und voneinander unabhängig angewandt werden. Für eine lebensweltorientierte Entwicklungsförderung muß diese auf Teilbereiche fixierte Förderung überwunden werden.

Deshalb kommt der professionsübergreifenden Koordination eine so wesentliche Bedeutung zu. Koordination innerhalb der helfenden Berufe zielt auf eine gemeinsame Erarbeitung von Beratungs- und Therapiekonzepten ab. Die beteiligten Institutionen erarbeiten nicht nur die Handlungsansätze gemeinsam, sie arbeiten auch gemeinsam in therapeutisch- beratenden Methoden mit den betroffenen Familien.[142]

Koordination bezieht sich jedoch nicht nur auf klientenorientierte Förderkonzepte, sondern auch auf strukturelle Handlungsansätze. Um solche zu erarbeiten, treffen sich die unterschiedlichsten Vertreter der helfenden Professionen zu einer gemeinsamen Konferenz, die Lebenswelt der Menschen, ihre Gemeinde, ihren Stadtteil unter problemlösenden und entwicklungsfördernden Aspekten zu sehen und zu gestalten. Um eine solche Entwicklung in Gang zu setzen, muß vorerst die große Isolation, die zwischen den verschiedenen Berufssparten des psychosozialen Bereichs besteht, überwunden werden. Die Grenzen der einzelnen Disziplinen zu überschreiten, muß als Bereicherung angesehen werden, nicht als Abwertung des erlernten Berufes.[143]

Gelingt dieser Prozeß der Gruppenarbeit, dann können neue Förderungs- und Unterstützungskonzepte gemeinsam erarbeitet werden. Dabei geht es nicht darum, möglichst viele Angebote zu machen, sondern mit geringster Unterstützung die Selbsthilfepotenziale und Familienressourcen zu aktivieren und anzuregen. Die jeweils spezifischen Kompetenzen der einzelnen Professionen sollen unterstrichen und ausgebaut werden. Eine der wesentlichsten Bedingungen für eine sinnvolle interdisziplinäre Koordination und Kooperation stellt die Teamfähigkeit der "Helfer" dar. Nur wenn ihre Zusammenarbeit gesichert ist, kann auch eine interdisziplinäre Entwicklungsförderung einen Sinn machen.[144]

Sowohl die professionsübergreifende Kooperation als auch Koordination erfordert folgende Kompetenzen von den helfenden Berufen.[145]

  • Pädagogische und therapeutische Basiskompetenzen, die den "Helfer" befähigen, sich auf die spezifischen Probleme seiner Klienten einzulassen.

  • Basiskompetenzen für spezifische Arbeitsformen, welche die "Helfer" zu interdisziplinärer Kooperation oder Zusammenarbeit mit Betroffenen befähigen.

  • Kompetenzen für Lebenszusammenhänge, welche die "Helfer" für die Perspektive der Betroffenen sensibilisieren und eine ganzheitliche Betrachtung des Geflechts der psychosozialen Wirklichkeit ermöglichen. Dies setzt Kenntnisse und Erfahrungen von und in den vorgegebenen Lebenswelten voraus.

  • Kompetenzen für praktische Sozialpolitik, welche den "Helfern" ermöglichen, aktiv und intuitiv an politischen Prozessen der Betroffenen teilzunehmen, wie dies in Selbsthilfegruppen im Gesundheits- und Erziehungswesen geschieht.

Um all diese Forderungen erfüllen zu können, müßte also ein netzartig aufgebauter Versorgungsdienst entstehen. Solche gemeindenahen Versorgungsdienste können aber nur über Jahre realisiert werden. Die theoretische Erarbeitung ist ein langwieriger Prozeß, der sich erst allmählich entwickelt. Dies gilt auch für die praktische Realisierung netzbezogener Interventions- und Organisationsstrukturen. Deshalb kann eine Umkehr nur in kleinen Schritten vollzogen werden.[146]

Perfekte Therapie versus Begleitung von Familien in Lebenskrisen

Viele "Problemkinder" werden auf den ersten Blick folgendermaßen beschrieben: Es handelt sich um ein Kind mit einer schwerwiegenden "Verhaltensstörung", die zu erheblichen Beeinträchtigungen im sozialen Kontakt geführt haben. Bedingt durch die Unsicherheit und Hilflosigkeit der Familie wird nichts unternommen. Aus dem Gefühl heraus, es müsse etwas getan werden, blockieren die Eltern entweder von vornherein oder gehen widerwillig zu einer Beratungsstelle oder einem Arzt, wo sie dann die Diagnose "verhaltensgestört" erhalten, die dann dementsprechend behandelt wird. Eine Vielzahl von solchen Konstellationen treten in Kindergärten, Horten oder Kinderkrippen auf. Das Problem sind mangelnde Konzepte für einen adäquaten Umgang mit dem Kind in seinen Lebenskrisen.

Werden Kinder nach solchen Gesichtspunkten behandelt, so wird meistens eine medizinische oder therapeutische Intervention folgen. Dies ist in einigen Fällen sicherlich berechtigt, in der Regel sollte aber vorerst mittels Familienbegleitung interveniert und somit geholfen werden. Beide Konzepte einer Entwicklungsförderung beziehungsweise Entwicklungsdiagnostik werden im folgenden vorgestellt, wobei ich darauf eingehen möchte, wann welche Form die jeweils sinnvollere darstellt.

Therapie für verhaltensauffällige Kinder

Für bestimmte Familien mit Problemkindern sind Therapien unumgänglich. Begleitung, für die ich ansonsten an erster Stelle plädiere, ist schon wegen der unterschiedlichen Beweglichkeit der zu behandelnden Familie nicht immer möglich, da manche Familienmuster schon so erstarrt sind, daß nur mehr Therapie Bewegung in sie hineinbringt.

Für die Wahl einer bestimmten Therapieschule, kann ich folgenden Tip geben. Nicht die gewählte Therapierichtung kann einen Erfolg der Behandlung gewähren, sondern das Einbeziehen der Familiendynamik ist das wesentliche Kriterium einer erfolgreichen Therapie. Wenn die Familiendynamik geklärt wird, ist es daher völlig gleichgültig, ob nun die Pschoanalyse, die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie, eine Gestalttherapie, ein systemischer Ansatz oder andere Schulen gewählt werden.

Meine bevorzugte Wahl einer Therapieform würde der "Systemischen Familientherapie" gelten. Die Perspektive einer systemischen Diagnostik geht über intraindividuelle Faktoren hinaus und setzt sich in erster Linie mit den interpersonellen Beziehungen innerhalb eines bestimmten Systems, zum Beispiel der Familie, auseinander.

In den letzten 30 Jahren ist die Bedeutung der Familientherapie geradezu stürmisch gewachsen. Aus dieser Entwicklung ergibt sich eine Vielzahl an therapeutischen Möglichkeiten. Die unterschiedlichen systemischen Therapiemethoden stützen sich alle gleichsam auf eine Änderung der familiären Muster, Strukturen und Systemregeln, die in den betroffenen Systemen zu starr, und daher einem Subsystem zum Problem geworden sind. Nach systemischem Verständnis ist es daher nicht mehr sinnvoll, das Problem im Indexpatienten allein zu suchen, das Augenmerk muß auf alle Subsysteme gelegt werden, wobei ganz besonders den verschiedenen Beziehungen und dadurch entstehenden Verhaltensmustern Aufmerksamkeit geschenkt werden muß.

Zum Teil werden direkte Verfahren angewandt, die schon in wenigen Sitzungen erhebliche Verhaltensänderungen hervorrufen können. Darauf werde ich im weiteren noch genauer eingehen. Das wesentlichste Ziel der systemischen Therapie ist, eigene Problemlöseressourcen der Familie anzuregen und zu aktivieren. Ist dieser Prozeß einmal in Gang gebracht, so gelingt es den Familiensystemen meistens, ihre starren Verhaltensmuster zu modifizieren.[147]

Daraus ergeben sich folgende Prämissen für die therapeutische Arbeit mit Klienten:[148]

  • Jeder Mensch hat ganz individuelle Vorstellungen von sich selbst, den anderen, dergesamten Welt, die zu ganz spezifischen Verhaltensweisen führen.

  • Die je spezifischen Verhaltensweisen einzelner Menschen stehen in Verbindung mit wieder anderen Menschen, die ihre eigenen Vorstellungen haben.

  • Zwischen dem, was ich denke ,und dem, was ich tue, bildet sich ständig ein zirkulärer Prozeß, ebenso im Zusammenhang mit dem Denken und Handeln anderer.

  • So bilden sich sowohl auf der Ideenebene als auch auf der Verhaltensebene gemeinsame Muster.

Der zentrale Ansatzpunkt der systemischen Therapie stellt daher das soziale Beziehungsgefüge des sozial auffälligen Kindes dar. Ziel dieser Therapiemethode ist die Umstrukturierung des familiären Systems, um so das auffällige Verhalten des Kindes zu verändern.

Im folgenden werden nun therapeutische Dimensionen und Zielsetzungen wie auch spezielle Techniken der Familientherapie kurz vorgestellt.

Diagnostische Dimensionen und therapeutische Ziele

Für den Umgang mit Systemen, in denen sich Kinder plötzlich auffällig zeigen, sind wichtige Aspekte von systemischen Therapeuten herausgearbeitet worden. In erster Linie kommt der Allparteilichkeit des Therapeuten eine besondere Bedeutung zu. Dieser Begriff bedeutet, daß der Therapeut niemals für eine oder mehrere Personen eines Systems Partei ergreifen darf. Dadurch entgeht er der Gefahr, sich selbst in den gegebenen Familienstrukturen zu verstricken. Er soll immer in einer neutralen Position und außerhalb des betreuten Systems bleiben.[149]

Ein weiters wichtiges Arbeitsprinzip der Therapie ist die positive Bewertung aller wahrgenommenen Verhaltens- und Interaktionsformen aller Beteiligten, da jedes Subsystem einen wesentlichen, stabilisierenden Beitrag zur Erhaltung seines Systems erfüllt. Außerdem wird dadurch der Zugang zum System wesentlich erleichtert[150]

Das Ziel der Therapie besteht dann darin, die meist rigiden, starren, sich ständig wiederholenden Verhaltensweisen zu durchbrechen und die Familie dazu anzuregen, neue und förderlichere Interaktionsmuster zu entwickeln. Der Therapeut gibt dabei keinerlei Hilfestellungen, er macht nur mittels gezielter Fragestellungen Anregungen, welche die Familie auf ihre starren Verhaltensmuster aufmerksam macht. Den restlichen Prozeß der Entwicklung neuer Umgangsformen muß die Familie selbst vollziehen.

Die systemische Therapie hat für diesen Prozeß mehrere Handlungsmodelle für die Arbeit mit Familien entwickelt. Dafür wurden drei Behandlungseinheiten eingeführt:[151]

  1. die personale Ebene, auf der die individuumzentrierten Beobachtungen angesiedelt sind.

  2. die interpersonale Ebene, bei der die Interaktionen zwischen verschiedenen Subsystemen erklärt werden.

  3. die Systemebene, auf der das gesamte Familiensystem analysiert wird.

Es ist aber anzumerken, daß das System eines Kindes wesentlich größer ist als die Familie. Es besteht aus "peer- groups", Kindergarten, Schule und kann auf die Gemeinde, den Staat etc. ausgeweitet werden. Dieser Aspekt wird bei der Familientherapie etwas zu wenig berücksichtigt. Daher ist eigentlich der Begriff Familientherapie unzutreffend. Man müßte eigentlich von einer Interaktionstherapie, System- oder Ökotherapie sprechen, da mit der Familientherapie ein neuer erkenntnistheoretischer Zugang eröffnet wird, bei dem es darum geht, menschliches Verhalten aus der Sicht der Interaktion des Systems Individuum mit dem System Umwelt zu erklären.

Weitere wichtige Dimensionen der Familientherapie werden von Fritz B. Simon dargestellt. Große Bedeutung kommt dabei der Nähe- Distanz- Regelung innerhalb der Familie zu. Wird ein System eines Ehepaars um ein Kind ergänzt, so verändert sich das Nähe- Distanz- Verhältnis der beiden erheblich. Wo sie vorher eine Zweierbeziehung gelebt haben, wird daraus eine Dreierbeziehung. Durch die gemeinsame Sorge um das Kind, kann sich ihre Beziehung stark verändern. Sie können sich etwas voneinander distanzieren, sich aber auch durch das Kind näher kommen. Dabei kommen nun zwei Extreme in Betracht. Entfernen sich die Eltern zu weit voneinander, so geraten sie in eine Isolation, geraten sie dagegen zu nah aneinander, erleben sie eine phantasierte "Verschmelzung". Gerade in solchen Beziehungen können Kinder durch ihr Symptom leicht zum Distanzregler werden. Die gemeinsame Sorge um das "kranke" Kind verdeckt dann mögliche Ehekonflikte.[152]

Es wird mit dieser Dimension deutlich, daß jedes Verhalten eines Subsystems das Gesamtsystem beeinflußt. Ziel der Familientherapie muß daher sein, den Eltern eine neue Nähe- Distanz- Regelung nahezulegen, die unabhängig vom auffälligen Verhalten des Kindes und für beide befriedigend ist.

Eng damit verbunden sind bestimmte Verhaltensmodi der Bindung und Ausstoßung. Diese zentrifugalen und zentripetalen Kräfte müssen von der Familie ausbalanciert werden. Dem Wunsch nach Nähe entsprechen die zentripetalen oder bindenden Interaktionsmodi, dem Wunsch nach Distanz, zentrifugale oder ausstoßende (Stierlin, 1973 und 1977).

Diese beiden Modi können ein Kind entweder zu stark an die Familie binden oder es auch durch ständige Heimdrohungen ausstoßen. Doch oft liegt hinter einer Ausstoßung des Kindes eine besonders große Bindung, und die gedrohte Ausstoßung ist die letzte Möglichkeit eines Elternpaares, die eigene Autorität darzustellen. Umgekehrt bietet sich für das stark gebundene Kind nur noch massive Aggression und Abgrenzung als letzter Ausweg, ein Stück Autonomie zu bekommen.[153]

Da Kinder häufig sehr emotional auf elterliche Umgangsformen reagieren, wird die Notwendigkeit einer Verhaltensauffälligkeit, bei ungünstiger Balance dieser beiden Interaktionsmodi, verständlich. Einerseits könnte das älter werdende Kind durch die zu starke Bindung der Eltern seine Autonomie verlieren, andererseits steht durch Trennungsdrohungen der Familie die Familie als Ganzes auf dem Spiel. Bei beiden Formen wird eine kindliche Verhaltensauffälligkeit überlebensnotwendig und ist ein deutliches Signal eines Kindes, daß es mit seiner bestimmten Lebenswelt nicht mehr zurechtkommt. Das Kind wird in einer solchen Situation nur die Notwendigkeit einer Veränderung spüren. Dies drückt es dann in seiner Verhaltensstörung aus.[154]

Gelingt es dem Therapeuten, die Eltern auf ihre Beziehungsmuster aufmerksam zu machen, so kann sich die elterliche Beziehung entspannen und verändern. Eine neue und für das Kind förderlichere Balance der beiden Interaktionsmodi kann gefunden werden.

Eine weitere Dimension des therapeutischen Prozesses sind die Generationsgrenzen. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie mit den Generationsgrenzen umgegangen werden kann. Die eine Form ist, daß Kinder Funktionen übernehmen müssen, die nicht der kindlichen Rolle entsprechen. So müssen ältere Geschwister auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen oder gelten als Partnerersatz für ein Elternteil. Auch kommt es oft vor, daß ein Kind als Art "Koalitionspartner" für ein Elternteil gelten muß und ständig von ihm gegen das andere Elternteil aufgehetzt wird. In solchen Situationen sind Kinder absolut überfordert.[155]

Die zweite Möglichkeit ist die, die Generationsgrenzen zu starr zu setzen. Dem Kind kann es dann nicht mehr gelingen, die elterlichen Funktionen zu durchschauen, was ebenfalls pathologische Folgen hat.

Ziel einer Therapie muß es daher sein, in der Familie die Bildung einer Generationsgrenze zu unterstützen, die für alle Beteiligten klar durchschaubar, jedoch nicht zu starr und auch nicht zu locker gestaltet wird. Eltern und Kinder sollen sich als gleichwertige Partner ansehen und auch so miteinander umgehen. Dabei ist es wichtig, daß Eltern ihren Kindern einen Orientierungsrahmen zur Verfügung stellen, an den sich die Kinder halten können.

Der Entwicklungsprozeß jedes Kindes, wie auch seiner Familie, erfordert ständige Modifikationen der Interaktionsmuster und Verhaltensweisen des Gesamtsystems, durch die ständige Weiterentwicklung des Kindes und seine dadurch veränderte Persönlichkeit. Es wird eine ständige Neustrukurierung des kindlichen Weltbildes und der familiären Struktur notwendig. Kommt zum Beispiel ein Kind in die Pubertät und wird es langsam erwachsen, so erfordert diese Situation eine grundlegende Veränderung der gesamten Familienstruktur. Besonders die Angst vor Trennung und der Wunsch nach mehr Autonomie müssen ständig modifiziert werden. Dieser Entwicklungsprozeß erfordert von allen Beteiligten eine ständige und kontinuierliche Veränderung der Strukturen des Denkens, Fühlens und Verhaltens. Die Art und Weise, wie gestern Nähe und Distanz geregelt wurde, kann heute dysfunktional sein, da sich die Bedürfnisse der Beteiligten verändert haben.[156]

Gerade im Hinblick auf diesen familiären Entwicklungsvorgang kommen dem Symptomverhalten eines Kindes zweierlei Funktionen zu. Das kindliche Problemverhalten kann einerseits Ausdruck einer familiären Anpassungsstörung sein und andererseits auch die Möglichkeit schaffen, sie zu überwinden. Somit ermöglicht eigentlich der sogenannte "Indexpatient" die Weiterentwicklung der gesamten Familie. Durch das problematische Verhalten eines Kindes können entwicklungshemmende Interaktionsmuster gefunden werden, wodurch eine Neustrukturierung des Verhaltens der Familie erst möglich wird. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, daß in jede Psychotherapie eines Kindes sein gesamtes System oder zumindest die komplette Familie miteinbezogen werden sollte.[157]

Zur konkreten Veränderung des dysfunktionalen Familiensystems kann es allerdings nur durch die Unterbrechung des sogenannten kybernetischen Regelkreises kommen. Deshalb werden bestimmte Aufgaben und Verordnungen gegeben, um diesen Kreislauf bewußt zu machen und zu unterbrechen. Die Patienten sollen zum Handeln gebracht werden, nicht nur zum Reden. Eine Systemänderung kann nur durch Verhaltensmodifikation erreicht werden.

Die Komplexität solcher dysfunktionalen Familiensysteme ist oft so groß, daß beim Versuch, diesen Prozeß zu unterbrechen, starke Widerstände entgegengesetzt werden. Veränderungen werden meistens als starke Bedrohung erlebt. Daher wirkt ein solches Familiensystem oft träge und unbeweglich hinsichtlich therapeutischer Interventionen. Gerade solche Systeme machen Therapie als letzten Ausweg unumgänglich. [158]

Das wesentlichste Ziel der therapeutischen Behandlung ist, den Knotenpunkt zu finden, der für das Erhalten des problematischen Familiensystems verantwortlich ist. Der schwierigste Schritt liegt darin, den Familienmitgliedern nahezubringen, Eigenverantwortung zu übernehmen, denn nur wer selbst handelt, kann aktive Veränderungen in Gang setzen. Daher hat der Therapeut die Aufgabe, jedem Familienangehörigen zu vermitteln, daß jeder einzelne das Familiensystem mitgestaltet und aufrechterhält. Keinem Subsystem kann es gelingen, die restlichen Mitglieder zu kontrollieren. Somit wirkt jeder einzelne auch bei einer nötigen Veränderung mit Eigenverantwortung und vor allem -initiative mit und ist damit fähig, zum Funktionieren des Systems beizutragen.

Grundannahmen der systemischen Therapie

Aus diesen Prämissen ergeben sich folgende Grundannahmen, die für das Gelingen einer Therapie besonderen Stellenwert haben.[159][160]

  • Die Behandlungseinheit ist nicht mehr eingeengt auf die einzelne Person, den Symptomträger, auch wenn gelegentlich nur eine Person interviewt wird, sondern auf das gesamte Beziehungsgeflecht, in das der Betroffene verflochten ist. Soll sich das Individuum ändern, muß sich das Umfeld, in dem es sich bewegt, ändern.

  • Wesentlich für die Familientherapie ist, die Kommunikationsabläufe des Systems zu erfassen. Daher kommt dem elterlichen Subsystem eine Schlüsselrolle zu. Diesbezüglich läßt sich eine weitere Grundannahme ableiten. Dysfunktionale Ehesubsysteme können pathogene Auswirkungen auf die Kinder haben.

  • Wesentliche Grundannahme der Familientherapie, die ebenfalls das Eltern-Kind-Verhältnis betrifft, ist die klare Definition der Generationsgrenze. Ob ein Familiensystem funktioniert oder nicht, hängt also auch davon ab, ob Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Generationen gemacht werden. Durch Parentifizierung eines Kindes wäre gegen diesen Grundsatz verstoßen, und das Kind würde als Partnerersatz ausgenützt. Es muß einem Elternteil als Ersatzpartner dienen.

  • Voraussetzung für das Funktionieren eines Familiensystems ist die besondere Beachtung des Elternsubsystems. Dies ist Voraussetzung für eine optimale Ausbalanzierung der Beziehungsstrukturen und somit ein wesentliches Merkmal des gesunden Zusammenlebens einer Familie.

Ein Kritikpunkt an der systemischen Therapie ist jedoch anzumerken. Sie vernachlässigt die Tatsache, daß familiäre Konfliktlagen immer auch in Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen sind. Gesellschaftlich übermittelte Lebensbedingungen haben einen großen Einfluß auf die jeweilige Familiendynamik. Deshalb sollten auch die Zusammenhänge zwischen Individuum, Familie und Lebensbedingungen analysiert werden.

Die Fixierung auf innerfamiliäre Interaktionsmuster hat auch zur Folge, daß allein auf eine Veränderung des familiären Systems, wie Rollenverteilungen, Regeln und Machtverhältnisse, Wert gelegt wird, anstatt auch gesellschaftlich bedingte Lebensstrukturen zu modifizieren.

Ich möchte mich bei dieser Einführung der Familientherapie als mögliche Interventionsform für kindliche Verhaltensauffälligkeiten darauf beschränken, die wesentlichsten therapeutischen Dimensionen darzustellen, um so die wichtigsten Kriterien der Familientherapie verständlich zu machen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung mit kindlichen Verhaltensauffälligkeiten ist es aber nicht möglich, alle Techniken und verschiedenen Therapieschulen innerhalb der systemischen Therapie anzuführen. Darin liegt aber auch nicht der Sinn meiner Arbeit.

Begleitung von Familien mit Problemlagen

Anstelle einer konkreten Therapie gibt es aber auch eine andere hilfreiche Einflußnahme, nämlich das Konzept der "Begleitung" in Problemsituationen. Bei einer bestimmten Therapie verfolgt der Therapeut konkrete Methoden, wodurch seine Beweglichkeit und Sensibilität für bestimmte Situationen stark einschränkt wird. Der Therapeut hat seine bewährte Technik im Kopf und fällt daher leicht in bestimmte Muster beim Therapieverlauf, um sein Therapieziel zu erreichen.

In der Begleitung fehlt dieser strategische Aspekt. Ein "Helfer" setzt mehrfach Intuition und Einfühlungsvermögen ein, wodurch sich neue Begegnungsarten zwischen Helfer und Klienten auftun. Der Begleiter vertraut darauf, daß der Begleitete mit ihm gemeinsam einen Dialog bestimmt, durch den sich ein neuer, hilfreicher Weg finden läßt, dem vorhandenen Problem zu begegnen. Während der Therapeut eine Störung behandelt, ist in der Begleitung keine Pathologie vorhanden und damit auch noch kein im voraus definiertes Therapieziel. Das einzig vorherrschende Ziel im Begleitungsprozeß ist das Ernstnehmen des Leidens und die Möglichkeiten, damit umzugehen. Bei der Begleitung gibt es auch keine versprochene Heilung, sondern eine Milderung des Leidens.[161]

Für eine Begleitung ist es auch nicht nötige Voraussetzung, einer helfenden Profession anzugehören. Auch Laien, die Empathie und Intuition einsetzen, dem Klienten einfühlsam und aufrichtig zuhören, können Anregungen geben, mit dem Problem wieder zurechtzukommen.

Ziel einer wirkungsvollen systemischen Begleitung wäre eine Entwicklungsförderung im lebensweltlichen Kontext der betreffenden Familien, in dem sich die Kinder auffällig zeigen. Anzustrebendes Ziel der engagierten Helfer soll eine Erweiterung individueller und kollektiver Handlungsformen und Beziehungsstrukturen sein.[162]

Für eine entsprechende Begleitung ist es weder notwendig, die Diagnose einer "Störung" zu stellen, noch muß eine Behandlung erfolgen. Das Ziel der Intervention ist auch nicht unbedingt eine absolute "Heilung". Es geht bei diesem Konzept eher darum, das Leid eines Menschen zu mildern.

Kommt ein Prozeß in Gang, bei dem sich Verhaltensmuster modifizieren, so geschieht das nicht durch eine zielgerichtete, lineare Beeinflussung der Beteiligten. Viel eher bringen engagiertes Interesse, Neugierde und Kreativität einen Prozeß der Anregung in Gang, bei dem Problemlösestrategien und Ressourcen des Systems entdeckt werden, mit deren Hilfe es dem System gelingen kann, neue Handlungsmöglichkeiten im lebensweltlichen Kontext zu entwickeln.

Es lassen sich vielerlei Vorteile der Begleitung gegenüber Therapie und Beratung feststellen.

  • eine frühzeitige Problemdefinition kann vermieden werden

  • eine neue Sichtweise der Problemsituation wird möglich

  • Begleitung verstärkt die Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen eines Systems

  • Begleitung fördert eine gleichberechtigte Beziehung zwischen Klienten und "Helfer". Es gibt nicht mehr den "Gestörten" auf der einen und den Experten auf der anderen Seite.

Wenn mehrere "Begleiter", die aus den verschiedensten Berufssparten des psychosozialen Bereichs stammen, eine Familie unterstützen wollen, müssen sie gemeinsam eine klare Konzeption entwickeln. Damit eine Teamarbeit funktionieren kann, werden Ziele für die zu bewältigende Aufgabe entwickelt, die alle Beteiligten akzeptieren. Auch das Überschreiten der eigenen Berufsgrenzen ist ein wichtiger Bestandteil für eine fördernde Begleitung.[163]

Durch die unterschiedlichsten beruflichen Hintergründe ergeben sich im Kontakt mit dem zu begleitenden System ganz unterschiedliche Sichtweisen, was eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Problem ermöglicht. Die einzelnen Beobachtungen werden in einem gemeinsamen Teamgespräch dargestellt. Durch die integrative Verknüpfung der einzelnen Sichtweisen entsteht ein ganz neues Bild einer möglichen Entwicklungsförderung. Man kann daher sagen, daß es nicht Ziel dieses Teamprozesses ist, die verschiedenen Einzelbeobachtungen in einer "Entweder- Oder- Haltung", also konkurrierend gegenüber zu stellen, sondern es wird versucht, die unterschiedlichen Inhalte sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Diese Art der Begleitung von Familien in Problemlagen erfordert von den verschiedenen Helfern ein hohes Maß an Flexibilität und Kommunikationsbereitschaft.

Gerade die Gruppe der Pädagogen hat die Gelegenheit, oft jahrelang mit einer Familie verbunden zu sein. Sie sollten daher die Chance nützen, eine Familie begleiten zu dürfen und deren Mitgliedern so Unterstützung bei ihren Problemen und Lebenskrisen zu erteilen, und dies ohne demütigende Etikettierungen. Sie stellen das Bindeglied zwischen Therapeuten und der Selbsthilfe der Eltern dar und haben eine unersetzbare Aufgabe. Ihre Aufgabe ist die Begleitung einer gesamten Familie, die insbesondere darauf abzielt, einem Subsystem, das in einer erheblichen Lebenskrise steckt, zu helfen, indem sich durch die Entwicklung von Kontinuität die Belastung langsam in einen Halt verwandelt.[164]

Da es zur pädagogischen Realität gehört, mit Kindern konfrontiert zu sein, deren Lebensumstände nicht gerade glücklich sind, ist diese Form der Begleitung ein sinnvoller Ansatz, aus den gegebenen Voraussetzungen das beste für das Kind daraus zu machen. Oft fehlen den Eltern einfach die Kompetenzen, mit ihrem Kind richtig umzugehen. Daher erweist es sich als hilfreich, eine dritte Instanz an diesem System teilhaben zu lassen, die indirekt den Eltern neue Möglichkeiten eröffnen kann, mit ihrem Kind umzugehen.

Der wichtigste Schritt des Pädagogen, bei der Begleitung einer Familie ist, dem gesamten System zu vermitteln das betroffene Kind, so wie es ist, annehmen und lieben zu können. Denn erst wenn es die Sicherheit und das Vertrauen gewinnt, so angenommen zu sein, wie es ist, ist das Kind innerlich bereit, sich auf neue Verhaltensweisen und -möglichkeiten einzulassen.



[137] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.171/172

[138] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.172

[139] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.41/42

[140] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.42

[141] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.42

[142] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.50

[143] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.50

[144] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.50/51

[145] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.154

[146] R. Voß; Anpassung auf Rezept; 1987; S.155

[147] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.125

[148] E. Brandhofer, R. Bartl; Skriptum zur Vorlesung: Systemische Konzepte der Psychotherapie

[149] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.75

[150] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.75

[151] R. Werning; Das sozial auffällige Kind; 1989; S.77

[152] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.121

[153] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.122

[154] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.122

[155] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.123

[156] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.124

[157] R. Voß; Helfen, aber nicht auf Rezept; 1991; S.124

[158] Selvini Palazolli Mara, Boscolo L., Cecchin G.,Prata G.; Paradoxon und Gegenparadoxon; 1978; S.47

[159] Stierlin Helm, Duss von Werdt; Einführung der Herausgeber-Familiendynamik; 1976; S.1

[160] Brunner Ewald J.; Grundfragen der Familientherapie; 1986; S.19

[161] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.87

[162] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.43

[163] R. Voß, H. von Lüpke; Entwicklung im Netzwerk; 1997; S.44

[164] R. Voß; Das Recht des Kindes auf Eigensinn; 1989; S.91

Interview mit zwei Kindergärtnerinnen zum Thema Verhaltensauffälligkeiten im Vorschulalter

Abschließend möchte ich nun die Ergebnisse eines selbst durchgeführten Interviews mit zwei Kindergärtnerinnen einbauen. Ursprünglich wollte ich mehrere Kolleginnen zu ihren Erfahrungen mit verhaltensauffälligen Kindern einzeln interviewen und die Ergebnisse vergleichend auswerten. Während längerer Überlegungen gelangte ich zur Überzeugung, daß es die sinnvollere Arbeit wäre, zwei bis drei Personen gemeinsam zu befragen, da durch den spontan entstehenden Dialog ganz neue, wertvolle Aspekte in den Vordergrund rücken können. Zwei befreundete Kindergärtnerinnen mit zwei- beziehungsweise fünfjähriger Berufserfahrung erklärten sich für diesen spannenden Prozeß bereit, und ich konnte ein sehr aufschlußreiches 1 ½- stündiges Interview- Gespräch mit ihnen gemeinsam durchführen. Da auch ich bereits Erfahrungen als Kindergärtnerin sammeln konnte, entstand durch den gegenseitigen Erfahrungsaustausch ein lebendiges, spontan geleitetes Gespräch zwischen drei Kindergärtnerinnen.

Planung und Vorbereitungen des Interviews

Um einen roten Faden durch das Gesamtgespräch ziehen zu können, versuchte ich einen Fragenkatalog als Orientierungshilfe zusammenstellen. Dabei konzentrierte ich mich auf die wesentlichsten Aspekte von Verhaltensauffälligkeiten und gestaltete den Ablauf in einer Weise, in der sich die Interviewten im Laufe des Gesprächsprozesses immer mehr dem systemischen Verständnis von Verhaltensauffälligkeiten annähern können. Dieser Prozeß wurde indirekt von mir gesteuert, da es mir als wesentlich erschien, die Befragten daraufhin zu untersuchen, inwiefern ihnen systemisches Denken ein Begriff ist und ob sie Teile davon in ihrer Arbeit anwenden können.

Fragenkatalog:

  • Was würdet ihr als Verhaltensauffälligkeit bezeichnen? Was bedeutet für euch das Phänomen Verhaltensauffälligkeit?

  • Wie begegnet ihr in der Praxis solchen Kindern? Reaktionen und mögliche Interventionen

  • Welche Auswirkungen hat dieses Verhalten auf die Gruppendynamik? (Bildungsarbeit, Freispiel)

  • Wie sieht die Elternarbeit in solchen Fällen aus? (Gespräche, Ratschläge)

  • Wann und in welchen Situationen wendet ihr Euch an einen Experten? (Psychologe, Therapeut)

  • Inwiefern bekommt ihr durch die Beschäftigung mit Kindern Einblick in die Familiendynamik?

  • Schuldfrage: Wer trägt eurer Meinung nach die Verantwortung für auffälliges Verhalten von Kindern?

  • Ist das psychosoziale Versorgungsnetz gut genug ausgebaut? Bietet es überschaubare Hilfestellung?

  • Was wißt ihr über systemisches Denken? Könnt ihr euer Wissen dazu in der Kindergartenpraxis anwenden?

  • Störungen sind Stigmatisierungen für Kinder. Was haltet ihr von der zunehmenden Medizinisierung von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten. (Psychopharmaka im Kindesalter)

Einstieg

Der Einstieg dieses Interviews verlief zuerst äußerst schwierig und zäh. Ich begann das Gespräch mit einer völlig offenen Fragestellung, was denn für sie das Phänomen Verhaltensauffälligkeit bedeuten würde. Durch mein Aufnahmegerät entstand eine völlig sterile und unnatürliche Situation, die die beiden äußerst hemmte. Deshalb gestaltete ich spontan meine gesamten Planungen um und ließ die beiden mit einem Fallbeispiel beginnen. Sofort war die künstliche Interviewsituation durchbrochen und ich konnte vielerlei interessante Erfahrungen und Einstellungen zum Thema Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter gewinnen, die sich für mich und meine Arbeit als äußerst aufschlußreich erwiesen. Ich führte das Interview mit Julia F. (23Jahre) und Nina Ö. (26 Jahre) durch.

Ergebnisse des Interviews

Im Laufe der Schilderungen des Fallbeispiel I "Pascal" erklärten beide Befragten einstimmig, daß Verhaltensauffälligkeit eine Entwicklungsverzögerung des betreffenden Kindes darstellt, welches sich im Verhalten von den anderen Kindern deutlich abhebt. Julia F. erklärt dies am Beispiel von Pascal (Fallbsp. I), der sich immer durch auffälliges "Kasperln" in den Mittelpunkt drängen mußte. Sie bezeichnete den Jungen als extrem verhaltensauffällig, da er sich in einer "anderen Welt" aufhalte und Antworten gebe, die absolut nicht zur gestellten Frage passten. Nina Ö. bezeichnet, ergänzend dazu, Kinder als auffällig, die durch ihr Verhalten aus dem Rahmen fallen und sich dadurch von anderen Kindern deutlich abheben. Sie schildert im Fallbsp. II "Mario", einen vierjährigen Jungen, der sich äußerst aggressiv in der Gruppe verhält. Durch Beißen, und Unruhig- Sein fällt er auf.

Aussagen wie "verhaltensauffällige Kinder hätten Entwicklungsverzögerungen" "oder verhaltensauffällige Kinder fielen deutlich aus dem Rahmen" weisen eindeutig auf ein alltagstheoretisches Verständnis kindlicher Auffälligkeit hin. Die beiden Befragten nennen Bezeichnungen wie aggressives Verhalten, sich deutlich von anderen Kindern abheben, von der Norm abweichen, Hyperaktivitä etc., wodurch mir klar wurde, daß sie Verhaltensauffälligkeiten der ihnen anvertrauten Kinder nicht als psychische Notlage des betreffenden Kindes sehen, das darauf aufmerksam machen will, daß schwerwiegende Probleme in seiner Lebenswelt auftreten, mit denen es allein nicht mehr zurechtkommen kann. Sie erkennen demnach nicht, daß manche Aggressionen und manches "Zappelig- sein" verzweifelte Hilferufe der Kinder an sie darstellen, die sich erhoffen, von ihrer wichtigen Bezugsperson, der Kindergärtnerin, Unterstützung zu erfahren.

Aus den beiden Praxisberichten am Beginn des Gespräches ergab sich die Frage nach Reaktionen und möglichen Interventionen der Erzieher. Auf die Frage, wie die beiden Kindergärtnerinnen mit verhaltensauffälligen Kindern umgehen, erhielt ich folgende Antworten. Julia F. ignoriert Kinder wie Pascal, so lange die Gruppendynamik nicht erheblich gestört wird. Nach einer Weile spricht sie das betreffende Kind auf sein Verhalten an und bittet es, sein Verhalten so zu ändern, daß es die restlichen Kinder nicht mehr stören kann. Sie meint, die beste Lösung sei, auffällige Kinder vorerst zu ignorieren. Ist es aber unmöglich Gruppenarbeiten durchzuführen, so muß sie das betreffende Kind aus der Gruppe nehmen und es von der Bildungsarbeit ausschließen, indem sie es hinaussetzt.

Nina Ö. reagiert mit ähnlichen Strategien. Auch sie nimmt die störenden Kinder aus dem Stuhlkreis und läßt sie zur Strafe in der Garderobe warten. Bei Fallbsp. II "Mario" erwies es sich als wirkungsvoller, das Kind im Gruppenraum, aber abseits der restlichen Kindergruppe zu plazieren. Nach zwei bis drei Ermahnungen wurde das Kind also abgesondert.

Beide Kindergärtnerinnen reagieren auf ähnliche Weise nach dem linearen Erklärungsmuster. Sie setzen auf unterschiedliche Weise am Kind als Störfaktor an und versuchen es zu behandeln. Nur das Kind ist Ansatzpunkt für Veränderung. Es wird ignoriert, um eine Verhaltensänderung zu erzielen, dann wird es bestraft, indem es von den anderen Kindern isoliert wird und aus der Gruppe genommen wird. Der Versuch wird unternommen, es an die anderen, "normalen" Kinder anzupassen, ohne seine individuelle Problemlage verstehen zu versuchen. Auch mir ist es während meiner ein- jährigen Tätigkeit als Kindergärtnerin ähnlich ergangen. Störende Kinder mußte ich bestrafen, um den Gruppenprozeß überhaupt weiterführen zu können. Auch ich habe meine kleinen Sorgenkinder zu Problemkindern determiniert und somit dazu beigetragen, das medizinische Modell, das mögliche Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten unkritisch auf einen einzigen Faktor verkürzt, zu unterstützen. Ich möchte an dieser Stelle daher die Ausbildung zur Kindergärtnerin kritisieren, der es innerhalb von fünf Jahren nicht gelingt, die Ganzheitlichkeit kindlichen Verhaltens den angehenden Pädagoginnen zu vermitteln.

Durch den spontanen Verlauf unseres Interviews kam als nächstes die Gruppendynamik zur Sprache. Julia F. nannte als erstes positive Auswirkungen der Verhaltensauffälligkeiten, speziell in Fallbsp. I "Pascal". Er bringt mit seiner lustigen "Kasperle- Rolle" Schwung und Leben in die Gruppe. Auch bei Bildungsarbeiten wie Rollenspielen bereichert er denGruppenprozeß auf seine Weise.Julia F. erklärte auch, daß das Kind in solchen Situationen positive Rückmeldungen von der Gruppe erhält, die sein Selbstbewußtsein etwas stärken.

Diese Abkehr von einer rein defizitorientierten Sichtweise kindlicher Auffälligkeiten ist schon ein großer Schritt in Richtung Systemdenken. Julia F. versteht es ausgezeichnet das Kind in seinen positiven Eigenschaften zu verstärken, im Sicherheit zu geben, da sie Pascal so wie er ist akzeptiert und liebt.

In anderen Bildungsarbeiten, die die Konzentration der Kinder fordern, wirken sich verhaltensauffällige Kinder allerdings störend aus. Sie reißen andere Kinder mit, wodurch die gesamte Aufmerksamkeit verloren geht. Dennoch nimmt Julia F. nur in äußerst störenden Situationen, als letzten Ausweg, störende Kinder wie Pascal aus der Gruppe.

Auch der Elternarbeit kommt im Zusammenhang mit verhaltensauffälligen Kindern ein großer Stellenwert zu. Dazu äußerte sich Nina Ö. zum Fallbsp. II "Mario". Dieser Junge, der äußerst aggressives Verhalten aufzeigt, machte es notwendig, die Eltern zu einem Gespräch einzuladen.

Es interessierte mich natürlich besonders, ob hier über Störung oder abweichendes Verhalten diskutiert und wie das Thema der Schuld oder Verantwortung für das problematische Verhalten bearbeitet wurde.

Nina Ö. sprach zuerst das aggressive Verhalten an und fragte nach der Situation des Kindes zu Hause. Schlußendlich gab sie den Eltern den Ratschlag, den Jungen etwas mehr zu beachten, seine Gefühle, wenn er aggressiv werde, anzusprechen und ihn zu fragen, wie es ihm dabei gehe, und warum er sich so verhalte. Von Störungen zu sprechen lehnen beide Befragten grundsätzlich ab, sie wollen dem Kind keinen "Stempel aufdrücken", sie würden das problematische Verhalten bei Elterngesprächen immer umschreiben, um auf negative Symptombeschreibungen verzichten zu können.

Systemisches Denken und Handeln erfordert eine Haltung der Kindergärtnerin, sich mit voreiligen Ratschlägen zurückzuhalten und sich daher nicht dominant als Expertin in den Mittelpunkt zu stellen. Den beiden Interviewten fehlt dieses Grundverständnis einer systemischen Perspektive. Sie versuchen mit den besten Absichten den Eltern Hilfestellungen im Umgang mit ihren problematischen Kindern zu geben. Wichtig wäre es, meiner Meinung nach, den Eltern durch vorsichtiges Fragen Anregungen zu geben, ihr Familiensystem und die Beziehungen innerhalb ihres Systems neu zu durchdenken. Dadurch könnten sie eventuell bestimmte Verhaltensmuster erkennen, die für die Probleme des Kindes verantwortlich sind. Durch diesen Prozeß könnte es den Eltern gelingen, etwas mehr Bewegung in ihrem System zuzulassen, wodurch sich bestimmte eingefahrene Verhaltensmuster verändern könnten. Somit wäre ein neuer Raum für die Entwicklung der Familie, insbesondere des verhaltensauffälligen Kindes, geschaffen.

Während wir uns mit dem Thema der Elternarbeit auseinandersetzten, tauchte spontan auch die Frage nach dem Hinzuziehen eines Experten auf. So kamen wir auf die Angebote des psychosozialen Dienstes zu sprechen. Auf meine Frage, welche Anlaufstellen in solchen Fällen für sie in Frage kommen, wurden bekannte Institutionen, wie AKS oder IFS genannt, mit deren Angebot sich beide zufrieden zeigten.

Während der Diskussion zum Thema Elternarbeit rückte eine neue Frage in den Vordergrund. Wann soll man sich an einen Experten wenden? Nina Ö. meinte, sie beobachte zuerst die Kinder selbst und führe dann ein Elterngespräch durch. Wenn sich dann nichts an der Situation des Kindes ändere, wende sie sich an den AKS und bestelle über diese Organisation den zuständigen Psychologen. Im Fallbsp. II "Mario" waren die Eltern erleichtert, endlich mit Hilfe des Kindergartens psychologische Hilfe zu erhalten. Alleine hätten sie niemals den Mut gefunden, sich an einen Experten zu wenden.

Nina Ö. drückt also die Hilflosigkeit vieler Eltern aus, in dem großen und verwirrenden Überangebot an Anlaufstellen die richtige für ihr Kind herauszufinden. Dadurch wird wieder einmal bewiesen, wie bedeutungsvoll und notwendig es wäre, ein interdisziplinär arbeitendes übersichtliches psychosoziales Netz zu entwickeln.

Julia F. verhält sich ganz anders in Bezug auf den Einsatz eines Psychologen. Sie beobachtet ihre Kinder zuerst selbst ganz genau, macht sich wichtige Notizen zum Verhalten eines Kindes und spricht sich mit ihren Kolleginnen ab. Ist das Kind ihrer Meinung nach auffällig, bestellt sie schon sehr früh einen Psychologen, allerdings unter dem Vorwand, das Kind nur für sie zu beobachten, um ihr nötige Hilfestellungen und Tips geben zu können.

Diese Möglichkeit nicht gleich die Eltern miteinzubeziehen, finde ich sehr vorteilhaft. Julia F. entwickelte unbewußt einen Ansatz einer interdisziplinären Vorgangsweise. Sie bespricht die Probleme der ihr anvertrauten Kinder mit mehreren Mitarbeiterinnen und einem Psychologen, wodurch sich ihr Blickwinkel erheblich ausweitet. In ihrem Fall bleibt der Psychologe auch längerfristig im Kindergarten. Er bildet sich also seinen Eindruck über ein Kind über den Zeitraum von ½ bis ¾ Jahr. Es kann daher nicht von einer künstlichen, unnatürlichen Kindbeobachtung die Rede sein. Dieser Ansatz geht meines Erachtens sogar in Richtung Begleitung. Das Kind lernt den Psychologen als Spielpartner kennen, gewinnt langsam Vertrauen in ihn, da er in einer natürlichen Lebenssituation des Kindes auftritt. Man kann davon ausgehen, eine natürliche Beobachtungssituation vorzufinden. In gemeinsamen Gesprächen können dann verschiedene Möglichkeiten entstehen, mit dem Kind angemessen umzugehen.

Nur in einem Punkt muß ich die Vorgangsweise von Julia F. kritisieren. Meines Erachtens wendet sie sich zu früh an den Psychologen. Anstatt vorerst selbst das Kind in Form einer Begleitung zu unterstützen, wählt sie sofort den Weg zum Experten. Dies unterstreicht wieder einmal mehr die Unsicherheit der helfenden Berufe gegenüber Verhaltensproblemen der ihnen anvertrauten Kinder, da sie immer ratloser im Umgang mit ihren kleinen Störenfrieden werden.

Inzwischen sind wir schon sehr weit in Richtung systemisches Denken und Interdisziplinarität vorgedrungen. Deshalb fragte ich an dieser Stelle nach dem möglichen Einblick in die Familiendynamik eines Familiensystems.

Dazu äußerte sich Nina Ö. in Bezug auf Fallbsp. II "Mario". Sie meint, einen großen Einblick in die Familiendynamik von Mario erhalten zu haben. Seine Mutter sei völlig überfordert mit dem auffälligen, aggressiven Jungen. Sie selbst wirke auch sehr aggressiv, beherrschend und immer gereizt. Sie gebe auch offen zu, ihren Sohn des öfteren zu schlagen, weil sie keinen anderen Ausweg mehr wisse. Neben dem aggressiven Verhalten zeigt sich der Junge auch regressiv. Er sucht verstärkt nach Zuwendung, will sich beim Ankleiden helfen lassen und ständig auf den Schoß genommen werden. Aus dieser Familiendynamik ergibt sich für Nina Ö., daß der Junge sein großes Bedürfnis nach vermehrter Zuwendung durch aggressives Verhalten kompensiert, um so wenigstens auf negative Weise mehr Beachtung zu erhalten.

Ich ergänzte zu Ninas Anführungen, daß das Kind wohl in einer schlimmen Lebenskrise steckt, mit der es selbst nicht mehr zurecht kommt. Sein lauter Hilfeschrei sind seine Aggressionen und Regressionen, die aber von niemandem als Notsignal verstanden werden, was für den Jungen die Situation noch erheblich verschlimmert. Anstatt Hilfe zu erhalten, gerät der Junge in ein noch auswegloseres Fiasko. Er wird zudem als gestört, krank oder auffällig bezeichnet. Darauf müßte man die Eltern vorsichtig aufmerksam machen.

Auch Julia F. weiß eine Fallgeschichte zum Thema Familiendynamik. In Fallbsp. III "Sabrina" schildert sie die Leidensgeschichte eines kleinen, nicht sehr intelligenten Mädchens aus einer sehr ärmlichen, einfachen Familie. Das Mädchen zeigt eindeutig Entwicklungsverzögerungen, weshalb Julia F. ein Elterngespräch initiiert. Sie meint, in den meisten Fällen seien die Kinder ihren Eltern sehr ähnlich. Im Fall Sabrina ist ihre Mutter sehr unselbständig, ihrem Mann gegenüber unterwürfig und untergeordnet. Spricht sie die Mutter auf das Verhalten ihrer Tochter an, hört sie immer dieselbe Phrase: "Reden sie mit meinem Mann darüber!" Julia meint, man gewinnt einen großen Einblick in die verschiedenen Familienstrukturen. Sabrinas Familie lebt nach sehr patriarchalischen Strukturen. Der Vater stellt sich bei Gesprächen auch als den großen "Herrn des Hauses" dar, dem alle gehorchen müssen. Er gibt auch offen zu, daß ihm bei Sabrina oft "die Hand ausrutscht". Julia F. meint, es sei wichtig, sich einen Einblick in die jeweiligen Familienverhältnisse zu verschaffen, schwierig sei nur, bei solchen Familien ein Umdenken zu erreichen. Sie meint, es müsse ein Umdenken gelingen, um auf einer Ebene zu sprechen, die die Eltern auch verstehen. Ihr Trick ist der, den Eltern klar zu machen, daß sie es ja gleich gut mit dem Kind meinen wie sie, weshalb einige Umstellungen in ihrem Denken und Handeln nötig wären. Somit kann es ihr z. Bsp. gelingen, die Eltern davon zu überzeugen, einen Psychologen beizuziehen.

Durch diese Schilderungen bekomme ich den Eindruck, Julia F. orientiert sich an der "zuschreibenden Perspektive" kindlicher Verhaltensauffälligkeiten. Das Problem wird zwar nicht mehr im Kind individualisiert, dafür werden aber die Eltern für das Verhaltensproblem des Kindes verantwortlich gemacht.

Außerdem bezeichnet Julia F. die Verhaltensauffälligkeiten dieses kleinen Mädchens als Entwicklungsverzögerung, was darauf hindeutet, daß sie als Erklärung für Verhaltensprobleme den lerntheoretischen Ansatz wählt. Nach lerntheoretischem Verständnis werden Verhaltensauffälligkeiten und die gesamte Entwicklung des Kindes erlernt, beziehungsweise wieder verlernt. Sie sieht daher bestimmte Entwicklungen als einfache Lernprozesse an. Besonders wichtig wäre bei der Betrachtung der Familiendynamik das Miteinbeziehen der systemischen Verbindungen. Deshalb muß dem Kind und seinen sozialen, gesellschaftlichen und gesamtökologischen Bezügen große Bedeutung geschenkt werden. Eine Entwicklungsverzögerung darf niemals nur mittels Lernprozesse, biologisch oder genetisch erklärt werden. Diese Vorgangsweise ist zu eindimensional, und daher unzulänglich.

Julia F. berichtet weiters über Sabrina: Die Eltern nehmen die psychologische Hilfe vorerst in Anspruch. Besserungen in der Entwicklung des Mädchens zeigen sich. Dann übersiedelt die Familie in einen anderen Sprengel, was einen Kindergartenwechsel zur Folge hat. Juli F. konnte noch eine Weile die Entwicklung von Sabrina verfolgen. Die Familie des Mädchens erlebte einen noch tieferen sozialen und finanziellen Abstieg, sie wohnten in einer "alten Baracke", auch die psychologische Behandlung wurde abgebrochen. Sabrinas Situation verschlechterte sich schlagartig, sie wurde regressiv, begann einzunässen. In der ganzen schlimmen Situation für die Familie war das Kind völlig untergegangen. Julia F. verlor dann das Kind ganz aus den Augen.

An dieser berührenden Stelle war für mich der Punkt gekommen, an dem ich eine Wende vom linearen zum systemischen Denken vollziehen wollte. Ich erklärte den beiden Kindergärtnerinnen am Beispiel von Sabrinas erschütternder Geschichte, wie wesentlich bei der Betrachtung von kindlichen Auffälligkeiten das Miteinbeziehen des gesamten Umfeldes des Kindes sein kann. In Sabrinas Situation war es wohl das Absinken der Familie in eine schwere finanzielle Krise, welches das Problem oder die Regression des Kindes erneut hervorgerufen haben. Auch erklärte ich ihnen, daß die Entwicklungsverzögerung oder gar der Entwicklungsrückschritt als Notsignal des Kindes verstanden werden soll, das mit allen möglichen Mitteln auf sich und seine Krise aufmerksam machen will, um von außen Hilfestellung zu erhalten.

Daraufhin schildert Julia F. die Weiterentwicklung von Pascal (Fallbsp. I). Man erkennt, daß ihr die Wichtigkeit von systemischen Verständnis klargeworden ist. Pascal, der immer wieder in seine Traumwelt "abtaucht", verwendet diese Phantasiewelt als Schutz vor der Realität. Julia F. erzählt, daß Pascals leiblicher Vater vier Wochen vor seiner Geburt Selbstmord begangen hat. Sie meint, daß der Junge dieses Trauma indirekt miterlebt hat. Zusätzlich ist sie der Auffassung, daß der Stiefvater unbewußt den Jungen anders behandelt als es ein leiblicher Vater tut. Zudem hat Pascal ein "Halbbrüderchen", das mit einem Herzfehler geboren wurde und daher viel mehr Aufmerksamkeit als er erhalten hat. Sie meint, wenn man diese Familienbedingungen kennt, ist es verständlich, daß Pascal sich zu seinem eigenen Schutz in eine Traumwelt flüchtet und immer wieder aus der Realität aussteigt.

Als nächstes wollte ich in Erfahrung bringen, wen die beiden Befragten als Verantwortliche oder Schuldige für Verhaltensweisen, wie sie Pascal, Sabrina oder Mario aufzeigen, betrachten. Julia F. betonte sehr stark, die Schuld liege beim Erziehungsberechtigten, den Eltern. Die Eltern trügen allein die Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kinder. Daraufhin lenkte Nina Ö. ein, es käme darauf an, wer sich mit den Kindern am meisten beschäftige. So wurde nach und nach das Umfeld größer, letztendlich kamen sie zu der Meinung, das gesamte Umfeld, in dem ein Kind heranwächst, kann seine Entwicklung und sein Verhalten beeinflussen.

Die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage wies eindeutig darauf hin, daß sich die beiden Befragten an der zuschreibenden Sichtweise in Bezug auf Verhaltensauffälligkeiten orientieren. Julia F. betonte vorerst besonders stark, die Schuld läge bei den Eltern. Systemisches Denken haben die beiden demnach noch nicht vollständig verstanden, denn gerade die Frage nach der Verantwortung für bestimmte Verhaltensweisen ist für systemisches Denken sehr wesentlich. Nach systemischem Verständnis gibt es keinen schuldigen Verantwortlichen für Verhaltensprobleme des Kindes. Viel eher bestimmen genau die vorhandenen Beziehungs- und Verhaltensmuster und -konstellationen ein ganz konkretes System, das vielleicht für eines der Subsysteme zum Problem werden kann. Jedes einzelne Systemmitglied trägt daher dazu bei, daß ein Kind auffälliges Verhalten zeigt. Keinem Subsystem kann es gelingen, das gesamte System zu kontrollieren. Daher kann es auch keinen einzelnen Schuldigen geben. Unter System ist allerdings nicht nur die Familie gemeint, sondern das gesamte Umfeld des Kindes, das bis zur Gemeinde, dem Staat oder der gesamten Gesellschaft ausgeweitet werden kann.

Als das Interview an dieser Stelle etwas ins Stocken geriet, stellte ich die Frage, inwiefern sie systemisches Denken in ihrem Beruf anwenden können. Nina Ö. konnte dazu ein Beispiel aus ihrer Berufspraxis nennen. In Fallbsp. IV "Matthias" erzählt sie von den Zwillingen Nadine und Matthias. Nadine stellt das brave, liebe und intelligente Musterkind dar, Matthias hingegen war aggressiv und wendete sich gleich von Kindergartenbeginn ab und wollte erst gar nicht den Kindergarten besuchen. Zum Muttertag, also völlig unbeabsichtigt, ließ Nina Ö. die Kinder deren Familien zeichnen. Dabei erhielt sie ein sehr aussagekräftiges Bild von Matthias. In der Mitte und zugleich am größten war Nadine abgebildet, zwischen den Eltern positioniert, seine ältere Schwester stand neben dem Vater. Winzig klein und ganz abseits zeichnete er sich selbst. Erst dadurch wurde Nina Ö. aufmerksam auf die bedrohliche Lebenskrise des kleinen Jungen. Als sie mit dem Jungen über sein Bild sprach, erzählte er, daß ihn seine Mutter so schlage, daß einmal der Kochlöffel abgebrochen sei. Er meinte dann ganz traurig: "Gell Tante, ich bin schon bös!".

Besonders Nina Ö. wurde durch ihre Versuche, systemisches Denken im Kindergarten anzuwenden, ganz wehement auf die besondere Familiendynamik eines ihrer Kinder aufmerksam gemacht. Die aussagekräftige Zeichnung des kleinen Matthias brachte sie auf die Idee, bei der Betrachtung der Verhaltensproblematik des Kindes dessen gesamtes Umfeld mit seinen spezifischen Bedingungen zu betrachten. Sie kann mit Hilfe der neugewonnenen Einsicht Verbindungsstellen zwischen Psyche, Sozialem und Materiellem miteinbeziehen. Sie interessiert sich also für das gesamte System des Kindes und die darin vorliegenden Vernetzungen. Mit dieser Sichtweise kann es ihr gelingen, das Kind mit seinem Problem ganzheitlich zu betrachten. Auf diese Weise wird sie bestimmt Erfolg haben, mit Intuition und auf natürliche Weise das betroffene Kind zu begleiten.

Auch Julia F. führte solche Tests im Laufe ihrer Kindergartenpraxis durch und erhielt dadurch erstaunliche Hinweise auf die Familiendynamik der unterschiedlichsten Kinder. Sie erkannte, daß sich manche Kinder sehr schwer taten, ihre Eltern zu zeichnen. Dies erklärt sie sich so, daß den Kindern ihr Platz und ihre Beziehung zu den Eltern innerhalb ihres Systems nicht eindeutig klar ist. Gerade Pascal (Fallbsp. I) gelang es kaum, seine Mutter zu zeichnen. Gemeinsam mit dem Psychologen, der den Jungen schon länger betreut, bespricht sie dieses Ereignis. Nach einem gemeinsam geführten Elterngespräch erfuhren sie, daß der Junge über seinen leiblichen Vater gar nicht aufgeklärt worden war. Mit Hilfe einer Familientherapie gelang es den Eltern (Mutter und Stiefvater), das Thema zuerst allein und später mit dem Jungen nochmals gemeinsam aufzuarbeiten. Das gesteckte Ziel war, das Kind über seinen richtigen Vater aufzuklären.

Systemtheorie in Form der systemischen Therapie ist den beiden Kindergärtnerinnen, wie die beiden Erzählungen zeigen, geläufig. Sie erfuhren beide, wie hilfreich solche Übungen im Hinblick auf das Erkennen der Familiendynamik der Kinder sein konnten. Besonders im Fallbeispiel Pascal wurde Julia F. klar, wie wesentlich bestimmte Konstellationen innerhalb des Systems des Jungen dazu beitrugen, daß er so auffälliges Verhalten zeigte.

Da wir uns in Fallbsp. I "Pascal" lange mit dem Thema der psychologischen Hilfe für Kinder mit psychischen Problemen auseinandergesetzt haben, stellte ich abschließend dazu die Frage, ob das psychosoziale Netz gut genug ausgebaut sei und ihnen die benötigte Hilfestellung bieten könne. Nina Ö. zeigt sich äußerst zufrieden mit dem Angebot des psychosozialen Dienstes. Laut Statistik ist das Land Vorarlberg am besten mit psychosozialen Anlaufstellen ausgestattet. Sie wendet sich im Fall eines schwer verhaltensauffälligen Kindes über den AKS an den für die Stadt Bregenz zuständigen Psychologen. Sie bekommt die nötige Hilfe, wenn sie gebraucht wird. Ihre Kritik geht nicht in Richtung Gestaltung des psychosozialen Netzes, sondern richtet sich gegen die Ausbildung zur Kindergärtnerin. Eine Aufklärung darüber, wo man in der Berufspraxis Hilfestellungen von Experten erhalten kann, wird in der Ausbildung völlig außer acht gelassen. Erst durch ihre Leiterin erfuhr sie, an wen sie sich mit sogenannten "Problemkindern" wenden kann.

Dazu ergänzt Julia F., daß sie schon einige Adressen in Bezug auf psychologische Hilfe während der Ausbildung erfahren hat, allerdings hatten sich die Lehrenden zu wenig mit dem sehr wichtigen Thema der Verhaltensauffälligkeiten auseinandergesetzt. Sie entdeckt also ein anderes Manko der Ausbildung. Sie wollte in ihrer Ausbildung mehr über die Zusammenhänge der verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten erfahren. Fragen wie "Was sind Verhaltensauffälligkeiten?", "Wie kann man damit umgehen?" oder "Wann und wo erhalte ich als Kindergärtnerin entsprechende Hilfestellungen?". Auch Phänomene wie Hyperaktivität, Aggressionen etc. sind während ihrer 5- jährigen Ausbildung nicht zur Sprache gekommen. Sie meint, gerade darauf müßten Kindergärtnerinnen, bei der Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten, vorbereitet werden.

Unbewußt sprechen beide Interviewten die Krise der helfenden Berufe an. Die Funktion des Helfens und Unterstützens kommt bei den so klar gezogenen Trennlinien der verschiedenen helfenden Berufe eindeutig zu kurz. Da die meisten helfenden Professionen nach linearem Verständnis auf einen bestimmten Arbeitsbereich fixiert werden, ist auch die Ausbildung darauf ausgerichtet, Experten verschiedener Art für die unterschiedlichen Berufe auszubilden. Deshalb meinen beide Kindergärtnerinnen, ihre Aufgabe sei allein die der Erziehung, sowie der Arzt nur für den Körper und der Psychologe nur für psychische Probleme zuständig ist. Durch diese Segmentierung der helfenden Berufe kann niemals eine disziplinenübergreifende Arbeit gelingen, was schon in der Trennung der unterschiedlichen Aufgaben in der Ausbildung begründet liegt.

Beide Befragten kritisieren zu diesem Thema eher ihre Ausbildung, das psychosoziale Versorgungsnetz betrachten beide als sehr übersichtliche und gut ausgebaute Anlaufstelle. Julia F. entdeckt nach längerem Überlegen dann aber doch noch ein bedeutendes Manko der psychosozialen Versorgung in Vorarlberg. Sie beobachtet derzeit einen kleinen Jungen, der in sehr geringen zeitlichen Abständen große Blutergüsse im Kopfbereich aufzeigt. Immer wieder kommt der Junge mit "blauen Flecken" übersät in den Kindergarten. Julia F. meint, es sei sehr schnell die Vermutung einer körperlichen Mißhandlung ausgesprochen. Dies sei jedoch ein sehr heikles Thema, und zugleich ein gefährliches Unterfangen, betreffende Eltern darauf anzusprechen. Elterngespräche zu diesem Thema erlebt sie daher meistens als erfolglos, da Eltern derartige Anschuldigungen als sehr beleidigend erfahren oder Mißhandlungen, wenn sie tatsächlich vorkommen, natürlich nicht zugeben wollen, sondern sie verleugnen. In diesem Bereich findet Julia F. nicht die nötige Hilfe des psychosozialen Versorgungsnetzes. Und gerade Mißhandlungen stellen für Kinder eine schwere Krise dar, in der sie am dringlichsten Hilfe benötigen würden. Diese Hilfe kann Julia F. im psychosozialen Netz nicht bekommen. Sie fühlt sich daher mit diesem schwierigen Thema im Stich gelassen.

Julia F. ist mit der psychosozialen Versorgung nicht zufrieden. Sie spricht mit der Aussage, daß sie sich im Stich gelassen fühlt, das größte Manko des psychosozialen Dienstes an. Gemeint ist die Notwendigkeit einer disziplinenübergreifenden Förderdiagnostik. Bei einer solchen netzwerkartigen Gestaltung der psychosozialen Versorgung wird eine interdisziplinäre Vorgangsweise zur notwendigen Voraussetzung. Dies kann aber nur durch eine professionsübergreifende Kooperation und Koordination realisiert werden. Wie Julia F. erlebt hat, kann niemals eine einzelne Person oder Institution ein Problem alleine lösen. Daher wären Interaktionen der verschiedenen psychosozialen Berufe von großer Bedeutung. Ein solches Netzwerk der psychosozialen Versorgung ließe sich durch eine interdisziplinäre Kooperation von Experten unterschiedlicher Institutionen verwirklichen, die sich jeweils wegen bestimmter Fragestellungen treffen und gemeinsam Interventionsmöglichkeiten erarbeiten. Würde dieser Ansatz flächendeckend realisiert werden, müßten sich Kindergärtnerinnen wie Julia F. nicht mehr im Stich gelassen fühlen.

In Bezug zur Diskussion über Mißhandlungen von Kindern fällt Nina Ö. eine wesentliche Grundhaltung ein, die jede Kindergärtnerin unbedingt einnehmen sollte. Das wichtigste im Umgang mit Kindern ist, ihrer Meinung nach, eine gute und aufrichtige Beziehung zu jedem Kind aufzubauen. Erst wenn das Kind in seiner individuellen Art ernstgenommen wird, kann es zu seiner Kindergärtnerin Vertauen aufbauen. Das wichtigste Kriterium der Beziehung zwischen Kindergärtnerin und Kind ist ihrer Meinung nach, jedes Kind so wie es ist zu akzeptieren und sich für jedes Kind die Zeit zu nehmen, die es benötigt. Wenn Erzieher ihren Kindern in der Art begegnen, daß sie ihnen gut zuhören und sich für ihre Belange die nötige Zeit nehmen, vertrauen sie ihren Betreuern, die wichtige Bezugspersonen darstellen, alles an.

Wenn es einer Kindergärtnerin gelingt, ein solches emphatisches Verhältnis zum einzelnen Kind aufzubauen, könnte es sogar vorkommen, daß Kinder schwere Mißhandlungen, die ihnen ihre Eltern zufügen, der Kindergärtnerin anvertrauen. Sie erlebte selbst einmal eine problematische Situation, die sie mit Hilfe dieser Grundeinstellung selbst lösen konnte. Gleich zu Beginn ihres zweiten Kindergartenjahres lehnte ein kleines Mädchen sie ab. Wenn sie ihr Fragen stellte, bekam sie Antworten wie "Was geht Dich das an!". Mehrere solche Erlebnisse machten die Kindergärtnerin unsicher. Sie wollte es nun damit versuchen, das Kind einmal liebevoll herzunehmen und es zu fragen, was es bedrücke, daß es immer in der Art reagieren müsse. Sie sprach die Gefühle des Kindes an, fragte wie es ihm gehe. Als sie das Mädchen fragte, warum es denn so traurig sei, entgegnete die Kleine plötzlich ganz verbittert: "Du magst ja alle anderen lieber als mich!". Als die beiden diese Unstimmigkeit geklärt hatten, war das Problem auf der Stelle verschwunden. Das Mädchen war sich der Liebe seiner Kindergärtnerin wieder bewußt und hatte keinen Anlaß mehr, so unwirsch und trotzig zu reagieren.

Diese Aussage von Nina Ö. empfand ich als sehr wertvolle Grundeinstellung für alle Menschen, die in irgendeiner Weise mit Kindern zusammenleben. Ehrliche Akzeptanz und aufrichtiges Ernstnehmen der Kinder in allen Problemlagen ist sicher ein Schlüssel zu vielerlei Problemen. Unbewußt hat diese Kindergärtnerin schon sehr viele Aspekte von systemischem Denken verstanden und verinnerlicht. Mit diesem Denken wird es ihr auch weiterhin gelingen, mit viel Intuition und Einfühlungsvermögen an die verschiedenen Probleme von Kindern heranzutreten und ihnen zu helfen, mit ihrer erschwerten Lebenssituationen wieder zurechtzukommen.

Ebenso wie die Kinder benötigen auch deren Eltern viel Zeit, um Vertrauen zur Kindergärtnerin ihrer Kinder aufbauen zu können, meint Nina Ö. ergänzend. Auch ein Kind erzählt nicht beim ersten Zusammentreffen, was es bedrückt und beschäftigt. Dementsprechend ergeht es den Eltern. Eltern wie Kinder brauchen Zeit und vor allem die Akzeptanz der Kindergärtnerin, um zu ihr das nötige Vertrauen aufbauen zu können.

An dieser Stelle meldet sich Julia F. zu Wort. Auch sie meint, es sei wichtig, ein Vertrauen zu den Eltern aufzubauen, da sie oft große Hemmungen gegenüber der Kindergärtnerin haben. Speziell Eltern von verhaltensauffälligen Kindern haben solche Hemmungen, da sie große Angst davor haben, einen Psychologen für ihr Kind zu benötigen. Julia F. meint, betroffene Eltern denken, ihr Kind sei gestört, krank oder gar dumm, wenn es psychologische Hilfe benötigt

Jetzt ist für mich der richtige Zeitpunkt gekommen, um nach der Meinung der beiden Befragten zur zunehmenden Medizinisierung kindlicher Verhaltensweisen zu fragen. Deshalb lenke ich ein und erkläre, daß ich die Angst der Eltern gut verstehe, da sie ihr Kind davor bewahren wollen, mit einer Störung oder dergleichen behaftet und stigmatisiert zu werden. Kinder, die als hyperaktiv bezeichnet werden, müssen sich oft ein Leben lang mit solchen Stempeln abfinden, und werden von vielerlei Institutionen und Personen von vornherein mit Vorurteilen belastet.

Daraufhin gibt Julia F. zu bedenken, daß ein Kind, das als hyperaktiv bezeichnet wird, gleich als krank gilt. Viele verbinden mit Hyperaktivität eine Störung, die man mit Medikamenten oder Diäten behandeln muß. Die Psychodynamik wird dann völlig außer acht gelassen. Auch Begriffe wie "krank", "verhaltensgestört" und, oft damit verbunden, "unheilbar" empfindet sie als unangenehm. Sie versteht Eltern, die durch solche medizinischen Störungsbegriffe verunsichert werden und befürchten, ihr Kind sei "nicht normal". Daher geht Julia F. mit solchen Begriffen und Zuordnungen vorsichtig um. Sie umschreibt Störungsbegriffe wie Hyperaktivität bei Elterngesprächen lieber mit harmlosen Bezeichnungen. Damit nimmt sie solchen Bezeichnungen den "Wind aus den Segeln".

Julia F. hat das Problem der Medizinisierung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten bereits erkannt. Auch sie will verhindern, daß selbstbewußte und "eigensinnige" Kinder mit Stigmatisierungen behaftet werden, die sie oft ein Leben lang begleiten. Allerdings sieht sie dennoch die Störung im Kind individualisiert. Sie versucht nun Stigmatisierungen zu verhindern, indem sie abwertende Bezeichnungen vermeidet. Dennoch ist sie davon überzeugt, daß das betroffene Kind diese Symptome wie beispielsweise Hyperaktivität zeigt. Julia F. hat schon einen sehr wesentlichen Schritt begriffen. Auch sie will verhindern, daß bei Kindern Störungsbegriffe und Krankheiten diagnostiziert werden. Die wesentliche Erkenntnis, daß Kinder mit ihrer Auffälligkeit eine gestörte Lebenswelt (Elternhaus, Kindergarten, Schule etc.) darstellen, die ihnen große Probleme macht, hat sie jedoch noch nicht gewonnen. Doch gerade die Verhaltensauffälligkeit weist darauf hin, daß ein Kind dringend eine Veränderung in seiner Lebenswelt benötigt, um sich darin wieder wohlfühlen und weiterentwickeln zu können. Wer diesen Sachverhalt einmal verstanden hat ist davon überzeugt, daß kindliche Verhaltensauffälligkeiten niemals mit Psychopharmaka behandelt werden dürfen, sondern vielmehr eine genaue Betrachtung des gesamten Bezugssystems des Kindes Aufschluß über dessen Probleme geben kann.

Als nächstes klärte ich die Befragten über die Situation auf, daß viele Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen heutzutage mit Psychopharmaka, die teilweise erhebliche Nebenwirkungen und ein beträchtliches Suchtpotential aufweisen, behandelt werden. Ich fragte sie, ob sie in ihrem Beruf schon mit Kindern konfrontiert wurden, deren Verhaltens- oder Entwicklungsprobleme mit Psychopharmaka behandelt worden sind. Zuerst verneinten beide sehr bestimmt meine Frage. Dann erinnert sich Julia F. aber doch an einen ähnlichen Fall. Einem Kind, das sie an einen freischaffenden Psychologen und Pädiater weitervermittelte, wurden Medikamente gegen seine Schlafstörungen verschrieben. Sie hatte nie vermutet, daß es sich dabei um Psychopharmaka handeln könnte, und ist völlig entsetzt. Es gibt also doch solche Fälle in Vorarlbergs Kindergärten.

Julia F. betont, daß Psychopharmaka sicher keine Dauerlösung für psychische Probleme bieten können und es besser sei, sich mit der Familiendynamik der betreffenden Kinder auseinanderzusetzen. Damit würde sie viel eher mögliche Ursachen für Verhaltensprobleme von Kindern finden als durch die Verabreichung von Medikamenten.

Nina Ö. entgegnet, daß sie es schon wichtig findet, Kinder mit Entwicklungs- oder Verhaltensauffälligkeiten organisch abzuklären, da manche Verhaltensauffälligkeiten auch wirklich organisch bedingt sein können. In solchen Fällen findet sie es auch richtig, eine Pharmakotherapie durchzuführen.

Über das große Suchtpotential und die paradoxen Wirkungen der psychotropen Stoffe scheint sie nicht aufgeklärt zu sein, da sie doch recht verharmlosend über die Verabreichung von Psychopharmaka spricht. Aber in einem gebe ich ihr recht: Es ist sicher nicht völlig auszuschließen, Kinder mit Psychopharmaka zu behandeln, denn nur der Mißbrauch stellt die eigentliche Gefahr dar. In seltenen Fällen ist sicher die Indikation gegeben, solche Stoffe kurzfristig auch an Kinder zu verabreichen.

Durch den spontanen Verlauf des Interviews rückte noch einmal die Betrachtung des psychosozialen Versorgungsnetzes in den Vordergrund. Die beiden Interviewten gaben sich ursprünglich völlig zufrieden mit dem breitgefächerten Angebot an Anlaufstellen. Nun entdeckte Julia F. doch ein Manko der psychosozialen Versorgung. Für sie als ausgebildete Kindergärtnerin erscheint das Angebot recht übersichtlich und bietet vielerlei Möglichkeiten der Hilfestellung. Daß manche Eltern als Laien damit überfordert sind, aus dem großen Überangebot an Anlaufstellen die richtige für ihr Kind auszuwählen, erscheint ihr nun als großes Problem. Für dieses Problem weiß sie als Kindergärtnerin einen Ausweg, um den Eltern diese schwierige Wahl etwas zu erleichtern. Sie will in Zukunft an einem unauffälligen aber doch nicht übersehbaren Ort eine Anschlagtafel mit Auskünften über Anlaufstellen im Fall von psychischen Problemen der Kinder gestalten. Diese will sie das ganze Jahr über den Eltern zur Verfügung stellen, die sich nötige Informationen unauffällig von diesem Standpunkt einholen können. Damit will sie auch diejenigen Eltern daran erinnern, die kaum einen Kontakt mit der Kindergärtnerin halten, daß Hilfestellungen vom Experten eine mögliche Alternative sind.

Julia F´s Lösung ist eine ausgesprochen gut durchdachte Möglichkeit, das Defizit der psychosozialen Versorgung zu verringern. Die Aufgabe, das Angebot an psychosozialen Anlaufstellen übersichtlicher zu gestalten, ließe sich durch eine Koordination der helfenden Berufe ermöglichen. Mit Hilfe der Realisierung eines interdisziplinären Versorgungsnetzes, welches aus einem gemeinsam organisierten Netzwerk und nicht wie bisher aus nebeneinander und additiv arbeitenden Anlaufstellen besteht, wäre es möglich, ein übersichtliches Angebot zu gestalten, in dem sich auch Laien zurechtfinden können.

Auch Nina Ö. ist der Überzeugung, daß die Eltern der Kindergartenkinder mit dem psychosozialen Dienst überfordert sind. Sie meint, ihnen fehle die Information, wie das psychosoziale Netz aufgebaut ist, welche Bereiche hier hineinfallen und letztendlich welche Anlaufstellen für sie in Frage kommen, wenn sie mit Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder konfrontiert werden. Julia F. meint, daß viele Eltern grundsätzlich eine große Scheu vor dem Gang zum Psychologen haben, da sie diese Intervention damit verbinden, ihr Kind sei "krank" oder "gestört". Es fehlt oft der Anstoß, daß ein Psychologe jemand ist, der Anregungen zur Bewältigung von Problemen gibt, und kein Diagnostiker, der den Kindern nur unnötige Etikette aufzwingt.

Julia F. hat für sich einen ganz neuen, sehr mutigen Weg gefunden, den Eltern die Angst vor dem Psychologen zu nehmen. Sie vertraut Eltern, die vor der Entscheidung stehen, ihrem Kind psychologische Hilfe zuteil werden zu lassen, an, daß sie selbst einen Psychologen konsultiert, den sie als seelischen Abfalleimer verwendet, um ihre Sorgen und Ängste an einem neutralen Ort abladen zu können. Diese Ehrlichkeit macht viele Eltern zutiefst betroffen. Sie schätzen die Aufrichtigkeit der Kindergärtnerin und können sich leichter dazu entschließen, gemeinsam mit ihrem Kind psychologische Hilfe anzunehmen.

Durch dieses Interview konnte ich sehr aufschlußreiche Eindrücke gewinnen, wie Kindergärtnerinnen im konkreten Fall mit verhaltensauffälligen Kindern umgehen und welches Hintergrundwissen ihr Handeln lenkt. Zu Beginn des Interviews erwartete ich die Situation, daß Kindergärtnerinnen doch die Verantwortung für auffälliges Verhalten im Kind selbst individualisieren oder die gesamte Schuld allein den Erziehungsberechtigten des Kindes zuschreiben.

Eigentlich war ich von den Ergebnissen des Interviews sehr positiv überrascht, wie viele Aspekte und Einstellungen von systemischem Denken die beiden Befragten kennen und in ihrer Arbeit mit den Kindern auch einsetzen können. Eine einzige Erwartung von mir hat sich in diesem Interview bestätigt: Kindergärtnerinnen trauen sich selbst zu wenig zu, daß sie als Laien in einer Art Begleitung verhaltensauffälligen Kindern und deren Eltern oft mindestens so gut helfen können wie die im Interview so oft genannten Psychologen und Therapeuten. Gerade sie haben als Kindergärtnerinnen die Möglichkeit, ein Kind oft über mehrere Jahre zu betreuen, und sich einen tiefen Einblick in die verschiedensten Familienstrukturen zu verschaffen. Damit haben gerade sie die besten Voraussetzungen dazu, ein Kind mit seinen jeweiligen Lebenskrisen zu erkennen, und den Eltern bei der Bewältigung von Problemkonstellationen Hilfestellungen durch Anregungen zu geben. Gerade mit der Voraussetzung einer solchen Grundhaltung, wie sie Nina Ö. vermittelte, können die nötigen Anregungen für eine Familie auch von einer Kindergärtnerin, und nicht nur vom professionellen Psychologen oder Therapeuten gegeben werden, da sich gerade sie mit einer natürlichen Art und viel Intuition besonders hilfreich auf die Entwicklung der gesamten Familie auswirken kann.

Zur Kindergärtnerin kann eine Familie auch im Laufe der 2-3 jährigen Betreuung eines Kindes ein starkes Vertrauen aufbauen, das sich positiv auf die Beziehung zwischen Kindergarten und Familie auswirkt. Elterngespräche können dann in einer viel ungezwungeneren, natürlichen und entspannten Situation durchgeführt werden, als beim Therapeuten oder Psychologen. Abschließend möchte ich daher Kindergärtnerinnen wie Julia F. und Nina Ö. Mut zusprechen, mehr in ihre eigenen Kompetenzen Vertrauen zu setzen, damit sie es in der Zukunft wagen können, ihre eigene Chance zu nützen, Familien in Lebenskrisen selbst zu begleiten und nicht an irgendwelche professionellen Institutionen weiterzuleiten. Denn gerade in der Begleitung, und nicht in der Behandlung von Störungen liegen die Ressourcen zur Veränderung. Durch ihre Anregungen inspiriert, kann es einer Familie völlig selbständig gelingen, zu starr gewordene Verhaltens- oder Interaktionsmuster neu zu überdenken und in der Weise zu modifizieren, daß sich alle beteiligten Systemmitglieder wieder wohl fühlen und sich frei entfalten können.

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Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre an Eides statt, daß ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfaßt habe, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und die aus den benutzten Quellen wörtlich und inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Innsbruck, im März 1998

Lebenslauf

NAME:

Katharina Allgeuer

ELTERN:

Dipl.-Ing. Wolfgang Allgeuer, Vorsitzender der Abteilung für Seilbahn- und Aufzugswesen der Vorarlberger Landesregierung

Maria Allgeuer, Hausfrau

GEBURTSDATUM:

12. Dezember 1973

GEBURTSORT:

Bregenz

STAATSANGEHöRIGKEIT:

Österreich

FAMILIENSTAND:

ledig

SCHULBILDUNG:

1980- 1984

Volksschule Augasse, Bregenz

1984- 1988

Bundesgymnasium Gallusstraße, Bregenz

1988- 1993

Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, Feldkirch

BERUFSTäTIGKEIT:

1993- 1994

Tätigkeit als Kindergärtnerin im Kindergarten "Weinschlößle" inBregenz

STUDIUM:

1994- 1998

Pädagogik mit der Fächerbündelkombination "Theoretische Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung" am Institut für Erziehungswissenschaften der Leopold - Franzens - UniversitätInnsbruck

Quelle:

Katharina Allgeuer: Aggressionen im Vorschulalter. Eine kritische Betrachtung der kindlichen Verhaltensauffälligkeit. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistertitels der Philosophie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, eingereicht bei a.o.Univ.-Prof.Dr. Volker Schönwiese, Institut für Erziehungswissenschaften, März 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 27.07.2009

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